ArchivDeutsches Ärzteblatt PP4/2020COVID-19-Pandemie: Psychologie der Klorolle

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COVID-19-Pandemie: Psychologie der Klorolle

Janos, Vera

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Die Deutschen hamstern in der Krise Klopapier und lachen etwas verlegen über sich selbst. Die ganze Welt lacht über Deutschland. Eine Psychotherapeutin über diese spießig anmutende Obsession.

Kaufen wir eine Tüte Klopapierrollen, so kaufen wir eigentlich eine Tüte Abwehr von Angst, bestehend aus acht Rollen. Foto: yana kallas/stock.adobe.com
Kaufen wir eine Tüte Klopapierrollen, so kaufen wir eigentlich eine Tüte Abwehr von Angst, bestehend aus acht Rollen. Foto: yana kallas/stock.adobe.com

Klopapier ist aus. Als Psychotherapeutin ist man eine gewisse Härte des Alltags gewohnt. Nicht nur gilt es, alle uns vorgetragenen Irrationalitäten einfühlsam zu verstehen, sondern auch, die zu uns Kommenden vor unseren eigenen zu verschonen. Jetzt aber könnte ich verzweifeln. Die Folgen der Irrationalitäten meiner Mitbürger und Mitbürgerinnen führen nun schon seit Wochen zu leeren Regalen, insbesondere denen mit dem Klopapier.

Ganz Deutschland lacht etwas verlegen über sich selbst. Die ganze Welt lacht über uns. Während andere Nationen sich mit Wein, Kondomen oder Dope bevorraten, haben wir kleinlichere Sorgen. Wieso bloß haben die Deutschen diese äußerst spießig anmutende Obsession mit dem Klopapier? Als Psychotherapeutin muss ich entgegenhalten: Mir ist eher unverständlich, warum nicht die ganze Welt unsere Obsession teilt. Zunächst mal ist festzuhalten, dass der Globus in Zeiten der Krise hamstert und das aus sehr guten Gründen. Zeiten der Krise bedeuten Zeiten potenzieller Knappheit, bedeuten Zeiten von Abhängigkeit und Autonomieverlust. Wer Angst vor Kontrollverlust und Fremdbestimmung hat, sieht im Einkaufen eine verbliebene, beruhigende, dringliche Vergewisserung von Selbstwirksamkeit: „Ich kaufe, also kann ich noch bestimmen!“ Ich gestehe, dass auch ich in diesen Tagen gerne einkaufen gehe, es vermittelt ein angenehmes Gefühl von Normalität und Alltag. Anders als ein hilfloses Baby bin ich so nicht auf eine bestenfalls liebevolle Mutterbrust angewiesen, die zu den für mich notwendigen Zeiten kommt und den Hunger stillt.

Schutz vor Beschämung

Aber wieso jetzt Klopapier? In der Psychoanalyse gelten Traum und freie Assoziation als „Königsweg zum Unbewussten“. Dass wir es bei diesem Phänomen mit einem irrrationalen Symptom zu tun haben, scheint einhellig geklärt. Wieso also nicht das Geschehen mit einem kleinen Albtraum vergleichen? So gebe ich mich gleich einer Patientin auf der Couch der freien Assoziation zum Thema Klopapier in Zeiten von Corona hin. Die Einfälle, die mir kommen, sind tatsächlich 3-Lagig. Ich glaube, es geht um eine Dreischichtigkeit von Ängsten, die ein gemeinsames Überthema hat. Kaufen wir eine Tüte Klopapierrollen, so kaufen wir eigentlich eine Tüte Abwehr von Angst, bestehend aus acht Rollen. Und die Aufschrift auf der Tüte lautet: „Samtweiche Kontrolle, garantiert reißfest“.

