KULTUR
Tilly Wedekind (1886–1970): Femme fatale – Femme fragile


Zeitgenossen beschrieben sie als Marionette ihres Ehemannes – seine Lulu als die Rolle ihres Lebens. Am 20. April vor 50 Jahren starb die Schauspielerin Tilly Wedekind.
Wien, am 23. Mai 1905. Trianon-Theater. „Die Büchse der Pandora“. Geschlossene Vorstellung. Im Zuschauerraum sitzen Max Reinhardt, Otto Brahm und Alban Berg; auf der Bühne agiert der Stückautor selbst als Lustmörder Jack the Ripper, an seiner Seite: die 19-jährige Tilly Newes in der Rolle der Lulu. „Entzückendes Menschenkind! (…) Es täte mir unendlich weh, Dein süßes Bild (…) aus dem Gedächtnis verlieren zu müssen“ (1), wird Frank Wedekind ihr nach der Premiere schreiben. Sie ihrerseits ihn bedrängen, die Theaterwelt davon zu überzeugen, dass sie „berlinreif“ sei; habe sie doch mit ihrer Lulu-Darstellung bewiesen, „starke Weiblichkeit (…) besitze ich in hohem Maße“ (2).
„Hurrah, nach Berlin!“ (3), telegrafiert sie ihm ihre Ankunft im Oktober 1905; spekulierend, dass sie nicht nur eine Rolle in seinem neusten Bühnenwerk spielen werde. Anfangs ist es nur „ein bisschen Zuneigung, viel Sinnlichkeit und viel Eitelkeit“; doch schon bald fleht sie ihn an, „(…) ich kann nicht leben ohne Dich“ (4). Am Abend des 16. Februars 1906 klettert sie über die Brüstung am Schiffsbauerdamm; „Tilly springt in die Spree“ (5) dokumentiert Wedekinds Tagebuch. Zwei Tage später gibt er die Verlobung mit der 22 Jahre jüngeren Geliebten bekannt.
„Die Ehe“, muss Tilly Wedekind bald erkennen, „ist ein ebenso ungleicher Vertrag wie Theaterverträge“; man ist „eine Gefangene, allerdings eine freiwillig Gefangene“ (6).
Der Pakt
Tilly Newes ist 15 Jahre alt, als sie am Grazer Theater vorspricht. Eine Spielzeit später – sie hat zwischenzeitlich Schauspielunterricht genommen – engagiert Direktor Otto Purschian sie als Volontärin. Fast jeden Abend steht sie auf der Bühne; in Shakespeares „Sturm“ und „Hamlet“, Wedekinds „Kammersänger“, Hauptmanns „Altem Heinrich“ oder Gorkis „Nachtasyl“. 1903 folgt sie ihrem Intendanten nach Köln und wechselt nach dessen Tod an das Stadttheater Wien. Desdemona, Emilia Galotti, Luise Miller gehören künftig zu ihrem Rollenrepertoire; Adele Sandrock zu ihren Bühnenpartnerinnen. Nach ihrem Lulu-Debüt spielt sie kurzzeitig am Residenztheater Frankfurt, bevor sie durch Wedekinds Vermittlung ans Kleine Theater Unter den Linden kommt. Ihr Auftritt in Oscar Wildes „Idealer Gatte“ an der Seite des populären Harry Walden im Sommer 1906 könnte den Durchbruch bringen. Jedoch sagt sie das Engagement ab – als ihr Ehemann droht, sie zu verlassen.
Es ist die Vorstufe zu dem von ihm initiierten Pakt: nur noch „zusammen in seinen Stücken zu gastieren, der „gemeinsamen Sache“ zu dienen; zugleich die Übergabe „alle(r) Macht“ (7) in seine Hände. Ihr Schicksal als Aktrice ist besiegelt; bis zu seinem Lebensende nur noch Rollen zu spielen, die er geschrieben hat. Als Freudenmädchen Lisiska steht sie in „Totentanz“ mit ihm auf der Bühne; „erniedrig(t) (sich) doch gerne“ (8) vor voyeuristisch staunendem Publikum als Kadidja, in ein „Phantasiekostüm“ gekleidet, auf einer Lauftrommel („Die Zensur“); beim „Stein der Weisen“ gibt sie ihr Debüt im Kugellaufen, derweil sie mit Orangen jongliert. Sich „in solchen Rollen und in allen möglichen Entkleidungen den Menschen zu zeigen“, verschafft ihm „eine Art perverses Vergnügen“; nimmt ihr die Möglichkeit, sich künstlerisch zu entfalten. Alle ihre „echten, natürlichen Veranlagungen“ werden „gehemmt“, verkümmern; sie wird „unsicher“. Tilly mutiert zu einem „junge(n), vermögenslose(n) Mädchen“, das nicht wagt „zu widersprechen“. Dass sie es „aus eigener Kraft zu etwas gebracht“ hat; das, was sie „selbst künstlerisch erreicht hatte“ (9), gerät in Vergessenheit – sogar bei ihr selbst: „Alles, was ich bin und habe, ist nur von Dir. Allein bin ich gar nichts“ (10). Einzig im Spiel der Lulu bringt sie die „Dirne, die sich ihrer Minderwertigkeit ebenso bewusst ist wie ihres schließlichen Sieges über den intelligenten Mann, ganz glänzend zum Ausdruck“ (11). Ein Jahrzehnt lang bleibt die die Männer faszinierende und gleichzeitig mordende Frau, welche selbst an der Gewalt und körperlichen Destruktion der Liebe zugrunde geht, ihre Paraderolle. 1916 muss sie die Berliner Neuinszenierung mit der 23-jährigen russisch-ukrainischen Maria Orska vom Zuschauerraum aus miterleben. „Sie hat der Tilly Wedekind, die eine gute Lulu war, viel abgeguckt“, urteilt die Presse, „nun hat’s die Orska übertroffen, (…) und wir werden in Zukunft sie als Lulu denken müssen“ (12).
