

Auch in der Pandemie treten mit unveränderter Inzidenz Schlaganfälle und andere akute neurologische Erkrankungen auf und bestehen chronische neurologische Erkrankungen fort. Deren bestmögliche Versorgung darf nicht zum Kollateralschaden der Coronakrise werden.
In der aktuellen Pandemie-Situation werden im Gesundheitssystem Kapazitäten für die Behandlung von Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion geschaffen. Um höhere Intensiv- und Beatmungskapazitäten in den Kliniken zu erreichen, werden auch Stroke-Unit-Betten zu Beatmungsbetten umgewandelt und Rehaeinrichtungen in die Krankenhausbehandlung integriert. Eine SARS-CoV-2-bedingte Umstrukturierung der Krankenversorgung darf jedoch nicht dazu führen, dass durch eine Aufweichung der Therapiestandards Patienten mit neurologischen Erkrankungen zu Schaden kommen.
Schlaganfall
In besonderem Maße gilt dies für den Schlaganfall, eine Erkrankung mit häufig dramatischen Folgen und eine der Hauptursachen für bleibende Behinderung oder Tod. Bei allen notwendigen Umstrukturierungen muss deshalb auf eine weiterhin reibungslose und optimale Organisation der Versorgung von Schlaganfallpatienten geachtet werden. An vielen Orten europaweit und auch in Deutschland wird aktuell ein deutlicher Rückgang der stationär behandelten Schlaganfallpatienten in den dafür spezialisierten Stroke Units festgestellt.
Insbesondere scheint die Anzahl von Patienten mit TIA oder leichten Schlaganfällen abzunehmen. Wegen des hohen Risikos schwerer Schlaganfälle nach einer TIA oder einem „Minor Stroke“ muss die Öffentlichkeit auch in der aktuellen Situation darüber informiert werden, dass die Schlaganfallversorgung in deutschen Krankenhäusern auf den dafür spezialisierten Einheiten ohne Einschränkungen stattfindet und dass Patienten mit Schlaganfallsymptomen unverzüglich den Notruf wählen sollten, um in eine geeignete Klinik mit Stroke -Unit gebracht zu werden (1).
Jenseits der Notfallversorgung sind bei der Behandlung zerebrovaskulärer Erkrankungen Maßnahmen der Sekundärprävention und Rehabilitation entscheidend. Hierbei sind interdisziplinäre und sektorenübergreifende Videofallkonferenzen in der derzeitigen Situation auch ohne direkte Treffen hilfreich.
Von den gesetzlichen Krankenversicherungen werden derzeit zumindest in einigen Bundesländern Regularien getroffen, die es erlauben, weniger schwer betroffene Patienten unkompliziert in Rehabilitationseinrichtungen weiterzuverlegen, sobald es medizinisch indiziert ist. Das Verfahren der Anschlussrehabilitation wurde zu diesem Zweck befristet (zunächst bis zum 31. Mai 2020) auf ein Verfahren der Direkteinweisung durch die Krankenhäuser umgestellt (2). Dies sollte zumindest bis zum Ende der Krise fortgeschrieben werden.
Bewegungsstörungen
In Deutschland leben circa 400 000 Menschen mit einer Parkinson-Erkrankung. Die medizinische Versorgung der Betroffenen umfasst nicht nur die medikamentöse Therapie, sondern auch Begleittherapien wie Ergotherapie, Physiotherapie und Logopädie. Bei dem gebotenen „Social Distancing“ sollten Präsenztermine beim Arzt, sei es zur Kontrolle oder Beratung, so weit wie möglich ersatzweise telefonisch oder per Videosprechstunde abgehalten werden.
Digitale Techniken erlauben eine umfassende Versorgung der Parkinson-Patienten auch bezüglich der Begleittherapien. So können Bewegungs-, Stimm-, Sprech- und Sprachtherapien per Videosprechstunde durchgeführt werden. Auf diese Weise wird der Patientenverkehr in Kliniken und Praxen reduziert. Dies ist nicht zuletzt wichtig, um Patienten, bei denen ein Präsenztermin zur Abklärung von Akutsymptomen wie akinetischen Krisen, Depressionen oder Psychosen unumgänglich ist, bestmöglich zu schützen. Die notwendigen Einstellungen von Medikamentenpumpen oder Hirnstimulatoren erfolgen über Hausbesuche oder in den dafür spezialisierten Einrichtungen wie fachärztlichen Praxen oder Krankenhäusern (3).
