THEMEN DER ZEIT
Geburtshilfe: Die Fehlsteuerungen beheben


Die Geburtshilfe steckt in der Krise. Unterfinanzierte Fallpauschalen führen zu Engpässen in der Versorgung und Frust bei Ärzten und Hebammen. Schon seit Langem liegen Lösungsvorschläge auf dem Tisch. In diesem Jahr nun will die Politik reagieren.
Dass die Not groß ist, zeigt sich immer dann, wenn Akteure kooperieren, die sonst nicht immer einer Ansicht sind. In der Geburtshilfe ist die Not groß. So trafen sich Ärzte-, Hebammen- und Elternvertreter im Oktober 2019 in Stuttgart zu einem Kongress, um gemeinsam Lösungen für die drängenden Probleme zu finden. Ende Februar gab das Bündnis, das sich „WIR – von Anfang an“ nennt, ein Positionspapier heraus, in dem es sowohl das Problem als auch Lösungsansätze beschreibt.
Die immense Bedeutung von Schwangerschaft und Geburt stehe in deutlichem Widerspruch zu der im Vergleich mit anderen medizinischen Leistungen niedrigen Vergütung, heißt es darin. Gute und sichere Geburtshilfe vorzuhalten, sei für Kliniken teuer, da zu jeder Zeit genügend Hebammen, Gynäkologen, Anästhesisten und gegebenenfalls Kinderärzte verfügbar sein müssten. Diese Vorhaltekosten und darüber hinaus der nicht planbare Zeitaufwand einer Geburt würden in der derzeitigen Finanzierung über die Fallpauschalen nicht abgebildet. Zudem präge „die Sorge vor Regressen und Klagen maßgeblich das Handeln in der Schwangerenvorsorge und Geburtshilfe“. Sie motiviere im ärztlichen Handeln zu Überversorgung und pathologieorientierter Vorsorge.
Kreißsäle sind überfüllt
Arbeitsverdichtung, unklare Zuständigkeiten und Probleme in der Finanzierung führten zu Konflikten zwischen Gynäkologen und Hebammen, heißt es weiter. Und der ökonomische Druck führe zur Schließung von Geburtsstationen. Die verbleibenden Kreißsäle seien überfüllt und Frauen müssten unter Wehen abgewiesen werden.
Zur Schließung von Geburtsstationen kam es auch in der Helios Mariahilf Klinik Hamburg, die südlich der Elbe im Stadtteil Harburg liegt. Problematisch ist das vor allem deshalb, weil die Klinik die einzige Geburtshilfe im Hamburger Süden vorhält, nachdem das Asklepios Klinikum Harburg im Jahr 2016 seine Geburtsstation geschlossen hat. In die Schlagzeilen geriet die Klinik Anfang des Jahres 2019, als die Chefärztin der Geburtshilfe und Pränatalmedizin, Dr. med. Maike Manz, zusammen mit vier Oberärztinnen und einem Oberarzt das Krankenhaus verließ. „Wir mussten erkennen, dass wir unter den gegebenen Bedingungen unseren Patientinnen nicht die medizinische Versorgung anbieten konnten, die wir ihnen anbieten wollten“, sagt Manz dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ). „Deshalb sind wir gegangen.“
Dabei richtet sich ihre Kritik auch gegen die grundsätzlichen Rahmenbedingungen in der Geburtshilfe. „Im DRG-System wird die Medizin finanziell bestraft, die sich die meisten Frauen wünschen: eine natürliche Geburt, bei der dem Geburtsvorgang die Zeit gegeben wird, die er benötigt“, kritisiert Manz. So erhalte ein Krankenhaus für eine normale, komplikationslose Geburt etwa 2 000 Euro, für einen Kaiserschnitt hingegen circa 3 000 Euro. „Eine höhere Vergütung für eine Sectio erscheint einerseits plausibel, weil mehr Personal gebunden wird“, sagt die Gynäkologin. „Andererseits muss aber genau dieses Personal auch während einer natürlichen Geburt vorgehalten werden – weil man nie weiß, ob und wann eine Sectio notwendig wird.“ Die Medizin richte sich in Zeiten der Ökonomisierung zunehmend nach dem Erlös, den sie einbringt, und nicht nach der Versorgung, die die Patienten eigentlich benötigen. Und die Geburtshilfe sei davon besonders betroffen, weil die Vorhaltekosten besonders hoch seien und die Länge einer Geburt nicht im Vorhinein kalkuliert werden könne. „Das System der Geburtshilfe muss sich grundlegend ändern“, fordert Manz. „Und zwar schnell.“
Einheitliche Fallpauschale
„Das deutsche DRG-System vergütet medizinische Eingriffe grundsätzlich aufwandsbezogen. Aber gerade bei Geburten schwankt der Aufwand der Betreuung“, sagt auch der Regionalgeschäftsführer Medizin der Helios Mariahilf Klinik, Dr. med. Olaf Kannt. Damit sei Geburtshilfe in Krankenhäusern erst ab einer gewissen Anzahl von Geburten rentabel.