Onanie und Melancholie
Ihre Auftritte ausschließlich mit Wedekind-Stücken im Repertoire führen Frank und Tilly durch viele Städte Europas. Auf der Bühne agieren sie stets wie ein perfekt eingespieltes Paar; doch ihre Ehe ist schon lange am Ende. Beide fürchten sie, einander zu verlieren, leiden gleichzeitig an der Gegenwart des anderen. Der Schriftsteller, der sich nie binden, ein unabhängiges Leben jenseits familiärer Verpflichtungen führen wollte; daher Zeit, Raum und Distanz von ihr einfordert. Die Schauspielerin, die sich von ihm zurückgestoßen und in ihrem Selbstwertgefühl herabgesetzt fühlt; „(…) ich bin nichts mehr für Dich, nichts, und auch für mich nichts mehr“ (13). Immer wieder sucht sie die Schuld bei sich. „Vielleicht verdiente ich es, dass Du mir den Rücken kehrtest (…), dass ich an meinen Kindern gestraft würde“ (14). Beeinflusst durch die zeitgenössische Vorstellung über Onanie, treibt sie die angstbesetzte Fantasie regelrecht um – „Die Onanie hat mein Leben zerstört (…) meinen Geist und meinen Charakter getrübt.“ Sie quält sich mit Vorwürfen sexuellen Ungenügens, fühlt sich „geistig minderwertig“ (15) und klammert sich an ihn. „Ich werde in einem Strom von Empfindungen herumgeworfen und finde keinen Ausweg. (…) Hilf mir“ (16)! Doch Wedekind, im ewigen Kampf mit sich selbst und seiner sexuellen Obsession, gleichzeitig getrieben von den politischen und sozialen Verhältnissen der Zeit, kann ihr keinen Halt geben. Im Gegenteil, sein Misstrauen und seine Unberechenbarkeit bestärken Tilly in ihren Selbstvorwürfen. Als er 1914 erkrankt, gibt sie sich die Schuld, „an dem, was Du auszustehen hast“, will sich à la Lulu bestraft wissen; „dass man mir einen Stein um den Hals bindet und mich im Meer versenkt“ (17). Wedekind reicht die Scheidung ein.
In der Uraufführung seines Dramas „Schloss Wetterstein“ am 17. November 1917 bestreitet wie immer er selbst die männliche Hauptrolle; als weibliches Pendant an seiner Seite, die junge Österreicherin Elisabeth Bergner. – Der Pakt, der sie zusammenhielt, gebrochen; die künstlerische Partnerschaft aufgekündigt. „Geliebter, bitte, bitte, sei nicht ungerecht gegen mich …“ (18). 13 Tage später unternimmt Tilly einen Selbstmordversuch mit Sublima-Tabletten, die sie zum Auswaschen seiner postoperativen Wundverbände benutzt. Sie überlebt. Die Ärzte veranlassen ihre Überführung in eine Nervenheilanstalt, später in die Kurklinik Neu-Wittelsbach in München Neuhausen. Ihr Verdauungstrakt ist verätzt und sie leidet an toxischer Dermatitis. Elfeinhalb Wochen später wird sie entlassen; am 9. März 1918 stirbt Frank Wedekind.
Zurück zu den Wurzeln
Wedekinds Stücke werden in den kommenden Jahren an allen Bühnen rauf und runter gespielt. Tilly selbst wirkt an der Verfilmung von „König Nicolo“ in Babelsberg mit, im Berliner Volkstheater in „Bismarck“ und im Staatstheater bei „Herakles“. Am Münchner Schauspielhaus spielt sie in „Hidalla“ und „Schloss Wetterstein“ – und auch noch einmal die Lulu. Ihre 1906 geborene Tochter Pamela ist bereits in die mütterlichen Fußstapfen getreten, und auch die jüngere Tochter Kadidja, die sich zunächst der bildnerischen Kunst und Schriftstellerei widmet, kann sich der Bühnenatmosphäre nicht entziehen.
Mit der Titelrolle in Schillers „Maria Stuart“ am Münchner Schauspielhaus, anderen klassischen und auch modernen Rollen sowie Tourneen durch Deutschland, versucht Tilly, an ihre Erfolge vor und jenseits Wedekind anzuknüpfen. Die gemeinsame Münchner Wohnung in der Prinzregentenstraße ist Vergangenheit – ausgeräumt und verwaist Frank Wedekinds rotes Arbeitszimmer mit Podest, Laufkugel, Lauftrommel und Flügel, auf dem die Laute liegt; an der Wand das Lulu-Porträt Tillys, gemalt von Emil Holitzer für die „Pandora“-Aufführung in Wien im Mai 1905 (19). Sandra Krämer M. A.
Sandra.Kraemer@studium.uni-hamburg.de
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/pp/lit0420