ArchivDeutsches Ärzteblatt8/2020Bertelsmann-Studie: Theoretisches Radikalszenario

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Bertelsmann-Studie: Theoretisches Radikalszenario

Schmedt, Michael

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Michael Schmedt, Stellv. Chefredakteur
Michael Schmedt, Stellv. Chefredakteur

Mit Gutachten kommt man im politischen Geschäft auch mal zu spät. Offensichtlich wird dies erst recht, wenn kurz zuvor eine Analyse zu einem gegenteiligen Ergebnis kommt. Das heißt nicht zwangsläufig, dass man falsch liegt. Im Falle der Bertelsmann Stiftung muss man sich allerdings fragen, ob es ihr mit der Veröffentlichung zu einem „Geteilten Krankenversicherungsmarkt“ mehr um die neutrale Analyse oder um die politische Agitation ging.

Blicken wir zunächst zwei Wochen zurück: Ende Januar veröffentlichte die wissenschaftliche Kommission für ein modernes Vergütungssystem (KOMV) ihr lang erwartetes Gutachten, das vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegeben wurde. Die 13 Kommissionsmitglieder raten dabei einstimmig von einer zentralen Forderung der SPD, der Bürgerversicherung, ab. Eine rigorose Einführung einer einheitlichen Gebührenordnung hätte große finanzielle Lücken inklusive beträchtlicher finanzieller Verschiebungen zur Folge, die nur durch Beitragserhöhungen oder höhere Zuschüsse aus Steuermitteln zu bewältigen seien. Daher plädieren die Gutachter für eine teilweise Harmonisierung von Einheitlichem Bewertungsmaßstab (EBM) und Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ), während die Preise weiter getrennt für die private Krankenversicherung (PKV) und die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) verhandelt werden sollen.

Anfang dieser Woche kam die Bertelsmann Stiftung zu einem ganz anderen Schluss als die KOMV: das duale System von PKV und GKV koste jedes Mitglied der GKV bis zu 145 Euro im Jahr. Würde man alle PKV-Mitglieder in die GKV integrieren, könnten die Beiträge spürbar sinken. Zudem würde der soziale Zusammenhalt gestärkt. Also doch nur Gewinner bei einer Einheitsversicherung? Ganz so einfach und positiv, wie es die Pressemitteilung der Bertelsmann Stiftung suggeriert, ist es dann doch nicht. Schaut man in die Studie hinein, weist die Stiftung sogar darauf hin, dass es sich bei der Analyse um eine rein „rechnerische Schätzung von Finanzierungseffekten für den hypothetischen Fall (handelt), dass alle gegenwärtig in der PKV vollversicherten Personen in der GKV versichert wären. Damit handelt es sich ausdrücklich nicht um ein realistisches, ‚umsetzungsnahes‘ Szenario (…)“.

In der Pressemitteilung ist davon nichts zu finden. Genauso wie von der Entwicklung, die in vielen europäischen Ländern mit einer Einheitsversicherung einhergeht: Es bildet sich schnell ein Sekundärmarkt, auf dem sich Patienten auf eigene Rechnung, zum Beispiel einen schnelleren Zugang zum Gesundheitssystem, kaufen können. Die KOMV nennt Italien als Beispiel, wo durch relativ lange Wartezeiten und hohe Zuzahlungen schnell viele Alternativangebote entstanden sind. Die Terminwartezeiten betragen der KOMV zufolge dort durchschnittlich 38 Tage, in privaten Selbstzahler-Zentren dagegen nur fünf bis sechs Tage. Die vermeintlichen Vorteile einer Einheitsversicherung werden so durch den Sekundärmarkt konterkariert.

Das Gutachten der Honorarkommission ist schlicht realistischer. Es sind Vorschläge, die diskutiert und angegangen werden können, um das Gesundheitswesen zu verbessern. Das gilt für die Zahlenspiele der Bertelsmann Stiftung sicher nicht. Die Stärkung des sozialen Zusammenhalts, die die Stiftung verspricht, erreicht sie mit der Veröffentlichung ihres theoretischen Radikalszenarios nicht – eher das Gegenteil.

Michael Schmedt
Stellv. Chefredakteur

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