Die erste Lage: Der Vorrat an Klopapier garantiert den Schutz vor Beschämung. Von morgens bis abends werden wir ermahnt, uns oft, richtig und lang anhaltend die Hände zu waschen. Wann hörten wir dies in unserer Kindheit? Kein Wunder, wenn uns zu Hygiene ziemlich schnell auch die Toilette einfällt. Und die heruntergelassenen Hosen. Und die Scham, die mit der Vorstellung verbunden ist, mit selbiger beim Nachbarn zu klingeln und um Klopapier zu bitten. Die Benutzung von Klopapier ist das, was uns Menschen von den Tieren unterscheidet. Die Benutzung von Klopapier ist also quasi die Nummer eins der zivilisatorischen Errungenschaften. Im Kaufen von Klopapier vergewissern wir uns, dass wir – trotz aller Krisenbedrohung – nicht zum Tier werden müssen. Das ist beruhigend.

Die zweite Lage: Essen einkaufen ist in Zeiten der Krise wie oben beschrieben eine naheliegende Vergewisserung, dass ich – komme was wolle – nicht werde Hunger leiden müssen. In der logischen Fortsetzung dieses Gedankens heißt essen aber auch (und ich schreibe es absichtlich in aller Kreatürlichkeit) kacken. In Abwandlung des bekannten Spruchs von Max Liebermann nach Machtergreifung der Nazis könnten wir gerade sagen: „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich scheißen möchte!“ Im Scheißen steckt etwas Lustvolles, zugleich verrät sich darin diese unterschwellige und irritierte Wut über die aktuellen Zumutungen. Man raubt uns den gewohnten Alltag, das Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung und mutet uns stattdessen zu, derart viele Ängste und Bedrohungsgefühle auszuhalten – so eine Scheiße! Im Kaufen von Klopapier vergewissern wir uns, dass wir – trotz aller Krisenbedrohung – Wege finden werden, Wut und Ärger loszuwerden. Ganz konkret auszuscheißen. Das ist erleichternd. Erleichternd auch wegen der dritten Lage.

Die dritte Lage: Gier. Wir alle kennen diese Szenen am Buffet. Hinter der dünnen Fassade von vornehmer Zurückhaltung werden die meisten von uns zu ziemlich rücksichtslosen Raubtieren, vor allem dann, wenn klar ist, dass die Häppchen nicht für alle reichen. Das grassierende Coronavirus knüpft menschheitlich an eine wiederkehrende Urerfahrung an: Seuchen, Pest und Cholera. Aktuell geht es also im kollektiven Unbewussten um eine Urangst: die Angst, im Selbst in einen menschlichen Abgrund zu blicken. Der apokalyptische Brudermord. Wenn alle bestehenden Regeln, Gesetze und Ordnungen nicht mehr gelten und es nur noch ums nackte Überleben geht, können zumindest manche von uns (und insgeheim befürchten wir es wohl alle) zur Bestie werden. „Homo homini lupus – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, kein Mensch“. Im Fernsehen wird gerade mit viel Emphase und Zufriedenheit auf die Solidarität verwiesen, die aktuell allerorten zu beobachten ist. Zu Recht. Zugleich könnte diese betonte Vergewisserung auch ein Indiz für die Angst davor sein, dass wir alle zu brutalen, egoistischen Bestien werden könnten, die für das eigene Wohl buchstäblich bereit sind, über Leichen zu gehen. Oder auch für Klopapier. Bevorraten wir uns damit, so vergewissern wir uns, dass wir – trotz aller Krisenbedrohung – nicht zu einem barbarisch mordenden Tier werden müssen. Das ist mehr als beruhigend. Und eigentlich doch tatsächlich eine zivilisatorische Leistung.

Dass andere Nationen die aufgerufenen Urängste anders zu beantworten gewohnt sind, liegt eigentlich nahe und sollte uns nicht überraschen. Ich verstehe die Motive meiner Mitmenschen und ich heiße sie sogar gut. Trotzdem hätte ich jetzt gerne auch mal wieder eine eigene Rolle Klopapier. Vera Janos

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