ArchivDeutsches Ärzteblatt7/2020Gesundheitsreformen und Debattenkultur: Über die Schmerzgrenze

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Gesundheitsreformen und Debattenkultur: Über die Schmerzgrenze

Maibach-Nagel, Egbert

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Egbert Maibach-Nagel, Chefredakteur
Egbert Maibach-Nagel, Chefredakteur

Die Debattenkultur zu den Reformen im Deutschen Gesundheitswesen hat viele Zweifler. Außer Reden nichts gewesen? Nötige Änderungen erfolgten zu langsam, heißt es, klare Lösungen würden durch Kompromisse immer wieder erfolgsgeschmälert.

Beispiel Organspende: Bundesgesundheitsminister Jens Spahns (CDU) Angang zur Einführung einer Widerspruchslösung hat zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte und offenem Diskurs im Deutschen Bundestag geführt. Anlass war das bei Weitem zu geringe Spenderaufkommen, das Hunderten von Menschen auf der Warteliste ihr Leben kostet. Die Widerspruchslösung wird in etlichen Nachbarstaaten mit Erfolg gehandhabt und wartet mit deutlich besseren Spenderzahlen auf. Sie ist im Bundestag nicht durchgekommen.

Trotzdem: Die Bestellung von Organspendeausweisen hat sich laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) im Januar gegenüber den durchschnittlichen Monatsabfragen zuvor auf 740 000 Stück mehr als verdoppelt. Ein Erfolg gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Thema? Ob die Debatte das Thema nachhaltig bewusst machen konnte, werden die künftigen Zahlen zeigen. Es bedarf sicherlich konstanter werblicher Aktivitäten, um die sogenannte erweiterte Entscheidungslösung zum Erfolg zu führen. Aber die Debatte hat nicht nur gesellschaftlichen Unmut thematisiert, sondern auch Bewegung geschaffen.

Oder die Baustelle Notfallreform: Die Stellungnahmen zum Gesetzentwurf des Bundesgesundheitsministers von Mitte Dezember weisen Lob und Handlungsbereitschaft von denen aus, die wie die Kassenärztlichen Vereinigungen künftig zentral in die Organisation der integrierten Notfallzentren eingebunden werden. Die erweiterten Landesausschüsse, in denen Ärzte, Kassen und Krankenhäuser vertreten sind, sollen den Einfluss aller Betroffenen sichern.

Die Bundesärztekammer hingegen befürchtet durch die zentralen Vorgaben, die der Gesetzentwurf beim Gemeinsamen Bundesausschuss angesiedelt sieht, mangelnden Handlungsspielraum in der Gestaltung vor Ort. Das Gesetz solle eher nur Rahmenbedingungen vorgeben.

In der Tat: Die ausführliche Befassung mit dem drängenden Problem überbordender Notfallaufnahmen in den Krankenhäusern hat dort, wo nicht nur auf den Gesetzgeber gewartet wurde, praktikable Verbesserungen gebracht. Ob „116117“ als zusätzliche erste Anlaufstelle oder Kooperationen aller Beteiligten in den Regionen, Entlastung erfolgte mithilfe regional angepasster Lösungen spürbar.

Weiteres Beispiel: Pflegenotstand und Ärztemangel brauchen die intensive gesellschaftliche Debatte, wenn es sein muss, auch bis über die Schmerzgrenze. Die Proteste der Betroffenen haben in den letzten Wochen auch gezeigt, wie es um die Situation im stationären Bereich bestellt ist. Für ambulante Pflege und die Versorgung im niedergelassenen ärztlichen Sektor dürfte Ähnliches gelten. Die öffentliche Auseinandersetzung macht die Sachlage bewusst. Das erzeugt Betroffenheit in der Politik und schafft Handlungsdruck.

Auch wenn es immer wieder auf Kritik stößt: Das „zu spät“, „zu viel/zu wenig“, „zu unprofessionell“, das jeglichen Vorschlägen zur Problembeseitigung im Gesundheitswesen folgt, ist vielleicht sachlich berechtigt, betoniert auch den Stillstand und damit die Notlage. Handeln kann hier hilfreich sein.

Egbert Maibach-Nagel
Chefredakteur

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