ArchivDeutsches Ärzteblatt PP3/2020Interview mit Prof. Dr. phil. habil. Silke B. Gahleitner, Alice Salomon Hochschule, Berlin: „Wir müssen mehr über soziale Beziehungen sprechen“

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Interview mit Prof. Dr. phil. habil. Silke B. Gahleitner, Alice Salomon Hochschule, Berlin: „Wir müssen mehr über soziale Beziehungen sprechen“

Britten, Uwe

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Außertherapeutische Wirkfaktoren sind schwer zu erkennen und zu fassen. Nicht immer ist eine positive Veränderung auf das Therapiegeschehen zurückzuführen. Ein Argument für therapeutische Bescheidenheit oder für eine Veränderung des Blickwinkels?

Es wird geschätzt, dass rund ein Drittel der positiven Veränderungen während einer Psychotherapie gar nicht unmittelbar auf das therapeutische Geschehen zurückzuführen ist – nehmen sich Psychotherapeuten um ein Drittel zu wichtig?

Silke B. Gahleitner ist Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule in Berlin und unter anderem Autorin des Buches „Professionelle Beziehungsgestaltung in der psychosozialen Arbeit und Beratung“. Foto: privat
Silke B. Gahleitner ist Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule in Berlin und unter anderem Autorin des Buches „Professionelle Beziehungsgestaltung in der psychosozialen Arbeit und Beratung“. Foto: privat

Silke B. Gahleitner: Das ist eine interessante Frage. In der Prozessforschung hat man einmal in einer Studie sowohl Therapeuten als auch Klienten danach gefragt, wie sie den therapeutischen Prozess einschätzen und ob und wie erfolgreich die Therapie wohl sein wird. Es zeigte sich, dass die Klientinnen und Klienten die Wirkung und die Ergebnisse viel genauer einschätzten als die Therapeuten. Den Einfluss der Therapie beurteilten dabei die Therapeuten höher als die Klienten. Das ist natürlich nicht gerade ein schmeichelhaftes Ergebnis für unseren Berufsstand.

Asay und Lambert haben bereits vor längerer Zeit nach der Sichtung zahlreicher Forschungsarbeiten betont, dass ein Anteil von rund 40 Prozent der Wirkung während einer Psychotherapie gar nicht auf die Therapie selbst zurückzuführen sei. Ich glaube aber nicht, dass wir uns zu wichtig nehmen. Allerdings sollten wir unsere Arbeit viel stärker kontextuell ausrichten. Ich habe selbst eine Studie im Bereich der Opferhilfe gemacht, in der sich zeigte, dass gerade schwer traumatisierte Personen besser von sozialtherapeutischer und lebenskontextbezogener Unterstützung profitierten als von einer Kurzzeitpsychotherapie. Psychotherapie in ihrer heutigen Form ist für bestimmte Patienten einfach zu hochschwellig.

Kann man denn immer eindeutig sagen, ob gewisse Veränderungen mit dem Therapiegeschehen zu tun haben?

Gahleitner: Nein, das ist nicht immer möglich. Die therapeutischen Einflüsse können sehr subtil und wissenschaftlich-empirisch – nach den momentan geltenden Kriterien – nicht nachweisbar sein. Empirisch nachweisbar aber ist auf jeden Fall, dass wir in der Psychotherapie zu wenig auf die sozialen Netzwerke der Klienten eingehen. Wir müssen jene Personen im Umfeld sehen, die das Leben der Klienten positiv beeinflussen.

Würden wir die Arbeit mit Personen aus der sozialen Umgebung als eine unserer Kernaufgaben betrachten, wäre unser Angebot wirkungsvoller. Wir müssten uns also von dem Slogan verabschieden, soziale Interventionen gehörten nicht zur Psychotherapie. Man muss deshalb nicht immer Gruppen- oder Familientherapie betreiben, manchmal hilft schon eine Aufstellung im Therapiegespräch oder andere, zum Beispiel psychodramatische Methoden. Wir müssen mehr über wichtige soziale Beziehungen sprechen. Psychotherapie hatte auch mal einen sozialtherapeutischen, einen gemeindepsychologischen – und sogar politischen – Anspruch, dahin müssten wir wieder stärker zurückkommen, finde ich.

Heißt das auch, häufiger mal außerhalb des Therapiezimmers zu arbeiten?

Gahleitner: Das ist nur eine Variante. Aus der Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen wissen wir, wie hilfreich es therapeutisch ist, sich mit diesen Menschen hinauszubewegen und ihnen flexible Möglichkeiten zu bieten, um einen Kontakt und eine helfende Beziehung aufzubauen. Man darf das Thema aber nicht auf eine rein räumliche Komponente verengen. Die Frage ist mehr, wie stark wir im therapeutischen Gespräch den sozialen Kontext überhaupt mitdenken. Wie begreife ich denn meine Klienten? Es sind durch Interaktionen geprägte und gereifte Menschen. Aus diesen Kontexten heraus muss ich sie auch verstehen.

Ein weiterer Schritt kann sein, Angehörige wie Eltern oder Partner oder auch Kinder mit ins Therapiegespräch einzuladen. Verhaltensauffälligkeiten, die wir oft individualisieren, entstehen in einem sozialen Kontext und haben in diesem Zusammenhang möglicherweise Funktionen. Entsprechend können wir positive Veränderungen auch nur in diesem mitgedachten Kontext entwickeln. Eine höhere Settingflexibilität täte uns schon gut, meine ich, aber dabei denke ich mehr an das, was man unter „aufsuchende Angebote“ fasst.

