THEMEN DER ZEIT
Psychotherapie während der Coronapandemie: Selbstfürsorge und Reflexion


Die Erfordernis, Psychotherapie vermehrt per Fernbehandlung durchzuführen, trifft viele Psychotherapeuten völlig unverhofft. Dadurch stehen sie nicht nur vor technischen, sondern auch vor persönlichen und beruflichen Herausforderungen. Mögliche Vorbehalte sollten aufgegeben werden.
Seit Januar 2020 verbreitet sich die Covid-19-Pandemie von China ausgehend in der ganzen Welt. Der Coronavirus ist unter anderem deshalb so tückisch und gefährlich, weil er hoch ansteckend ist und eine Infektion damit tödlich verlaufen kann. Um seine Verbreitung zu verlangsamen, ist eine weitreichende soziale Distanzierung über einen längeren Zeitraum hinweg notwendig. Das gilt auch für den psychotherapeutischen Bereich. Da Psychotherapiesitzungen in der Regel von Angesicht zu Angesicht stattfinden, ist das Risiko hoch, dass sich die Beteiligten gegenseitig infizieren. Um das Ansteckungsrisiko zu reduzieren und die psychotherapeutische Versorgung weiterhin zu gewährleisten, empfehlen beispielsweise die Kassenärztliche Bundesvereinigung oder Berufs- und Fachverbände Psychotherapeuten, während der Coronavirus-Pandemie vermehrt Fernbehandlungen durchzuführen, beispielsweise per Telefon oder Video.
Sonderregelungen in der Krise
Entsprechende Sonderregelungen sehen unter anderem vor, dass Sitzungen per Telefon nur mit den Psychotherapeuten bereits bekannten Patienten durchgeführt werden dürfen, während per Video sowohl Einzeltherapiesitzungen und psychotherapeutische Sprechstunden als auch probatorische Sitzungen mit neuen Patienten möglich sind. Das bedeutet, dass eine Psychotherapie in Einzelfällen auch ohne persönlichen Kontakt zwischen Therapeut und Patient begonnen werden kann. Darüber hinaus ist es möglich, Gruppentherapien in Einzeltherapien umzuwandeln.
Die Erfordernis, Psychotherapie vermehrt per Fernbehandlung durchzuführen, trifft viele Psychotherapeuten in Deutschland völlig unverhofft. Denn hierzulande ist Telepsychotherapie – anders als zum Beispiel in abgelegenen Gebieten Aus-traliens – bislang nicht etabliert oder dringlich gewesen. Nun aber muss diesbezüglich alles sehr schnell gehen, auch ohne dass Psychotherapeuten darauf vorbereitet oder dafür ausgebildet sind.
Dadurch stehen viele Psychotherapeuten nicht nur vor zahlreichen technischen, sondern auch vor persönlichen und beruflichen Herausforderungen. Dies geht unter anderem aus Interviews hervor, die der New Yorker Journalist Taylor Trudon aktuell mit sieben Psychotherapeuten geführt hat. Für diese Therapeuten ist es neu und ungewohnt, dass sie aufgrund der Coronapandemie die gleichen Probleme wie ihre Patientinnen und Patienten haben. Sie leiden ebenso wie sie unter Ängsten, Verunsicherung und sozialer Isolation und werden oft von negativen Emotionen überwältigt. Sie sind in ihren Freiheiten eingeschränkt und müssen Verluste und Nachteile wie etwa finanzielle Einbußen verkraften. Sie sorgen sich um ältere oder erkrankte Familienmitglieder und Angehörige in systemrelevanten Berufen und müssen ihre Kinder, die nicht mehr zur Schule gehen können, zu Hause betreuen. Außerdem müssen sie ihre Arbeit im Homeoffice erledigen, was ungewohnt und nicht mit der Arbeit in den Behandlungsräumen zu vergleichen ist. Hinzu kommen täglich erschütternde Schreckensmeldungen zu den vielen negativen Auswirkungen der Pandemie und aufwühlende Bilder von Leidenden und Toten.
