THEMEN DER ZEIT
COVID-19-Pandemie: Progression versus Regression


Eine gesellschaftliche Trennlinie verläuft in der Krise nicht nach soziologischen Kategorien, sondern zwischen einem progressiv-gestalterischen und einem regressiv-primitiven Umgang.
Zur menschlichen Natur gehört es, in Krisensituationen meist mithilfe einfacher psychischer Mechanismen zu reagieren. Selbst reife Persönlichkeiten können in der Krise auf eine primitive Form der Verarbeitung zurückfallen, was die Psychoanalyse seit Freud von jeher Regression nennt. Erste Merkmale dieser Regression erlebten wir zu Beginn der Corona-Krise in Form eines omnipotenten Leugnens einer objektiven Infektionsgefahr, worauf die Schweizer Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber in der Sendung Scobel im 3sat-Interview hingewiesen hat (1). Ein Zurückfallen auf die anale Stufe zeigt sich in einem weiteren Schritt durch das Hamstern vor allem von Toilettenpapier, worin sich aus psychoanalytischer Sicht der notfallmäßige Versuch zeigt, verloren gegangene Autonomie und Kontrolle ersatzweise zurückgewinnen zu wollen. Der Unterwerfung und Ohnmacht gegenüber dem übermächtigen Objekt „Virus“ wird etwas Selbstbestimmt-Anales entgegengesetzt. Weitere primitive Mechanismen zeigen sich aber auch in psychischen Spaltungsvorgängen, so die Psychoanalytikerin weiter in Form eines trotzigen Denkens in „ihr da oben, wir da unten, ich mach das nicht mit“! Dieses Denken ist dabei keinesfalls auf die individuelle Ebene beschränkt: Auch auf europäischer Ebene erleben wir derzeit eher nationale Alleingänge.
Aber gibt es unter den Menschen auch individuelle Unterschiede, die wir aus psychologischer Sicht beschreiben können? Ja. Insbesondere auf die soziale Isolation reagieren Menschen mit unterschiedlichen Charakteren verschiedenartig. Die Psychoanalyse unterscheidet in einer langen Tradition mit den Theorien von Sigmund Freud über Fritz Riemann bis Harald Schultz-Hencke unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen oder -stile, die in der aktuellen Situation von Psychotherapeuten wieder zur Beschreibung der momentanen Reaktionen aufgegriffen werden.
Der emeritierte Psychologie-Professor Donald Carveth berichtet in einem Youtube-Interview von verschiedenartigen Reaktionen seiner Patienten in der Corona-Krise (2): Am wenigsten von der Krise emotional tangiert, so der Psychoanalytiker, werde die schizoide, das heißt die Nähe vermeidende Persönlichkeit. Da diese von jeher sozial distanziert und kühl Beziehungen unterhält, fühlen sich diese in ihrer Angst vor Nähe durch die Krise bestätigt: Sie brauchen sich für ihren Rückzug nicht mehr schuldig zu fühlen. Jetzt ist es sozial anerkannt, sich sozial zu isolieren. Der schizoide Rückzug wird sogar empfohlen.
Unterschiedliches Leiden
Während der zwanghafte und hysterisch strukturierte Mensch seine sonst als problematisch erlebten Verhaltens- und Erlebensmuster in der Corona-Krise zunächst als normal erlebt (häufiges Händewaschen wird empfohlen, alle um einen herum sind emotionalisiert), leiden andere Persönlichkeiten besonders unter der Krise: Je nach Ich-Stärke des narzisstisch strukturierten Menschen kann es zur Ausbildung einer psychischen Erkrankung im Sinne einer „narzisstischen Depression“ kommen. Dabei sind auch andere Formen der Krisenbewältigung für den Narzissten denkbar, wie eine libidinöse Besetzung des Selbst, wie beispielsweise eine übermäßige Selbstbeschäftigung mit sich selbst in den eigenen vier Wänden. Die emotional-instabile Struktur (Borderline) neigt zu den oben genannten Spaltungsvorgängen zwischen „gut“ versus „böse“ beziehungsweise zwischen zwischen „wir“ und „ihr“ pauschal zu trennen. Darüber hinaus erleben wir uns vom Virus im objektbeziehungstheoretischen Sinne nach Wilfred Bion wie von einem „bizarren Objekt“ verfolgt und überschwemmt. Möglicherweise kann in der Corona-Krise aber auch ein sonst diffuses interpersonelles paranoides Erleben jetzt gebündelt werden, wodurch es besser greifbar wird.
Das Fatale an dieser Lage ist, dass die Grenzen zwischen Realität (Sachlage) und Fantasie (Prognose) verschwimmen: Hier täte das Freudsche Realitätsprinzip Not, dass weder die Gefahr über- noch untertreibt. Das Problem ist aber, dass keiner genau weiß, wie folgenschwer die Ausmaße der Corona-Infektion tatsächlich sein werden. Somit wird die wichtige Bionsche Trennung zwischen Fantasie und Realität derzeit immer mehr aufgeweicht, was eine Ich-Regression und Verfolgungsängste zur Folge haben kann.
