ArchivDeutsches Ärzteblatt15/2020Gesundheitswesen: Nicht für den Notfall ausgelegt

THEMEN DER ZEIT: Kommentar

Gesundheitswesen: Nicht für den Notfall ausgelegt

Paske, Mirco

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In fast allen Bereichen unseres täglichen Lebens sorgen wir dafür, dass Systeme nicht nur für den Alltag, sondern auch für Notfallszenarien ausgelegt sind. Nur nicht im Gesundheitswesen.

Mirco Paske, FA für Innere Medizin, Hamburg
Mirco Paske, FA für Innere Medizin, Hamburg

Die Bremsanlage eines handelsüblichen Pkw übersteht problemlos eine Notbremsung, die manche Autofahrer nie, andere zumindest nur in einem Bruchteil der Nutzungszeit des Autos benötigen.

Bei Statikberechnungen von Ingenieuren werden häufig bis zu zweistellige Faktoren bezüglich Materialbelastungen etc. eingerechnet, sodass ein Hochhaus deutlich mehr aushält, als es eigentlich müsste.

Mitarbeiter der Berufsfeuerwehren sind 24/7 in Bereitschaft und warten auf Einsätze. Die meisten der Alarmierungen sind der Natur, dass sie nur einen Bruchteil ihres Equipments benötigen. Der Großbrand zum Beispiel ereignet sich nur äußerst selten – doch dann werden alle vorhandenen Ressourcen eingesetzt und der Brand wird gelöscht.

Warum verfahren wir nicht genauso mit unserem Gesundheitssystem? Dieses läuft – ganz im Gegenteil – schon im Alltagsbetrieb an seiner Belastungsgrenze. Für das Auto-Beispiel würde dies bedeuten, ständig mit überhitzten Bremsscheiben herumzufahren – und im Falle der Notbremsung versagt das Bremssystem nahezu, weil es schon vorher komplett überlastet war. Für das Hochhaus-Beispiel würde dies bedeuten, dass es immer dann, wenn zu viele Personen das Haus betreten, zu einem Einsturz käme. Für die Feuerwehr würde es bedeuten, dass die Frauen und Männer täglich Tag und Nacht im Dauereinsatz wären – und wenn dann noch der Großbrand im Industriegebiet hinzukäme, könnte kein Feuerwehrmann sich mehr auf den Beinen halten, das Löschwasser wäre verbraucht und die Axt wäre stumpf oder bereits zerbrochen.

Die Antwort von Seiten der Politik, warum diese Notvorsorge für das Gesundheitswesen nicht gilt, ist immer dieselbe: Es mangele an den nötigen finanziellen Mitteln. Interessant, wo doch gerade hunderte Milliarden Euro an Ressourcen mobilisiert werden können. Ad hoc. Warum zählt das Geld bei den anderen Beispielen nicht als Argument? Autos ohne ABS/ESP und mit Trommelbremsen anstatt Scheibenbremsen wären pro Stück deutlich günstiger zu produzieren. Dieser Aufpreis wird allerdings anstandslos bezahlt. Hochhäuser, die mit der Hälfte der Stahlbauteile gebaut würden, kosteten auch Zigmillionen weniger. Interessanterweise ist in Deutschland aber nach wie vor die sichere Bauweise gesetzlich verpflichtend. Wir leisten uns weiterhin Berufsfeuerwehren – zum Glück! Selbst wenn deren Einsatz nur in einem Bruchteil ihrer Arbeitszeit benötigt wird.

Einzig und allein im Gesundheitswesen, das für das mit Abstand wichtigste Gut: unsere Gesundheit (!) sorgen soll, kümmert man sich viel zu wenig darum, dass vergleichbare Sicherheitsmechanismen aufgebaut und vorgehalten werden.

Wenn das Argument der Verantwortlichen Akteure wirklich pekuniärer Natur ist – dann schaue man sich in den nächsten Monaten mal an, wie viel Geld es kostet, wenn man am falschen Ende spart. Diese aktuelle Krise mit all ihren Auswirkungen für die nächsten Jahre oder Jahrzehnte wird die Welt insgesamt teurer zu stehen kommen als wenn man dreimal so viele Ärzte, Pflegekräfte und Beatmungsgeräte vorgehalten hätte.

Besonders zynisch an der aktuellen Situation ist: Im Gegensatz zu vielen anderen bedrohlichen Erkrankungen ist der limitierende Faktor der medizinischen Versorgung in diesem Fall nicht der wissenschaftliche Fortschritt (wie sonst so häufig, unter anderem bei bösartigen Krebserkrankungen wie beispielweise einem Glioblastom), sondern die reine Versorgung mit Material und Arbeitskraft. Die Letalitätsrate bei einem Glioblastom können wir nicht durch mehr Ärzte, mehr Pflegekräfte oder mehr Intensivbetten senken. Die Letalitätsrate bei COVID-19 könnten wir in Italien sofort von 10 auf 0,5 Prozent absenken – einzig und allein durch mehr Beatmungsgeräte und eine für Notfallszenarien ausgelegte Personaldecke.

Unzählige Leben hätten gerettet werden können, wurden aber de facto „totgespart“.

Etwas Vergleichbares gibt es bei kaum einer anderen Krankheit: In den allermeisten Fällen zeigt uns Mutter Natur unsere medizinischen Grenzen auf. In diesem Fall jedoch ist die Krankheit per se prinzipiell gut beherrschbar. Diese Katastrophe ist also offensichtlich menschengemacht – und hätte mit entsprechenden Vorkehrungen deutlich abgemildert werden können – und das sogar ohne Quarantäne und Stilllegung der gesamten Wirtschaft und des Soziallebens aller Bürger.

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