ArchivDeutsches Ärzteblatt5/2000Sachverständige Kontrolle: Auch ein medizinisches Problem

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Sachverständige Kontrolle: Auch ein medizinisches Problem

Oehler, Klaus

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LNSLNS Durch die oft undurchschaubare Flut neuer Informationen und wissenschaftlicher Erkenntnisse sind die Entscheidungsverantwortlichen ihren Informanten in weit größerem Ausmaß als früher ausgeliefert.


Gerichtsverfahren gegen Ärzte nehmen zahlenmäßig zu. Die Politik versucht, weitere Möglichkeiten zum Patientenschutz zu schaffen. An den Sorgfaltsmaßstab und Aufklärungsanforderungen werden immer weitreichendere Auflagen gestellt, ohne dass die Politik die Rahmenbedingungen für diese steigenden Ansprüche schafft. Für die Erforschung des für einen bestimmten Zeitpunkt geltenden Behandlungsstandards versichern sich die Gerichte der Hilfe von Experten, die eine übergeordnete Sichtweise über das infrage stehende Gebiet haben und die "Verhältnisse vor Ort" zur fraglichen Zeit aus eigener Anschauung kennen sollten. Diese Experten sind richtungweisende Gestalter maßgeblicher Standards. Richter betonen, dass nicht sie einen medizinischen Standard bestimmen, sondern die Ärzte selbst.
Ein Präsident des Bundesverwaltungsgerichts schätzte, dass möglicherweise 95 Prozent aller Richter den (nicht selten parteiischen) Gutachten von Sachverständigen folgen, "ohne in eine wirklich inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Gutachten einzutreten". Der Laie verstehe bei vielen Gutachten von Experten "eh nichts mehr", sondern nehme staunend - gläubig oder ungläubig - das Ergebnis einfach hin. Daraus wird gefolgert, dass der Richter nicht mehr eigentlicher "Herr des Verfahrens" sei. Es wird vom "Diktat der Sachverständigen" gesprochen. Zwar sollen die Gerichte die Objektivität und Sachkunde eines medizinischen Experten selbst überprüfen, aber nicht nur beim Sachverhalt, sondern auch bei der Fragestellung sind die Auftraggeber von Gutachten überfordert. Für diese Diskrepanz gibt es kein verlässliches Korrektiv in Form einer Qualitätskontrolle für Gutachten. Anders als bei anderen Fachgebieten, bei denen Experten tätig werden und bei denen sogar staatliche Prüfungen für diese Sachverständigentätigkeit absolviert werden müssen, muss ein medizinischer Sachverständiger seine Sachkunde nicht irgendwann einmal nachgewiesen haben. Mit Karrieren oder der Erlangung bestimmter Positionen im Wissenschaftsbetrieb geht oft der Aufstieg zum Gutachter einher. Die Auswahl eines Experten ist somit keine Sachentscheidung, sondern stellt auf dessen Reputation, seine Historie und Glaubwürdigkeit ab. Der wissenschaftliche Werdegang ist zwar in bestimmten Bereichen nachprüfbar, sagt aber nichts über Unabhängigkeit und Unbefangenheit des Sachverständigen aus. Es steht also hierbei Vertrauen über Kontrolle.
Fehlerfreie Gutachten
Weil dem Entscheidungsträger die notwendige Sachkenntnis fehlt, kann er die erforderlichen Einzelheiten nicht abfragen, sodass hinsichtlich der Qualität der Aussage des Experten die Glaubwürdigkeit im Vordergrund steht. Glaubwürdigkeit zielt auf die Person und auf deren Verlässlichkeit ab. Glaubhaftigkeit stellt auf den Sachverhalt und dessen Plausibilität ab.
Unverzichtbare Basis für "richtige" Sachurteile sind fehlerfreie Gutachten. Falsche Urteile werden häufig bei fehlerhaften Gutachten gefällt werden. Dabei können auch aufgrund von fehlerfreien Gutachten getroffene Entscheidungen im Ergebnis falsch sein.
Ein wesentliches Problem für die Auftraggeber besteht darin, fehlerhafte Gutachten von fehlerfreien zu trennen, also sie erst einmal zu erkennen. Aber nicht jedes fehlerhafte Gutachten ist falsch und nicht jedes fehlerfreie Gutachten richtig. Die Einordnung von Gutachten in "falsch/richtig" erscheint unsicher. Ein unvollständiges Gutachten beispielsweise kann beides sein. Wenn der Auftraggeber das angeforderte Gutachten überprüfen soll, müssen Gutachten bewertet werden.
Der Ausweg über eine Zweitbegutachtung (schlechter Oberbegutachtung) führt letztlich zu einer ungewollten Hierarchie. Im medizinischen Bereich könnte es sinnvoll sein, dass alle von einer Ärztekammer empfohlenen Gutachter verpflichtet werden, ihre Expertise unverzüglich nach Abgabe beim Auftraggeber der Kammer zuzuleiten, um sie fachlich von einer Kommission überprüfen zu lassen. Das könnte dazu führen, dass Gutachten sorgfältiger erstellt werden und eine Parteilichkeit zumindest in Fachkreisen aufgedeckt wird. Es wäre nicht erforderlich, dass dabei die gesamte Akte eingesehen wird, da es den Juristen überlassen bleiben kann, ob die richtigen Anknüpfungstatsachen in dem Gutachten zugrunde gelegt wurden. Ein fachlich als inakzeptabel bewertetes Gutachten würde dazu führen, dass ein solcher Experte nicht mehr benannt würde. Überdenkenswert wäre auch, dass medizinische Gutachten nicht einfach mit den Gerichtsakten im Archiv verschwinden. Sie müssten zumindest der Fachöffentlichkeit vorgestellt werden. Denn Sachverständigentätigkeit ist immer auch Qualitätssicherung; sie soll dazu beitragen, künftige Fehler zu vermeiden, auch bei Erstellung von Gutachten. Solange jeder Sachverständige vor sich hin "gutachtern" kann und nicht befürchten muss, dass seine Meinung in der Fachöffentlichkeit diskutiert wird, so lange dürfen Ärzte sich nicht wundern, dass "krasse" Gutachten und darauf fußende Gerichtsurteile die Sorgfaltsanforderungen überspannen.
Dr. med. Dr. med. dent. Klaus Oehler

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