Autoimmunerkrankungen
Patienten mit einer neurologischen Autoimmunerkrankung wie beispielsweise multiple Sklerose, Neuromyelitis-Optica-Spektrum-Erkrankungen, Vaskulitis oder Myasthenie sollen immunsuppressive oder immunmodulierende Medikamente nicht absetzen. Dies gilt auch für Substanzen wie Fingolimod oder Siponimod, welche prinzipiell die Anfälligkeit für Lungenerkrankungen erhöhen.
Einen konkreten Hinweis dafür, dass die Immuntherapie das Risiko erhöht, sich mit SARS-CoV-2 anzustecken oder an COVID-19 zu erkranken, gibt es derzeit nicht. Allerdings sollten Patienten, die eine Immuntherapie erhalten, unbedingt die allgemeinen Verhaltensregeln und Hygieneempfehlungen des Robert Koch-Instituts strengstens befolgen und ihre sozialen Kontakte auf ein Minimum reduzieren (4).
Hirntumoren
In neurologischen Kliniken werden deutschlandweit elektive stationäre neurologische Aufnahmen und Therapien zurückgestellt, sofern dies vertretbar ist. Dies gilt explizit nicht für Behandlungen, die bei Tumorerkrankungen erforderlich sind, um die Heilungschancen nicht zu gefährden. Insofern haben Patienten mit Gehirntumoren auch weiterhin uneingeschränkt Zugang zur medizinisch notwendigen Versorgung mit Strahlentherapie und Chemotherapie und sollten diesen auch wahrnehmen.
Unter Umständen kommt es zu
einem erhöhten Risiko, schwer an COVID-19 zu erkranken, wenn unter einer laufenden Chemotherapie ein Abfall von Leukozyten und Lymphozyten vorliegt, oder wenn bei längerfristiger Gabe von Dexamethason ein iatrogener Diabetes mellitus resultiert. Die erforderliche Diagnostik im Rahmen der Tumornachsorge, zum Beispiel die regelmäßige bildgebende Diagnostik nach abgeschlossener Therapie, soll durch die Corona-Pandemie nicht eingeschränkt werden. Unter den bestehenden verschärften Hygienemaßnahmen wird dazugeraten, diese Kontrollen in den empfohlenen Intervallen fortzusetzen. Persönliche Arztkontakte können dabei häufig durch Telefonate oder telemedizinische Kontakte ersetzt werden.
Patienten mit typischen Komplikationen einer Hirntumorerkrankung, zum Beispiel mit epileptischen Anfällen, Hirndrucksteigerung und anderen akut stationär therapiebedürftigen Komplikationen, haben weiterhin uneingeschränkt Zugang zur stationären neurologischen Versorgung. Bei den meisten Tumorpatienten steht der Nutzen einer geplanten Krebstherapie über dem Risiko einer möglichen Infektion mit SARS-CoV-2 (5).
Neuromuskuläre Erkrankungen
Eine SARS-CoV-2-Infektion kann für Patienten mit einer neuromuskulären Erkrankung eine vitale Bedrohung darstellen. Daher müssen ambulante Termine und eine Erregerübertragung im Rahmen der häuslichen Betreuung vermieden werden. Patienten sollten eine ausreichende Menge an Medikamenten und Hilfsmitteln (speziell auch für die Heimbeatmung) für die Quarantänephase (zumindest für einen Monat) zu Hause vorhalten. Patienten und Pflegende sollten mit Notfallmaßnahmen vertraut sein.
Patienten mit Duchenne-Muskeldystrophie unter Kortisontherapie sollten ihre Medikation fortsetzen. Auch eine Immunsuppression bei Myositis, Myasthenia gravis, und Polyneuropathien sollte nicht unterbrochen werden. Auch die Intervalle sonstiger spezifischer Behandlungen (z. B. Gabe von Nusinersen, Alglucosidase alfa, IVIG und Rituximab) sollten keinesfalls ohne Rücksprache mit den behandelnden Zentren geändert werden.
