ArchivDeutsches Ärzteblatt PP4/2020Medizinische Versorgung Geflüchteter: Chronisch kranken Kindern kann kaum geholfen werden

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Medizinische Versorgung Geflüchteter: Chronisch kranken Kindern kann kaum geholfen werden

Korzilius, Heike

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Männer, Frauen und Kinder müssen auf den griechischen Inseln monatelang unter menschenunwürdigen Bedingungen ausharren, bis über ihre Asylanträge entschieden ist. Das Lager Moria auf Lesbos, das größte in Europa, ist zum Sinnbild einer verfehlten Migrationspolitik geworden.

Routine in der Kinderklinik: Ein Arzt von MSF untersucht den vierjährigen Sahel aus dem Flüchtlingslager Moria, der erkältet ist und eine Wunde am Kopf hat. Foto: Anna Pantelia/MSF
Routine in der Kinderklinik: Ein Arzt von MSF untersucht den vierjährigen Sahel aus dem Flüchtlingslager Moria, der erkältet ist und eine Wunde am Kopf hat. Foto: Anna Pantelia/MSF

Provisorische Zelte und Baracken, Dreck, Müll und Unrat, dazwischen Menschen, die sich mit ihren wenigen Habseligkeiten notdürftig eingerichtet haben. Das sind Bilder, die man normalerweise mit der Berichterstattung über Kriege und Naturkatastrophen in entlegenen Teilen der Welt verbindet. Seit gut vier Jahren sind sie aber auch Realität in der Europäischen Union (EU), genauer: auf den griechischen Inseln in der Ägäis. Dort harren nach aktuellen Zahlen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen rund 42 000 Männer, Frauen und Kinder aus, die in Europa Schutz suchen. Ein Drittel der Menschen auf den Inseln sind Kinder und Jugendliche. 60 Prozent von ihnen sind jünger als zwölf Jahre, viele sind allein unterwegs und auf sich selbst gestellt.

Besonders schlimm ist die Situation in Moria auf der Insel Lesbos. Ursprünglich für 3 000 Menschen ausgelegt, ist das Aufnahmelager dort inzwischen mit rund 20 000 Geflüchteten und Migranten hoffnungslos überbelegt. Weil im eigentlichen Camp kein Platz mehr ist, lassen sich viele Neuankömmlinge außerhalb in provisorischen Unterkünften nieder – ohne ausreichende Wasser- oder Stromversorgung, ohne Sanitäranlagen, ohne Müllabfuhr.

„Nach der Behandlung muss man die Kinder zurückschicken in den Matsch und die Kälte – und das mitten in Europa.“ George Makris, MSF. Foto: Dora Vangi/MSF
„Nach der Behandlung muss man die Kinder zurückschicken in den Matsch und die Kälte – und das mitten in Europa.“ George Makris, MSF. Foto: Dora Vangi/MSF

„Die Zustände in Moria sind berüchtigt“, sagt Dr. George Makris dem Deutschen Ärzteblatt am Telefon. Der 27-jährige griechische Arzt, der monatelang selbst in Moria Patienten versorgt hat, ist einer der Koordinatoren, die von Athen aus die medizinische Hilfe von Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF) auf Samos und Lesbos steuern. Insgesamt 100 Mitarbeiter sind auf den beiden Inseln im Einsatz. Denn die staatlichen Gesundheitseinrichtungen sind mit der Versorgung der vielen Asylsuchenden überfordert. Dazu kommt, dass die griechische Regierung das Recht der Asylsuchenden auf medizinische Versorgung vorübergehend eingeschränkt hat. Auch diese Lücke stopfen jetzt Nichtregierungsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder Ärzte der Welt.

MSF betreibt auf Lesbos in Mytilini ein psychosoziales Behandlungszentrum für Erwachsene, die schwere Gewalt erlebt haben, und vor den Toren des Lagers Moria eine Kinderklinik. „In der Kinderklinik behandeln wir zurzeit am Tag 70 bis 80 Patienten. Im ganzen letzten Jahr waren es gut 16 000“, erklärt Makris. Die meisten Patienten litten an akuten Infektionen. Erkrankungen der Atemwege, des Gastrointestinaltrakts, aber auch Hauterkrankungen seien besonders häufig. „Zurzeit grassiert im Lager die Krätze, eine Folge der katastrophalen hygienischen Zustände“, sagt der junge Arzt. Behandeln können die Ärzte in der Kinderklinik jedoch nur allgemeinmedizinische Beschwerden. Für alles andere fehlt es auf der Insel an Ausstattung und Spezialisten.