Im Hinblick auf psychische Erkrankungen ist die gegenwärtige Situation nach Meinung der Befragten desaströs. Zum einen erkranken sehr viele Menschen neu infolge von Stress, Todesangst, Deprivation und Traumatisierungen an Depressionen, Angststörungen und anderen Störungen, zum anderen werden bestehende psychische Erkrankungen verstärkt. Außerdem entwickeln sich zahlreiche weitere Probleme wie etwa Partnerschaftskonflikte, Arbeitslosigkeit, Verarmung, Bewegungsmangel oder häusliche Gewalt. Daher sehen die Psychotherapeuten eine Pandemie an psychischen Erkrankungen auf die Welt zukommen.
Den erforderlichen Fernbehandlungen stehen die Psychotherapeuten mit gemischten Gefühlen gegenüber. Sie sehen zwar ein, dass Behandlungen per Telefon und Video momentan die sicherste Lösung für alle Beteiligten sind. Darüber hinaus empfinden sie Fernbehandlungen als Schutz für sich selbst, da sie nicht kontrollieren können, ob sich alle Patienten an die Hygienevorschriften halten. Allerdings irritiert es sie, nicht mit ihren Patienten in einem Raum sein zu können und auf wichtige Informationen, die Mimik und Gestik der Patienten vermitteln, verzichten zu müssen. Das macht die Arbeit für sie schwieriger und anstrengender.
Es ist für die Psychotherapeuten äußerst schwierig, die Privatsphäre der Patienten zu schützen, denn die meisten Patienten nehmen an den Therapiesitzungen von zu Hause aus teil. Vielen Patienten ist es nicht möglich, sich für die Sitzungen in einen abgeschiedenen Raum zurückziehen, und sie müssen es hinnehmen, dass ihre Partner oder Kinder zuhören oder sie unterbrechen. Auf diese Weise können sich die Patienten nicht so öffnen wie in einem Behandlungsraum.
Auch die technischen Voraussetzungen erweisen sich oft als Hürden. Besonders wenn Therapeuten oder Patienten nicht versiert darin sind, internetgestützte Kommunikationssysteme zu nutzen, wenn der Gesprächspartner am Telefon kaum zu hören ist oder wenn die Internetverbindung schwach ist und immer wieder ausfällt, verlaufen die therapeutischen Gespräche nur stockend. In diesen Fällen hat die Technik eher ablenkende und störende als hilfreiche Aspekte.
Psychische Belastung für alle
Laut den Psychotherapeuten dreht sich momentan jedes therapeutische Gespräch um die Coronapandemie. Viele Patienten haben deshalb große Angst. Sie sorgen sich um ihre Gesundheit und die ihrer Familien, können ihr gewohntes Leben nicht mehr führen und geraten zunehmend in finanzielle Nöte. Vor allem die Alleinstehenden fühlen sich hilflos und isoliert. Auch den Therapeuten fällt es schwer, gegenüber den Patienten hoffnungsvoll und ruhig zu bleiben. Dennoch fühlen sie sich dazu verpflichtet, für ihre Patienten da zu sein und zu helfen.
Psychotherapie in neuen Formen und unter psychischer Belastung auszuüben, kostet viel Kraft. Um die Zeit der Coronapandemie körperlich und mental weitgehend unbeschadet zu überstehen, sollten Psychotherapeuten mehr als sonst auf Selbstfürsorge bedacht sein. Die American Psychological Association empfiehlt hierfür unter anderem Folgendes:
- Schaffen Sie klare Strukturen und etablieren Sie Routinen in Ihrem Berufs- und Privatleben. Sie vermitteln Ihnen Halt und ein Stück Normalität in unnormalen Zeiten.
- Bewegen Sie sich. Selbst kleine Bewegungseinheiten helfen Ihnen, Stress abzubauen und gesund zu bleiben. Es gibt zum Beispiel im Internet viele Anregungen, wie Sie in den eigenen vier Wänden fit bleiben können.
- Bleiben Sie in Verbindung. Halten Sie Kontakt zu Kollegen, Freunden und Familienmitgliedern so gut es geht, um der sozialen Isolation die Stirn zu bieten.
