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Psychoanalyse und Gesellschaftskritik: Schwächelnde Kritik am Kapitalismus


Es ist verdienstvoll, dass sich Psychologen auch mit gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzen und sich in Gesellschaftskritik versuchen. Die hier gesammelten Beiträge wurden auf einem Kongress, der unter dem Marcuse-Motto „Die Paralyse der Kritik: eine Gesellschaft ohne Opposition“ stand, im März 2018 in Berlin vorgetragen. Der Kongress wurde ausgerichtet von der Neuen Gesellschaft für Psychologie.
Damit wurde psychologiehistorisch angeknüpft an die Gesellschaftskritik Sigmund Freuds, dessen Religionskritik und Analyse des „Unbehagens in der Kultur“ legendär sind. Mit Freud und Alfred Adler wurde im Zuge der westdeutschen 1968er-Bewegung immer wieder einmal gefragt, ob man Gesellschaften in toto auf die analytische Couch legen und von ihren Neurosen heilen könne. Freilich ist kein Verfahren bekannt, wie über psychoanalytische Deutungen in großen Bevölkerungsgruppen emanzipatorische Einsicht erzeugt werden könnte.
Die 31 Beiträge dieses Sammelbandes gruppieren sich in acht Blöcken und beschäftigen sich mit Subversion, Befreiung, Herrschaft, klassenloser Gesellschaft, Gewalt, Toleranz, digitalen Medien und Psychoanalyse. Die Autoren stammen aus einem linken, kapitalismuskritischen Milieu. Sie stellen mit Erstaunen fest, dass ihre Kritik am Kapitalismus, der ihrer Ansicht nach im Gewande des Neoliberalismus die Demokratien unterwandert, nicht mehr die einzig mögliche fundamentale Oppositionshaltung ist. Eine grundsätzliche Kritik an der Demokratie werde zunehmend von einer konservativen und rechten politischen Warte aus übernommen.
Der Mensch erscheint in den Aufsätzen als Opfer einer finsteren kapitalistischen Macht und von manipulierenden Eliten. Wie daraus ein selbstbefreites Subjekt entstehen soll, bleibt schleierhaft. Bedenklich ist die Attitüde, „den Kapitalismus“ umstandslos mit „dem Faschismus“ zu verknüpfen. Die Psychoanalytikerin Irmgard Heise kann sich Patienten nur als Unterdrückte vorstellen. Die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit ist für sie kein Wert.
Die Schwäche der marxistisch-leninistischen Fundamentalkritik am Kapitalismus sehen die Autoren nicht im Zusammenbruch dieser Ideologie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, sondern in einem großen Verblendungszusammenhang und einer neoliberalen Unterdrückungsverschwörung. Seltsamerweise gebiert dieser angeblich hegemoniale Kapitalismus eine unübersehbare Fülle von oppositionellen Bewegungen und Projekten, von Occupy über Fairtrade bis zur ökologischen Landwirtschaft. Obwohl es diese bunte Opposition nach den Gesetzen des Kapitalismus (wie sie sich die Autoren vorstellen) nicht geben dürfte, erhoffen sich die Autoren von ihr eine antikapitalistische Gegenöffentlichkeit. Was fehle, sei ihr schlagkräftiger Zusammenschluss. Einige Autoren wollen nichts weniger, als das gesamte „System“ zum Einsturz zu bringen, und dies unter den Schlagworten von Solidarität, Kooperation, Gemeinsinn und „Wiederaneignung des Lebens“. Gerald Mackenthun
Klaus-Jürgen Bruder, Christoph Bialluch, Bernd Leuterer, Jürgen Günther (Hrsg.): Paralyse der Kritik – Gesellschaft ohne Opposition? Psychosozial Verlag, Gießen 2019, 392 Seiten, kartoniert, 29,90 Euro