THEMEN DER ZEIT
Geflüchtete Menschen in Deutschland: Ankerzentren machen krank
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Ärzte der Welt hat ihre psychiatrische Sprechstunde für Asylsuchende im Ankerzentrum Manching/Ingolstadt eingestellt. Unter den Bedingungen dort konnte die Hilfsorganisation die Verantwortung für die zum Teil schwer psychisch kranken Menschen nicht mehr übernehmen.
Mit dem „Masterplan Migration“ kündigte die Bundesregierung im Juli 2018 an, sogenannte Ankerzentren (AnkER steht für Ankunft, Entscheidung und Rückführung) einzurichten. Durch die Zentralisierung von Behörden sollten Asylverfahren schneller abgewickelt, die Integration von Menschen ohne Bleibeperspektive verhindert und die Ausreise derjenigen, deren Asylanträge abschlägig entschieden wurden, beschleunigt werden. Aktuell existieren sieben solcher Einrichtungen mit jeweils bis zu 1 000 Geflüchteten in Bayern und jeweils eine weitere im Saarland und in Sachsen.
Von zivilgesellschaftlichen Organisationen und der Fachwelt wurden erhebliche Menschenrechtsbedenken gegen diese Form der kasernierten Unterbringung von Geflüchteten geäußert. Trotzdem entschied sich Ärzte der Welt aus humanitären Gründen für einen Einsatz im Ankerzentrum Manching/Ingolstadt. Ab Januar 2019 bot die Organisation dort in Kooperation mit dem Psychosozialen Zentrum REFUGIO München niedrigschwellige psychologische sowie psychiatrische Beratung und Behandlung, insbesondere für traumatisierte Geflüchtete, an.
Kein Schutz vor Übergriffen
Im Oktober 2019 stellten beide Organisationen ihre Tätigkeit ein. Sie hatten mehrfach erfolglos versucht, die Politik zur Verbesserung der unerträglichen Lebensverhältnisse für die untergebrachten Flüchtlinge zu bewegen. Hinzu kam, dass die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Einrichtung unzumutbar waren und sich nicht verändern ließen. Unter den vorherrschenden Bedingungen konnte das Team von Ärzte der Welt die Verantwortung für die zum Teil schwer psychisch kranken und dringend behandlungsbedürftigen Patientinnen und Patienten nicht länger tragen.
Die Bedingungen im Ankerzentrum Manching/Ingolstadt widersprechen in vielfältiger Hinsicht den völkerrechtlich verbrieften und nationalen, humanitären Verpflichtungen wie sie insbesondere bei Flüchtlingen einzuhalten sind. Vor allem der fehlende Schutz vor Übergriffen und die mangelnde Privatsphäre wirken sich negativ auf die psychische Gesundheit der Geflüchteten aus. Als sie zum ersten Mal die Sprechstunde aufsuchten, waren viele Geflüchtete bereits länger als ein Jahr in der Einrichtung untergebracht. Viele von ihnen beschrieben konkret die ihre Gesundheit negativ belastenden Auswirkungen der restriktiven Umgebung.
Die Unterbringung erfolgte dort in nicht abschließbaren Mehrbettzimmern. Auch die Duschen und Toiletten konnten zur Zeit des Einsatzes von Ärzte der Welt nicht abgeschlossen werden. Inzwischen wurde zumindest erreicht, dass alleinstehende Frauen Schlüssel beantragen können. Ansonsten gibt es keinerlei Rückzugsorte. Nachts kommt es oft zu Ruhestörungen, selbst Kinder werden Zeugen körperlicher Auseinandersetzungen, unter anderem bei Abschiebungen. Die Bewohner sind in ihrer Selbstbestimmung stark eingeschränkt: Sie haben keine Möglichkeiten, sich Mahlzeiten selbst zuzubereiten, es herrscht das sogenannte Sachleistungsprinzip in Form von Massenverpflegung. Besuch ist untersagt. Die Asylsuchenden bekommen nur ein geringes Taschengeld zur freien Verfügung. Von Angeboten gesellschaftlicher Teilhabe sind sie ausgeschlossen. Ein Großteil der Kinder besucht keine reguläre Schule. Erwachsene dürfen in der Regel nicht arbeiten, jüngere Flüchtlinge dürfen weder Ausbildung noch Studium aufnehmen. Diese Kasernierung mit der erzwungenen Untätigkeit trägt zu Perspektivlosigkeit, Isolationsgefühlen, depressiven Reaktionen und aggressiven Spannungen zwischen den Bewohnern bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen bei. Das kaum angeleitete Personal eines privaten Wachdienstes erhöht das Sicherheitsgefühl vieler Menschen nicht.
