THEMEN DER ZEIT: Berichte
Sachverständige Kontrolle: Auch ein medizinisches Problem


Gerichtsverfahren gegen Ärzte nehmen zahlenmäßig zu. Die Politik versucht, weitere Möglichkeiten zum
Patientenschutz zu schaffen. An den Sorgfaltsmaßstab und Aufklärungsanforderungen werden immer
weitreichendere Auflagen gestellt, ohne dass die Politik die Rahmenbedingungen für diese steigenden Ansprüche
schafft. Für die Erforschung des für einen bestimmten Zeitpunkt geltenden Behandlungsstandards versichern
sich die Gerichte der Hilfe von Experten, die eine übergeordnete Sichtweise über das infrage stehende Gebiet
haben und die "Verhältnisse vor Ort" zur fraglichen Zeit aus eigener Anschauung kennen sollten. Diese Experten
sind richtungweisende Gestalter maßgeblicher Standards. Richter betonen, dass nicht sie einen medizinischen
Standard bestimmen, sondern die Ärzte selbst.
Ein Präsident des Bundesverwaltungsgerichts schätzte, dass möglicherweise 95 Prozent aller Richter den (nicht
selten parteiischen) Gutachten von Sachverständigen folgen, "ohne in eine wirklich inhaltliche
Auseinandersetzung mit dem Gutachten einzutreten". Der Laie verstehe bei vielen Gutachten von Experten "eh
nichts mehr", sondern nehme staunend - gläubig oder ungläubig - das Ergebnis einfach hin. Daraus wird
gefolgert, dass der Richter nicht mehr eigentlicher "Herr des Verfahrens" sei. Es wird vom "Diktat der
Sachverständigen" gesprochen. Zwar sollen die Gerichte die Objektivität und Sachkunde eines medizinischen
Experten selbst überprüfen, aber nicht nur beim Sachverhalt, sondern auch bei der Fragestellung sind die
Auftraggeber von Gutachten überfordert. Für diese Diskrepanz gibt es kein verlässliches Korrektiv in Form einer
Qualitätskontrolle für Gutachten. Anders als bei anderen Fachgebieten, bei denen Experten tätig werden und bei
denen sogar staatliche Prüfungen für diese Sachverständigentätigkeit absolviert werden müssen, muss ein
medizinischer Sachverständiger seine Sachkunde nicht irgendwann einmal nachgewiesen haben. Mit Karrieren
oder der Erlangung bestimmter Positionen im Wissenschaftsbetrieb geht oft der Aufstieg zum Gutachter einher.
Die Auswahl eines Experten ist somit keine Sachentscheidung, sondern stellt auf dessen Reputation, seine
Historie und Glaubwürdigkeit ab. Der wissenschaftliche Werdegang ist zwar in bestimmten Bereichen
nachprüfbar, sagt aber nichts über Unabhängigkeit und Unbefangenheit des Sachverständigen aus. Es steht also
hierbei Vertrauen über Kontrolle.
Fehlerfreie Gutachten
Weil dem Entscheidungsträger die notwendige Sachkenntnis fehlt, kann er die erforderlichen Einzelheiten nicht
abfragen, sodass hinsichtlich der Qualität der Aussage des Experten die Glaubwürdigkeit im Vordergrund steht.
Glaubwürdigkeit zielt auf die Person und auf deren Verlässlichkeit ab. Glaubhaftigkeit stellt auf den Sachverhalt
und dessen Plausibilität ab.
Unverzichtbare Basis für "richtige" Sachurteile sind fehlerfreie Gutachten. Falsche Urteile werden häufig bei
fehlerhaften Gutachten gefällt werden. Dabei können auch aufgrund von fehlerfreien Gutachten getroffene
Entscheidungen im Ergebnis falsch sein.
Ein wesentliches Problem für die Auftraggeber besteht darin, fehlerhafte Gutachten von fehlerfreien zu trennen,
also sie erst einmal zu erkennen. Aber nicht jedes fehlerhafte Gutachten ist falsch und nicht jedes fehlerfreie
Gutachten richtig. Die Einordnung von Gutachten in "falsch/richtig" erscheint unsicher. Ein unvollständiges
Gutachten beispielsweise kann beides sein. Wenn der Auftraggeber das angeforderte Gutachten überprüfen soll,
müssen Gutachten bewertet werden.
Der Ausweg über eine Zweitbegutachtung (schlechter Oberbegutachtung) führt letztlich zu einer ungewollten
Hierarchie. Im medizinischen Bereich könnte es sinnvoll sein, dass alle von einer Ärztekammer empfohlenen
Gutachter verpflichtet werden, ihre Expertise unverzüglich nach Abgabe beim Auftraggeber der Kammer
zuzuleiten, um sie fachlich von einer Kommission überprüfen zu lassen. Das könnte dazu führen, dass Gutachten
sorgfältiger erstellt werden und eine Parteilichkeit zumindest in Fachkreisen aufgedeckt wird. Es wäre nicht
erforderlich, dass dabei die gesamte Akte eingesehen wird, da es den Juristen überlassen bleiben kann, ob die
richtigen Anknüpfungstatsachen in dem Gutachten zugrunde gelegt wurden. Ein fachlich als inakzeptabel
bewertetes Gutachten würde dazu führen, dass ein solcher Experte nicht mehr benannt würde. Überdenkenswert
wäre auch, dass medizinische Gutachten nicht einfach mit den Gerichtsakten im Archiv verschwinden. Sie
müssten zumindest der Fachöffentlichkeit vorgestellt werden. Denn Sachverständigentätigkeit ist immer auch
Qualitätssicherung; sie soll dazu beitragen, künftige Fehler zu vermeiden, auch bei Erstellung von Gutachten.
Solange jeder Sachverständige vor sich hin "gutachtern" kann und nicht befürchten muss, dass seine Meinung in
der Fachöffentlichkeit diskutiert wird, so lange dürfen Ärzte sich nicht wundern, dass "krasse" Gutachten und
darauf fußende Gerichtsurteile die Sorgfaltsanforderungen überspannen.
Dr. med. Dr. med. dent. Klaus Oehler