- Legen Sie kleine Pausen ein. Mit einem guten Buch, einem Film oder ein paar Atem- und Achtsamkeitsübungen können Sie schnell wieder Kraft tanken.
- Begrenzen Sie das Lesen von Nachrichten auf wenige Minuten am Tag. Verzichten Sie bewusst darauf, ständig die neuesten Meldung zu verfolgen, um sich nicht unnötig zu belasten.
- Entspannen Sie sich. Führen Sie Meditation, Atem- und Entspannungsübungen durch oder genießen Sie die Natur, die Kunst und die Musik, um ruhiger zu werden.
- Seien Sie flexibel. In einer Ausnahmesituation wie der Coronavirus-Pandemie ist es wichtig, sich schnell anzupassen und manchmal ungewöhnliche Wege einzuschlagen.
Daneben können Psychotherapeuten ihre Resilienz verbessern. Laut den amerikanischen Psychologen Jian-Ming Hou und Thomas Skovholt von der University of Minnesota (USA) trägt zum Beispiel das Bestreben, dazuzulernen und sich weiterzuentwickeln, dazu bei, innerlich widerstandsfähiger zu werden. Darüber hinaus fördert es die Resilienz, mit anderen vernetzt zu sein und sich mit ihnen verbunden zu fühlen, für einen Ausgleich zur Arbeit zu sorgen, auf ein stimmiges Arbeitsumfeld zu achten, sich selbst zu kennen und gut mit sich umzugehen. Auch seine äußeren und inneren Ressourcen einzusetzen, gemäß seiner persönlichen und beruflichen Werte zu leben und die Hoffnung zu hegen, das alles wieder besser wird, helfen dabei, über schwere Zeiten hinwegzukommen.
Die Coronapandemie kann nach Meinung des Psychologen und Karriereberaters PhD Marty Nemko aus Oakland (USA) auch zum Anlass genommen werden, innezuhalten und sich Gedanken über die berufliche Zukunft zu machen. Er empfiehlt Psychotherapeuten, zunächst die aktuelle berufliche Situation zu betrachten und sich zu fragen, ob die eigene Arbeitsbelastung zu hoch ist und ob sie Grenzen setzen können. Außerdem sollte auf den Prüfstand kommen, ob sie genug auf den Ausgleich zwischen Arbeit und Privatleben achten und ausreichend dafür sorgen, ihre Arbeitskraft und Gesundheit zu erhalten, indem sie zum Beispiel viel schlafen und sich regelmäßig bewegen. Anschließend geht es um die zukünftige berufliche Ausrichtung. Dabei können ganz verschiedene Möglichkeiten gedanklich durchgespielt werden wie zum Beispiel eine berufliche Spezialisierung anzustreben, das therapeutische Angebot zu erweitern oder in einem Berufsverband aktiv zu werden. Weitere Optionen wären beispielsweise, sich einem Team anzuschließen, den Ort zu wechseln, etwas Neues zu lernen, eine zukunftsfähige Nische auszubauen, eine andere Tätigkeit innerhalb des Berufsfeldes auszuüben oder gar den Beruf zu wechseln. Lemko rät Therapeuten, in sich hineinzuhorchen und herauszufinden, ob sie eine innere oder äußere Veränderung brauchen, oder vielleicht sogar beides.
Pandemie kann lange dauern
Auch wenn sich momentan kaum jemand ernsthaft damit befassen möchte, ist nicht auszuschließen, dass die Coronapandemie noch lange andauert und Psychotherapie unter den momentan erforderlichen Bedingungen durchgeführt werden muss. Psychotherapeuten sollten sich daher mit der Frage beschäftigen, wie sich ihre Tätigkeit und ihr Berufsfeld verändern, wenn Fernbehandlungen per Video und Telefon nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel werden.