Nur rudimentäre Sozialberatung
Besonders vulnerable und schutzbedürftige Personen zu erreichen, ist äußerst schwierig, da außer der völlig unzureichenden, nur rudimentär vorhandenen Sozialberatung niemand die Verantwortung trägt, sich um sie zu kümmern. Es bleibt den Betroffenen selbst überlassen, wenn sie die Fähigkeit und den Mut dazu aufbringen, sich mit ihren Sorgen und Nöten zu melden. Eine Art Früherkennung besonders vulnerabler Menschen durch entsprechende Angebote existiert nicht, obwohl seit Langem bekannt ist, dass ein hoher Prozentsatz der Flüchtlinge unter behandlungsbedürftigen Störungen leidet. Viele von ihnen sind krankheitsbedingt nicht in der Lage, die notwendigen Hilfen einzufordern. Selbst wenn Ärzte der Welt spezifische Bedarfe der Weiterversorgung feststellte, konnten die notwendigen Maßnahmen oft nicht oder zumindest nicht zeitnah genug eingeleitet werden. Unterschiedlichste Barrieren, wie mangelnde Kapazitäten beim Sozialdienst und der Hausverwaltung, intransparente und bürokratische Anforderungen oder fehlende Sprachmittlung, verhinderten dies. Unter diesen Umständen bestand ein hohes Risiko, dass es zu stationären Kriseninterventionen kommt.
Viele der 41 von Ärzte der Welt in den zehn Monaten betreuten Patienten wiesen komplexe Belastungs- und Anpassungsstörungen auf, häufig standen Posttraumatische Belastungsstörungen oder Depressionen, aber auch Psychosen und wahnhafte Erkrankungen im Mittelpunkt. Die Mehrzahl musste medikamentös behandelt werden.
Die Beobachtungen von Ärzte der Welt über die negativen gesundheitlichen Folgen der Lebensbedingungen im Ankerzentrum Manching/Ingolstadt stimmen mit den Erfahrungen zahlreicher Experten, die sich mit den Auswirkungen mittel- und langfristig in Sammelunterkünften untergebrachter Flüchtlinge befasst haben, überein. Hier sind zum Beispiel der European Council for Refugees and Exiles (ECRE) und der wissenschaftliche Dienst der AOK zu nennen.
Deutschland hat sich in verschiedenen internationalen Abkommen verpflichtet, geflüchtete Menschen zu unterstützen, gesunde Lebensbedingungen sicherzustellen und den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Nach Art. 21 und 22 der EU-Aufnahmerichtlinie sind Mitgliedstaaten verpflichtet, vulnerablen Personengruppen die Unterstützung zu gewähren, die ihren speziellen Bedürfnissen Rechnung trägt. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat 2016 in Zusammenarbeit mit UNICEF sogenannte „Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ entwickelt, die unter anderem abschließbare Wohneinheiten, kinderfreundliche Orte, Beratungsangebote mit Sprachmittlung und Sensibilisierung des Personals in Bezug auf traumatisierte und psychisch kranke Geflüchtete vorsehen.
Auf Abschreckung ausgerichtet
Diese Verpflichtungen müssen erfüllt werden und das Anker-Experiment sollte zugunsten einer dezentralen, integrationsfördernden Unterbringung von Asylsuchenden beendet werden. Basierend auf den Erfahrungen in Manching/Ingolstadt hat Ärzte der Welt einen umfangreichen Maßnahmenkatalog erarbeitet, um gesundheitssichernde Lebensbedingungen in Erstaufnahmeunterkünften zu schaffen. Dringend nötig sind unter anderem auf klaren Leitlinien aufbauende Schulungen für das Personal, damit Menschen mit speziellen psychosozialen und medizinischen Bedarfen rechtzeitig eine adäquate Versorgung erhalten. Ebenso unverzichtbar sind der freie Zugang zur psychiatrischen und psychotherapeutischen Regelversorgung in enger Vernetzung mit Sozialdiensten und Regierungsstellen sowie die ausreichende Bereitstellung von Sprachmittlerinnen und Sprachmittlern.
Das System der Ankerzentren ist auf Abschreckung und Abschiebung ausgerichtet. Das Menschenrecht auf Gesundheit wird hier zugunsten einer restriktiven Migrationspolitik missachtet.
Prof. Dr. med. Heinz-Jochen Zenker,
Stephanie Kirchner, Ärzte der Welt e.V.
Fallbeispiele von Geflüchteten
Eine Frau, die auf ihrer Flucht in einem Gefängnis in Libyen interniert war, hatte bereits vor ihrer Ankunft in Deutschland massiven Missbrauch und Gewalt erleiden müssen. Ihre Posttraumatische Belastungsstörung verschlechterte sich unter den Lebensbedingungen des Ankerzentrums, die soziale Isolation, die latent vorhandene Gewalt, der Lärm, die Anwesenheit uniformierter Personen und die fehlenden Rückzugsmöglichkeiten kamen einer Retraumatisierung gleich.
Ein junger Mann, der zu Beginn der Behandlung bereits mehr als zwölf Monate in der Unterkunft gelebt hatte, litt unter massiven Schlafstörungen und akustischen Halluzinationen. Besonders der Aufenthalt im Speiseraum war für ihn unerträglich, sodass er regelmäßig auf das Essen verzichtete. Es vergingen weitere sechs Monate, bis er ausziehen konnte.