Zur Aufrechterhaltung einer Heimbeatmung bei Quarantäne sollten die Notfalltelefonnummer und -E-Mail des zuständigen Zentrums sowie ein aktueller Arztbrief vorliegen. Nach Möglichkeit sollten beatmete Patienten von ihrem neuromuskulären Zentrum aktiv kontaktiert werden, um konkrete Hilfestellungen zu erhalten (6).
Betreuung bei COVID-19
Erste Daten der aktuellen Pandemie zeigen, dass neurologische Manifestationen wie Anosmie, Ageusie, Kopfschmerzen und Fatigue frühe Symptome der SARS-CoV-2-Infektion sein können. Besonders gravierend ist die Beobachtung, dass Coronaviren generell (bewiesen für SARS-CoV, MERS-CoV) neuroinvasiv sind und insbesondere eine Hirnstammschädigung verursachen können, die möglicherweise zu fatalen respiratorischen Verläufen führt oder zumindest beiträgt (7).
Bei vielen intensiv- und beatmungspflichtigen Patienten mit COVID-19 ist nach primärer intensivmedizinischer Stabilisierung von
einem neurologischen Frührehabilitationsbedarf auszugehen. Hierzu
gehören ein prolongiertes Weaning ebenso wie die Beherrschung schwerer Funktionsdefizite; diese Patienten können von einer Betreuung in neurologischen Frührehabilitationseinrichtungen profitieren.
Prof. Dr. med. Peter Berlit
Generalsekretär Deutsche Gesellschaft
für Neurologie (DGN)
Prof. Dr. med. Gereon R. Fink
Klinik und Poliklinik für Neurologie,
Universitätsklinikum Köln, Past-Präsident DGN
Prof. Dr. med. Christian Gerloff
Klinik und Poliklinik für Neurologie,
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Stellvertretender Präsident DGN
Prof. Dr. med. Christine Klein
Sektion Klinische und Molekulare Neurogenetik, Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Lübeck
Präsidentin DGN
Interessenkonflikt: Prof. Berlit, Prof. Fink und Prof. Gerloff geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen. Prof. Klein ist Mitglied der Wissenschaftskommission der Else Kröner Fresenius Stiftung. Der Artikel unterliegt nicht dem Peer-Review-Verfahren.
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit1920
oder über QR-Code.
1. | Zhao J, Rudd A, Liu R: Challenges and Potential Solutions of Stroke Care During the Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) Outbreak. Stroke 2020; 51: 1356–7 CrossRef MEDLINE |
2. | Rundschreiben des GKV-Spitzenverbandes 2020/196 vom 24. März 2020. |
3. | Deutsche Gesellschaft für Parkinson und Bewegungsstörungen (DPG): Gut durch die Coronakrise: Informationen für Parkinson-Patienten und ihre Angehörigen; https://www.parkinson-gesellschaft.de/corona. |
4. | Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN): Immuntherapien bei neuroimmunologischen Erkrankungen vor dem Hintergrund der SARS-CoV-2-Pandemie; https://www.dgn.org/neuronews/71-neuronews-2020/3890-immuntherapien-bei-neuroimmunologischen-erkrankungen-vor-dem-hintergrund-der-sars-cov-2-pandemie. |
5. | von Lilienfeld-Toal M, Greinix H, Hirsch HH, et al.: Coronavirus-Infektion (COVID-19) bei Patienten mit Blut- und Krebserkrankungen; https://www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/coronavirus-infektion-covid-19-bei-patienten-mit-blut-und-krebserkrankungen/@@guideline/html/index.html. |
6. | The Neuromuscular Disease Network for Canada (NMD4C): COVID-19 and Neuromuscular Patients; https://neuromuscularnetwork.ca/news/covid-19-and-neuromuscular-patients-la-covid-19-et-les-patients-neuromusculaires/ |
7. | Li YC, Bai WZ, Hashikawa T: The neuroinvasive potential of SARS-CoV2 may play a role in the respiratory failure of COVID-19 patients. J Med Virol 2020; 92 (6): 552-5 CrossRef MEDLINE |