Für solche erweiterten Angebote ist dann aber auch eine gute und vertrauensvolle Beziehungsgestaltung nötig.

Gahleitner: Wer kontextgebunden arbeitet, muss sich auch auf das relationale Credo – wie es in der personzentrierten Therapie am eindeutigsten und längsten gepflegt wird – beziehen, also beziehungs- und sozialraumorientiert arbeiten. Ich kann gar nicht kontextorientiert arbeiten, wenn ich nicht die Bindungen und Beziehungen mitdenke und die Gewordenheit (auch Krank-Gewordenheit) des Klienten in sozialen, interaktionellen Beziehungen. In jüngerer Zeit beschäftigen sich genau damit viele Forschungen und fördern wichtige Erkenntnisse zutage, obwohl wir in der Psychotherapieforschung insgesamt noch viel zu wenig von dieser prozessorientierten und qualitativen Forschung haben – und leider auch nur wenig fördern. Wäre die Forschungslage anders, wüssten wir auch schon mehr darüber. Da ist noch viel zu tun, nicht zuletzt um die Bindungsforschung besser und konsequenter für die Therapie zu nutzen.

Helfen da auch die systemischen Betrachtungen weiter? Müsste man die stärker einbeziehen?

Gahleitner: Ich glaube, dass diese Erkenntnisse bereits in der Arbeit vieler Therapeutinnen und Therapeuten Einzug gehalten haben. Ich selbst fühle mich hier am stärksten den humanistischen Prinzipien verpflichtet, in dem sich insgesamt dem Gegenüber dialogisch und kontextuell angenähert wird. Aber letztlich haben das doch längst alle Therapierichtungen aufgenommen. Auch die Psychoanalyse ist „relational“ geworden, die Verhaltenstherapie arbeitet viel stärker beziehungsorientiert als früher. Der systemische Ansatz hat allerdings den wichtigen Punkt eingebracht, dass wir uns permanent in „Konstellationen“ befinden mit jeweils eigenen Dynamiken und dass wir diese sehen müssen, um positive Veränderungen anstoßen zu können. So können die Klienten dann auch in der Psychotherapie an Begegnung wachsen, sie können „werden“ und sich verändern.

Könnte das alles besser institutionalisiert werden? Müsste es eine gezielte strukturelle Verschaltung von sozialer Arbeit und Psychotherapie geben?

Gahleitner: Für mich ist soziale Arbeit eine sozialtherapeutische Profession. In Österreich beispielsweise haben folgerichtig alle sozialen Professionen Zugang zur psychotherapeutischen Ausbildung. Inter- und Multiprofessionalität halte ich auf jeden Fall für den besseren Weg. In Deutschland kennen – oder aktuell muss man ja angesichts der neuen Gesetzeslage schon fast sagen: kannten – wir diese Möglichkeiten, breitere therapeutische Leistungen anbieten zu können, zumindest schon mal für Jugendliche und junge Erwachsene. Es gibt längst mehr als genug Belege dafür, dass Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten massiv vom sozialen Kontext der Menschen abhängen, dann müssten wir auch viel intensiver in diese Kontexte hineinarbeiten. Um gesellschaftliche Ungleichheiten auszugleichen helfen, sollten wir multiprofessionelle Leistungen anbieten, aber auch die Psychotherapie selbst darauf ausrichten.

Wenn sich helfende Berufe sehr weit in die sozialen Bezüge der Klienten hineinbegeben, droht aber schnell die Gefahr der „fürsorglichen Belagerung“.

Gahleitner: Mit dieser Gratwanderung müssen wir uns immer beschäftigen. Wir müssen immer eine Balance finden von Nähe und Distanz oder auch von Fördern und Fordern. Das sind die Spannungsfelder unserer Arbeit. Die müssen wir stetig reflektieren. Das hat noch gar nichts mit verstärkter Beziehungsarbeit oder Bindungsorientierung zu tun. Wir bewegen uns immer zwischen den Polen Alleinlassen und Belagerung. Die Pädagogik spricht hier von sogenannten Antinomien, die es reflektiert und situationsangemessen abzuwägen gilt.

Woran merkt man als Therapeut denn, wenn man sich zu weit hineingewagt hat ins Leben des Klienten? Was ist dann zu tun, wo liegt die Lösung?

Gahleitner: Wir merken das in der Regel, wenn wir selbst ein ungutes Gefühl haben. Allerdings muss ich dieses Gefühl erst mal auch wahrnehmen und dann muss es mit einem entsprechenden Wissen verknüpft sein, sonst bleibe ich dem gegenüber hilflos und weiß gar nicht, was ich jetzt tun sollte. Intuition allein hilft nicht. Intuition entfaltet sich nur fruchtbar vor einem breiten Wissens- und Erfahrungshintergrund, deshalb spreche ich auch gerne von strukturierter Intuition. Neben Wissen und Erfahrung brauchen wir aber auch stets Reflexion, also Inter- oder Supervision. Und schließlich ist es wichtig, dass wir transparent und offen auf die Klientinnen und Klienten zugehen und das Thema oder die Situation ansprechen. Manchmal muss man das sogar mit einer Entschuldigung beginnen. So ein Vorgehen kann die Beziehung dann auch stärken und es kann ein neuer Weg entstehen, den beide miteinander gehen. Wem das gelingt, macht aus einem Therapiefehler sogar einen Vertrauensgewinn.

Das Interview führte Uwe Britten.

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