

Mit seinem neusten Buch trifft Joachim Bauer den Nerv der Zeit. Da wo sich personale Identität durch Auflösung haltgebender traditioneller Milieus labilisiert und im virtuellen Raum sozialer Netzwerke mehr oszilliert als ist, wächst die Sehnsucht nach einem festen Kern der Person, der Navigation ermöglicht und Richtung vorgibt. Der Leser wird nicht enttäuscht. Er erfährt zunächst, dass es einen solchen Kern – das Selbst – gibt, ein „Lebewesen im Lebewesen“. Das ist schon mal beruhigend. Die von uns allen gespürte Innenperson ist also nicht nur ein subjektives Gefühl oder eine lediglich romantische psychologische Idee, sondern kann, wissenschaftlich betrachtet, verortet und vermessen werden.
Auch die Adresse steht: der präfrontale Cortext, direkt über den Augen im Frontalhirn. Allerdings wird der Bewohner dieses Ortes erst allmählich sichtbar. Die Räume der sog. Selbstnetzwerke sind nach Bauer anfangs leer, sie füllen sich allmählich, vor allem in den ersten Jahren, durch die Ansagen signifikanter Bezugspersonen. Die beschreiben den Bewohner – sein Selbst –, und ihre Zuschreibungen finden sich später im Kernspin als Selbstbild wieder, wenn Personen unter Magnetresonanz gefragt werden, was sie glauben, wer sie sind. Das Selbst wächst heran, Hauptnahrungsmittel ist die Resonanz wichtiger anderer. Am Beginn seiner Entstehung noch Empfänger, wird es mehr und mehr zum Akteur, animiert vom Nachbarn im Gehirn, dem Belohnungs- und Motivationssystem, und nimmt Einfluss auf die nachgeschalteten neuronalen Systeme, die durch Orchestrierung des Nerven -, Hormon- und Immunsystems die körperlichen Grundfunktionen bedienen.
Es gelingt dem Autor vorzüglich, den Menschen in den Maschinenraum der Person, ins „Herz des Selbst“, zu führen. Auf dem Weg dorthin stehen immer wieder Landmarken, die studienbelegt die Evidenz der Innenausstattung des Selbst belegen und unsere Vorstellung dieser hochbedeutsamen Instanz objektivieren. Fehlt beispielsweise frühe spiegelnde Resonanz gänzlich, kann das Selbst „verhungern“, leer bleiben, wobei seine Rezeptoren ständig auf der Suche nach positiver Resonanz sind und nach Menschen, die es sich zu stabilisierenden Introjekten machen will. Bildhaft deutlich wird dabei der vom Autor ins Spiel gebrachte Begriff der „Kaperung des Selbst“ (Stockholm Syndrom, Loverboys). Durch rohe Gewalt wie feinsinnige Beziehungsanimation kann ein Täter in das Selbst des Opfers eindringen und seine toxische Last dort ablagern. Allerdings ist das Selbst nicht völlig schutzlos. Es baut sich zum Erhalt und Schutz Verteidigungslinien auf und bedient sich dabei der bekannten Abwehrmechanismen, um emotionale Distanz zu möglichen Gefährdern zu regulieren.
In eigenen Kapiteln widmet sich der Autor der Rolle des „inspirierenden Begleiters“ (Pädagogik); gleiches gilt auch für gelingende Psychotherapie. Nur so viel: wenn die therapeutische Beziehung zu einem „klingenden Raum von Resonanz“ wird, können die Selbstnetzwerke des Patienten aktiviert werden und das anerkannt stärkste Schwungrad, die Selbstwirksamkeit, in Bewegung bringen.
Joachim Bauers Buch ist ein Muss für jeden Psychotherapeuten, aber auch so ausdrucksstark und bildhaft geschrieben, das es für jeden interessierten Laien einen Gewinn verspricht. Es reiht sich ein in seine bisherigen Schriften, die der Psychologie ein neurobiologisches Fundament geben. Elmar Reuter
Joachim Bauer: Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. Blessing Verlag, München 2019, 254 Seiten, gebunden 22,00 Euro