„Es gibt in Moria aber zahlreiche Kinder, die an komplexen chronischen Erkrankungen leiden“, erklärt Makris. Seit März 2019 hätten die Teams von MSF 300 Kinder und Jugendliche mit Epilepsie, anderen neurologischen Erkrankungen, mit kognitiven und psychischen Einschränkungen, Asthma, Herzerkrankungen und Diabetes identifiziert, denen man auf der Insel nicht helfen könne. „Seit Monaten bemühen wir uns darum, dass diese Kinder auf dem griechischen Festland die notwendige Behandlung erhalten“, sagt Makris. Bislang sei das jedoch nur in wenigen Fällen gelungen. Denn die Geflüchteten dürfen sich nicht frei im Land bewegen. Sie müssen bis zum Abschluss ihrer Asylverfahren in Hotspots wie Moria ausharren. Migranten, deren Asylantrag abgelehnt wird, werden in die Türkei zurück abgeschoben. Das sieht das Flüchtlingsabkommen vor, dass die EU unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise 2015 mit der Türkei geschlossen hat. Neben der Rücknahme abgelehnter Asylbewerber verpflichtete sich die Türkei zudem, die Grenze zur EU dichtzumachen. Als Gegenleistung erhält sie Milliardenhilfen zur Versorgung der rund 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge im eigenen Land.

„Die unwürdigen Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern beeinträchtigen die physische und psychische Gesundheit der Geflüchteten“, sagt Makris. Die Leidtragenden dieser Abschreckungspolitik seien vor allem die Kinder. Priorität müsse jetzt die Versorgung der chronisch Kranken haben, damit sich deren Zustand nicht weiter verschlechtere und unbehandelte Erkrankungen nicht zu irreparablen Schäden oder sogar zum Tod führten. „Die Situation in den Lagern ist auch für unsere Ärzte eine emotionale Herausforderung“, sagt Makris. „Man tut, was man kann, um den Kindern zu helfen. Danach muss man sie zurückschicken in den Matsch und die Kälte – und das mitten in Europa.“ Viele Kinder und Jugendliche litten unter psychischen Folgen dieser Unterbringungspolitik. Neben milderen Ausprägungen wie Bettnässen oder generellen Angstzuständen entwickelten Kinder Depressionen, würden aggressiv, verletzten sich selbst oder zögen sich in sich selbst zurück. Vereinzelt versuchten sie, sich das Leben zu nehmen. „Wenn man Kinder in solchem Zustand sieht, ist das ein Indikator für den Ernst der Lage“, sagt Makris.

Gegen eine Politik, die Migranten zwingt, oft monatelang unter schwierigsten Bedingungen in Lagern ihr Dasein zu fristen, und gegen die rigorose Abschottung Europas protestieren auch andere Ärzte- und Hilfsorganisationen (siehe Kasten). Abhilfe ist nicht in Sicht, denn noch immer können sich die EU-Mitgliedstaaten nicht auf eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik einigen. Derweil verschärft sich die Situation in den Lagern auf den griechischen Inseln weiter. Denn auch die Einheimischen fühlen sich von der eigenen Regierung und der EU zunehmend im Stich gelassen. Anfang März musste MSF nach Angriffen auf humanitäre Helfer die Kinderklinik in Moria und die psychosoziale Klinik in Mytilini vorübergehend schließen. Am 12. März teilte die EU-Kommission mit, dass sich sieben Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, bereit erklärt hätten, 1 600 Kinder aus den griechischen Flüchtlingslagern aufzunehmen. Eine gemeinsame Lösung für minderjährige Migranten solle im Mai auf einer Konferenz zusammen mit dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen gefunden werden.

Angesichts Tausender Migranten an der türkischen Grenze zu Griechenland, die mit Tränengas und Wasserwerfern daran gehindert werden, in die EU einzureisen, fordern Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen jedoch grundlegendere Lösungen. Die EU-Mitgliedstaaten müssten umgehend die Menschen von den griechischen Inseln in andere EU-Staaten bringen, forderte Stefano Argenziano, Koordinator der MSF-Projekte in Griechenland. „Sie müssen ein Asylsystem etablieren, das wirklich funktioniert, und sie müssen aufhören, Geflüchtete unter unmenschlichen Bedingungen ausharren zu lassen.“ Heike Korzilius

Auflösung der Lager gefordert

Angesichts der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus und eines ersten Falles auf Lesbos hat Ärzte ohne Grenzen Mitte März die umgehende Evakuierung der EU-Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln gefordert. Die unzumutbaren Lebensbedingungen in den überfüllten Hotspots seien ein idealer Nährboden für das Virus, warnte die Hilfsorganisation. In einigen Bereichen des Lagers Moria auf Lesbos gebe es nur eine Wasserzapfstelle für 1 300 Bewohner und Seife sei nicht erhältlich, sagte Hilde Vochten, medizinische Koordinatorin der Projekte von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland. Fünf- oder sechsköpfige Familien seien auf einer Schlaffläche von drei Quadratmetern Fläche zusammengepfercht. Von den Gesundheitsbehörden forderte Ärzte ohne Grenzen einen Plan, der Maßnahmen zur Infektionsprävention und -kontrolle, zur schnellen Identifikation von Fällen, zur Isolation und Behandlung von Patienten mit mildem Krankheitsverlauf sowie zur Behandlung von schwer erkrankten Menschen enthält.

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