„Mit der Neuordnung der Harburger Geburtenversorgung haben wir uns bewusst auf die steigenden Geburtenzahlen in der Klinik vorbereitet“, so Kannt weiter. „In unserem Kreißsaal können seitdem bis zu 2 500 Geburten in fünf Geburtsräumen und zwei Wehenzimmern betreut werden.“ 2018 kamen in der Klinik 2 087 Kinder zur Welt. 2019 ging die Zahl auf 1 449 Kinder zurück, „aufgrund der Ereignisse in unserer Geburtshilfe und der damit einhergehenden Verunsicherung der Schwangeren in der Region“, sagt Kannt. Seit Mai 2019 seien die Geburtsanmeldungen jedoch wieder kontinuierlich gestiegen. Wie Manz befürwortet Kannt eine Systemumstellung. Zum einen müsse „die Spannweite der Betreuungsintensität einzelner Fachbereiche besser abgedeckt und dann auch vergütet werden“, sagt er. Zum anderen befürworte er das Bilden von Zentren.
Der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), Prof. Dr. med. Frank Louwen, beschreibt die Entwicklungen in der Geburtshilfe als Abwärtsspirale, die ihren Ausgang in der DRG-Finanzierung genommen hat. „Das DRG-System ist ein relevanter Faktor in der Fehlsteuerung der geburtshilflichen Versorgung“, sagt er dem DÄ und fordert, den Geburtsmodus aus dem Fallpauschalensystem zu entfernen. „Stattdessen brauchen wir eine einheitliche DRG ‚Betreuung unter der Geburt‘“, sagt er. „Diese würde die Erfordernisse am besten abbilden und den ökonomischen Anreiz eines Kaiserschnitts reduzieren, der höhere Erlöse bei einem Bruchteil der Geburtszeit unter ähnlichen Personalbedarfen generieren lässt.“
Ein weiteres Problem der Geburtshilfe sei der Personalmangel. „Extrem hohe Dienstbelastungen und fehlende wissenschaftliche und klinische Aufstiegschancen haben die seit Jahren notierten Auswirkungen“, kritisiert Louwen. „An den Medizinischen Fakultäten müssen Professuren für ‚Spezielle Geburtshilfe und Perinatologie‘ mit Leitungsfunktion in den universitären Perinatalzentren eingerichtet werden, um den qualifizierten Nachwuchs in die flächendeckend erforderlichen Perinatalzentren zu bringen und die perinatologische Forschung endlich auch in Deutschland zu fördern.“ Die Probleme seien seit Jahren bekannt, sagt Louwen. So habe die DGGG bereits 2012 betont, dass die Einrichtung solcher Professuren vordringlich sei und den bestehenden Rückstand in der Forschung reduzieren solle. Aber weder die Politik noch die Selbstverwaltung änderten etwas.
In diesem Jahr will das Bundesgesundheitsministerium (BMG) Vorschläge für eine Reform der geburtshilflichen Versorgung machen, hatte der Abteilungsleiter Gesundheitsversorgung im BMG, Joachim Becker, Ende 2019 angekündigt. Nähere Informationen über Inhalte der Reformen oder Zeitpläne gebe es jedoch noch nicht, teilte das Ministerium auf Anfrage mit.
Das baden-württembergische Bündnis „WIR – von Anfang an“ fordert in seinem Positionspapier die Einberufung eines nationalen Geburtshilfegipfels, auf dem die Probleme diskutiert und gelöst werden sollen. Dazu zählen neben einer ausreichenden Vergütung einer Eins-zu-eins-Betreuung eine gemeinsame Aus- und Weiterbildung von Ärzten und Hebammen, um das interdiszi-plinäre Arbeiten zu fördern sowie die Neuordnung der Haftpflichtversicherungen aller geburtshilflich Tätigen.
Sinnvolle Strukturierung
Maike Manz hat unterdessen einen neuen Arbeitgeber gefunden, mit dem sie hofft, ihre Vorstellungen einer guten geburtshilflichen Versorgung umsetzen zu können. Am 1. April 2020 hat sie die Sektionsleitung der Geburtshilfe am Klinikum Darmstadt übernommen – einem Level-1-Zentrum mit etwa 2 100 Geburten im Jahr. Nach einem Neubau soll die Klinik neun Gebärräume umfassen. Zudem ist die Einrichtung eines hebammengeleiteten Kreißsaals vorgesehen.
„Geplant ist eine Verzahnung von rein hebammengeleiteter Geburt bei risikofreien Frauen bis hin zur Level-1-Geburtsmedizin unter einem Dach“, sagt sie. Dies ist aus ihrer Sicht die „einzig sinnvolle Strukturierung“ der Geburtshilfe: eine Zentralisierung mit einer Abstufung von Low-Intermediate- und High-Risk-Geburtshilfe, bei der eine Auf- und Abstufung jederzeit möglich ist. „Von solchen Kliniken wünsche ich mir mehr in unserem Land“, sagt sie. Falk Osterloh
Fünf Fragen an Prof. Dr. med. Frank
Louwen, Vizepräsident der DGGG:
www.aerzteblatt.de/111716
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