BÜCHER
Bildung und Lernen: Wichtige Erkenntnisse aus der Hirnforschung


Unzweifelhaft leistet die Schule einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung der Persönlichkeit – es herrscht aber verbreitete Ratlosigkeit, wie dies geschehen sollte. Die Art, wie jemand lehrt und lernt, wird bestimmt durch seine Persönlichkeit. Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen, stellt die Erkenntnisse der Hirnforschung in einem verständlichen und aktuellen Überblick dar: die entwicklungsabhängige Verankerung der Persönlichkeit im Gehirn, die psychologischen Verfahren der Intelligenz- und Persönlichkeitsdiagnostik, die grundlegenden neurobiologischen Abläufe bei Emotionen, extrinsischer und intrinsischer Motivation, Stress, Impulsivität, Bindung und Empathie, Realitätsbeurteilung und Risikowahrnehmung, Lernen und Gedächtnisstruktur, Erinnern und Vergessen, Aufmerksamkeit, Konzentration und Bewusstsein, Intelligenz und Begabung, Lernbeeinträchtigungen und Behinderungen, Kommunikation und Vertrauen, Ehrgeiz, Ausdauer und Fleiß, Lesen und Verstehen.
Auch gegenwärtige allgemeine und fachdidaktische Konzepte, programmiertes Lernen, kybernetische und lernzielorientierte sowie konstruktivistische Didaktik, neurodidaktisch-neuropädagogische Konzepte einschließlich des „selbstregulierten Lernens“ werden kritisch referiert, ebenso Ratgeber für „hirngerechtes“ Lehren und Lernen. Herausgehoben wird die „Mega-Studie“ von Hattie und Mitarbeitern, in der 50 000 Übersichtsstudien der weltweiten Lernforschung zusammengefasst ausgewertet wurden – bezogen auf Unterrichtsmethodik, Klassengröße, Lehrpersonen, Unterrichtsstrukturen sowie gegenseitige Rückmeldungen zwischen Lehrern und Schülern.
Die Einbeziehung der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse in die schulische Praxis bleibt mangelhaft. Der akademische Lehrbetrieb in Pädagogik und Didaktik vermittelt vorrangig Prinzipielles und Konzeptuelles, weniger die Unterrichtspraxis. Die Bildungspolitik bleibt Ländersache und damit parteipolitisch ausgerichtet, häufig auf fortschrittlich klingende Absichtserklärungen beschränkt. Die Schulbehörden sind mit Verwaltungs- und Finanzproblemen belastet. Lehrer erarbeiten sich ihre Unterrichtskonzepte individuell, ohne Kooperation oder gar Supervision. Dabei könnte die Unterrichtspraxis durch Einbeziehung und anwendungsbezogener kritisch-konstruktiver Reflexion neurowissenschaftlicher Einsichten deutlich optimiert werden. Roth und seine Mitarbeiter haben dafür in Zusammenarbeit mit Schulen in verschiedenen Bundesländern Modellprojekte mit einem ganztätigen, fächerübergreifenden und durch „Methoden-Mix“ gekennzeichneten Unterricht entwickelt, der Orientierung bieten sollte und gesondert publiziert wird.
Wer daran interessiert ist, dass Lernen – auch eigenes – gelingt, der sollte dieses Buch lesen. Wolfram Kinze
Gerhard Roth: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Klett-Cotta, Stuttgart 2019, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, 414 Seiten, kartoniert, 12,95 Euro