Leiden an sozialer Isolation
Besonders anders, je nach Strukturniveau, scheint in der Krise der depressiv-strukturierte Mensch zu reagieren, der aus Angst vor Liebesverlust ein hohes Maß an altruistischer Abwehr leistet. Fehlt die Anerkennung für sein Tun, erlebt er sich als nicht liebenswert. Aktuell beobachten wir, dass ein Teil depressiv strukturierter Menschen besonders unter der sozialen Isolation leidet, was eine depressive Erkrankung fördern kann. Ihnen fehlt die soziale Anerkennung, der sie so dringend bedürfen. Einem anderen Teil gelingt es seinen Altruismus in neue Bahnen zu kanalisieren und wertvolle Hilfsbeiträge zu leisten. Wir sehen also anhand der Persönlichkeitsstrukturen, dass es auf den Modi der Krisenverarbeitung ankommt, ein Gedanke, der an den Begriff „Modus der Konfliktverarbeitung“ des Psychoanalytikers Stavros Mentzos erinnert.
Die Krise kann aber für den depressiv-strukturieren Menschen auch eine Chance bedeuten, sich weiterzuentwickeln: Gerade dieser Typus ist jetzt gezwungen, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Er muss nicht mehr eigene Bedürfnisse stellvertretend im anderen befriedigen und durch altruistische Wunschabtretung abwehren. So kann also in der Krise gerade für diese Persönlichkeit eine noch unerkannte psychologische Entwicklungsaufgabe verborgen sein: eine neue Besinnung auf sich selbst. Dabei darf abschließend nicht vergessen werden, dass die zuletzt genannte altruistisch strukturierte Persönlichkeit in der aktuellen Situation für die Gesellschaft von unschätzbarem Nutzen ist. Social Distancing kann letztlich für jedwede Persönlichkeit eine Chance darstellen, sich weiterzuentwickeln.
Was uns bleibt, nach Leuzinger-Bohleber, ist der Appell an ein reifes Ich, um ein differenziertes Denken und Erleben zurückzugewinnen, was Ambivalenzen, aktuelle Abhängigkeiten, aushalten kann und offen ist für den Diskurs mit den Experten. Bemerkenswert ist dabei, dass eine gesellschaftliche „Trennlinie“ zwischen den Menschen nicht wie sonst zwischen arm und reich oder ähnlichen soziologischen Kategorien verläuft, sondern möglicherweise erstmals zwischen verschiedenartigen psychischen Reifegraden und Modi, und zwar zwischen Progression und Regression, also zwischen einem progressiv-gestalterischen Umgang mit der Krise auf der einen und einem regressiv-primitiven Umgang auf der anderen Seite. Kreative Beispiele für ersteres sehen wir in diesen Tagen vielfältig: Menschen produzieren von zu Hause Podcasts oder humorvolle Filme zum Thema zu Hause-bleiben oder Homeoffice; digitale Flashmobs werden kollektiv an der offenen Fensterbank veranstaltet; Firmen entscheiden sich spontan dafür ihren Betrieb auf die Produktion von dringend benötigten Gütern für das Gemeinwesen umzustellen; Hochschulen setzen ihren Lehrbetrieb vollständig auf Onlinelehre.
Was wir derzeit brauchen sind aus objektbeziehungstheoretischer Sicht gute haltgebende innere Objekte sowie nicht zuletzt das Eriksonsche Urvertrauen und aus selbstpsychologischer Sicht haltgebende Selbstobjekte. Letzteres wird in diesen Zeiten sicher in erster Linie durch familiären Halt geleistet. Aus Ich-psychologischer Sicht brauchen wir ein starkes Ich, mit einer gut ausgeprägten Fähigkeit zur Realitätsprüfung. Nicht zu sehr ängstlich-sorgenvoll zu sein, aber auch nicht zu wenig, was sicher jeden Tag eine neue Herausforderung bleibt.
Selbsterhaltungstrieb
Abschließend sei selbstkritisch angemerkt: Eine Unterscheidung entlang verschiedener Persönlichkeitsstrukturen oder Modalitäten erscheint beim Blick in andere Länder wahrscheinlich inadäquat: Millionen Menschen in der Dritten Welt sind nicht in der privilegierten Position wie wir. Dort gibt es kein Homeoffice mit Haus und Garten. Sollte sich die Krise weiter zu spitzen, wird bei sehr vielen ein nackter Überlebenswille um sich greifen, um mit Freud zu sprechen, ein bedingungsloser Selbsterhaltungstrieb mit zum gegenwärtigen Zeitpunkt unbekannten Folgen. Im besten Falle gehen Menschen aus der Corona-Krise nicht nur gesund, sondern mit einem neuen Bewusstsein für sich selbst, ihr Leben und die Welt heraus.
Prof. Dr. phil. Ingo Jungclaussen,
Klinische Psychologie, Fachhochschule
des Mittelstands, Köln
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Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.am Freitag, 10. April 2020, 21:01
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