Nach Ansicht des Paartherapeuten PhD Joe Kort aus Royal Oak (USA) sollten Psychotherapeuten ihre Einstellung zu Fernbehandlungen prüfen und den Umständen anpassen. Er berichtet, dass Telepsychotherapie unter Therapeuten als nicht ebenbürtig zur Face-to-Face-Therapie angesehen wird. Allerdings zwingt die Coronapandemie dazu, diese Haltung zu revidieren, Widerstände und Vorbehalte aufzugeben und sich die Vorteile vor Augen zu führen. Dazu zählt zum Beispiel, dass im Prinzip alle Patienten fernbehandelt werden können, weil wahrscheinlich jeder Patient zumindest über ein Telefon verfügt. Außerdem sind Fernbehandlungen für die meisten Patienten bequemer und besser zu organisieren, weil sie keine langen Wege zur Praxis zurücklegen müssen, sondern zu Hause bleiben können. Das spart nicht nur Zeit und Geld, sondern senkt zudem die Abbruchquote. „Auch Therapeuten können viele Fahrten einsparen, indem sie sich per Videokonferenz zu Besprechungen, Supervisionen und Fortbildungen treffen“, meint Kort. Fernbehandlungen ermöglichen Personen Zugang zur psychotherapeutischen Versorgung, die in abgelegenen Gebieten wohnen und nicht mobil sind. Darüber hinaus ist die Hemmschwelle, sich bei psychischen Problemen Hilfe per Telefon oder Videochat zu suchen, niedriger als über eine persönliche Konsultation, sodass auch Personen, die aus Angst oder Scham normalerweise nicht vorstellig würden, behandelt werden können. Außerdem können sich Therapeuten und Patienten schneller und unkomplizierter erreichen, etwa um Fragen zu klären oder sich kurzfristig über Termine abzustimmen.
Dennoch werden einige Therapeuten vor allem die Nachteile von Fernbehandlungen sehen und bezweifeln, dass per Video oder Telefon eine tragfähige therapeutische Beziehung und eine vertrauensvolle, geschützte Atmosphäre hergestellt werden können. Sie fragen sich zudem, wie Gruppentherapie durchgeführt oder Therapieerfolge ohne direkten Patientenkontakt ermittelt werden sollen. Solche Bedenken dürfen nicht ignoriert werden. Allerdings sollte sie nicht dazu führen, Fernbehandlungen schlechtzureden oder gänzlich zu meiden, sondern sollten dazu anregen, sich mit bereits bestehenden Lösungen zu beschäftigen sowie baldmöglichst Alternativen zu finden, die alle Beteiligten zufriedenstellen und denselben therapeutischen Nutzen wie herkömmliche Settings und Methoden haben. Daher sollten Therapeuten bereit sein, sich den ungewohnten Herausforderungen zu stellen. Sie sollten sich laut Kort vorbehaltlos für Neues öffnen und ausprobieren, wie man am besten miteinander in Kontakt treten und kommunizieren kann. Sie sollten verschiedene Dinge ausprobieren, kreativ sein, improvisieren und lernen, die nötigen Technologien so gut wie möglich zu beherrschen. Zusätzlich können sie auf die Erfahrungen von Psychotherapeuten und Medizinern zurückgreifen, die bereits seit einigen Jahren Telepsychotherapie und -medizin in abgelegenen Gegenden Australiens oder anderer Länder praktizieren.
Geduldig mit sich und anderen
Es wird sicherlich nicht einfach für viele Therapeuten werden, sich mit den aktuellen Erfordernissen zu arrangieren und die Nachteile von Fernbehandlungen zu tolerieren. Auch wird es eine geraume Zeit dauern, bis ein gleichwertiger Ersatz für bestimmte Settings und einzelne Methoden gefunden wird, die während der Corona-Pandemie oder auch danach nur eingeschränkt, stark modifiziert oder überhaupt nicht mehr durchführbar sind. Daher sollten Psychotherapeuten geduldig mit sich und anderen sein, trotz mancher Schwierigkeiten nicht aufgeben und ihren Teil dazu beitragen, dass das, was heute neu und ungewohnt, aber dringend notwendig ist, in Zukunft selbstverständlich sein wird. Marion Sonnenmoser
30. March 2020.