ArchivDeutsches Ärzteblatt20/2020Medizinischer Kinderschutz: Abklärung unter einem Dach

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Medizinischer Kinderschutz: Abklärung unter einem Dach

Winter, Sibylle Maria

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Medizinische Kinderschutzambulanzen sind ein Bindeglied zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und der Medizin. Sie verbessern die Versorgung von Kindern und Jugendlichen nach körperlicher oder sexualisierter Gewalt. Das ergab die Evaluation eines Berliner Modellprojekts.

Körperliche und sexuelle Gewalt gegen Kinder ist allgegenwärtig. Foto: zdravinjo/iStock
Körperliche und sexuelle Gewalt gegen Kinder ist allgegenwärtig. Foto: zdravinjo/iStock

Die Aufgaben des Medizinischen Kinderschutzes umfassen neben der Prävention, Früherkennung, Diagnostik und Intervention in Fällen von körperlicher, emotionaler oder sexualisierter Gewalt sowie Vernachlässigung auch die Qualitätssicherung, Intervision und Fortbildung. Im stationären Bereich leisten diese Arbeit interdisziplinäre Kinderschutzgruppen (1), im ambulanten Bereich gibt es bisher nur vereinzelt Medizinische Kinderschutzambulanzen.

In Berlin konnten zu Beginn 2016 fünf regionale Medizinische Kinderschutzambulanzen (Vivantes Klinikum Neukölln, DRK Kliniken Berlin Westend, Helios Klinikum Berlin-Buch, St. Joseph Krankenhaus, Charité – Universitätsmedizin Berlin) als Modellprojekt eröffnet werden (2). Das Modellprojekt wird von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung sowie der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz gemeinsam finanziert. Dieser einmalige Zusammenschluss dreier Senatsverwaltungen ermöglicht die Erweiterung des Berliner Netzwerkes Kinderschutz um medizinische Expertise (Berliner Gesetz zum Schutz und Wohl des Kindes, 2009), die insbesondere den Berliner Jugendämtern zugutekommt. Als spezialisierte Anlaufstelle ist die Aufgabe dieser Kinderschutzambulanzen (KSA) die ambulante interdisziplinäre medizinische Abklärung von Kindeswohlgefährdung bei Verdachtsfällen körperlicher, emotionaler oder sexualisierter Gewalt sowie Vernachlässigung unter der Berücksichtigung der S3-Leitlinie zum Kinderschutz (3).

Für die Evaluation der KSA wurde von Camino, Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH (4), ein multimethodischer Ansatz unter Nutzung unterschiedlicher quantitativer und qualitativer Methoden angewendet. Ziel der vorliegenden Evaluation war zum einen eine ausführliche deskriptive Darstellung der Stichprobe, der Zuweiser und Indikationen der fünf regionalen KSA in Berlin. Darüber hinaus sollte folgenden Fragestellungen nachgegangen werden: Wie hoch ist die Zufriedenheit der Zuweiser? Welche Fachdisziplinen sind mit wie viel Zeitaufwand zur Beurteilung von Kindeswohlgefährdung beteiligt? Wie wurden die vorgestellten Fälle hinsichtlich einer Kindeswohlgefährdung beurteilt?

Im Rahmen der quantitativen Datenerfassung übermittelten die Berliner KSA Monitoringdaten des ersten Quartals 2016 bis zum zweiten Quartal 2018 (n = 1 000) an die Landesregierung, die deskriptiv ausgewertet wurden. Die Daten beinhalteten soziodemografische Daten, Zuweiser und Indikationen sowie die zur Abklärung notwendigen Fachdisziplinen und deren jeweiliger Zeitaufwand. Es wurde auch dokumentiert, inwieweit eine Kindeswohlgefährdung bestätigt, nicht bestätigt oder nicht ausgeschlossen werden konnte.

Zuwachs an Konsultationen

Die Kinderschutzambulanzen verzeichneten einen stetigen Zuwachs an Konsultationen im Untersuchungszeitraum: Vom ersten Quartal 2016 bis zum zweiten Quartal 2018 erhöhten sich die Fallzahlen in den fünf KSA auf bis zu 163 Fälle pro Quartal. Bei den vorgestellten Kindern handelte es sich mit 55 Prozent der vorgestellten Fälle um Mädchen (n = 546). Ebenfalls in 55 Prozent der Fälle liegt das Alter der Kinder zwischen 0 bis 6 Jahren (n = 552).

Die Zuweisung zu den KSA erfolgte bei 55 Prozent (n = 536) der Verdachtsfälle durch das Jugendamt. Die Kinderkliniken und niedergelassenen Ärzte und Ärztinnen veranlassten zusammen 36 Prozent (n = 351) der Zuweisungen. Die restlichen Zuweiser (9 Prozent; n = 88) waren unter anderem freie Jugendhilfe-Träger und der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst. Die Indikationen umfassten in knapp der Hälfte der Fälle körperliche Gewalt, gefolgt von sexualisierter Gewalt, emotionaler Gewalt, emotionaler und körperlicher Vernachlässigung.

Zuweiser sehr zufrieden

Die quantitative Auswertung des Fragebogens für die Mitarbeiter der Jugendämter (n = 38) ergab als ausschlaggebende Gründe für die Empfehlung einer regionalen KSA vor allem die räumliche Nähe (n = 28), die guten Erfahrungen in der Zusammenarbeit (n = 25) sowie die fachliche Kompetenz (n = 23). Insgesamt ergab sich eine Zufriedenheit mit der Kooperation von 86,3 Prozent („zufrieden“, „sehr zufrieden“). Die qualitativen Interviews sahen folgenden Mehrwert der KSA: die räumliche Bündelung von Kompetenz, interdisziplinäre Netzwerkarbeit, Rechtssicherheit der Befunde und hilfreicher Informationszuwachs selbst in Fällen, in denen eine Kindeswohlgefährdung weder sicher bestätigt noch ausgeschlossen werden konnte.

An den interdisziplinären Abklärungen waren zu größten Teilen die Fachbereiche Pädiatrie (63,4 Prozent) sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie (61,2 Prozent) beteiligt; gefolgt von Kinderchirurgie (21,3 Prozent), Rechtsmedizin (9,9 Prozent) und sonstigen Bereichen. Von allen dokumentierten Fällen (n = 960) war bei 82,1 Prozent (n = 788) der Fälle mehr als eine Fachdisziplin zur Abklärung notwendig. Der durchschnittliche Zeitaufwand zur Abklärung betrug 4 Stunden, wobei der Aufwand bei Verdacht auf körperliche Gewalt 3,1 Stunden, bei körperlicher Vernachlässigung 3,3 Stunden, bei emotionaler Gewalt 3,7 Stunden, bei emotionaler Vernachlässigung 3,8 Stunden umfasste. Der durchschnittliche Zeitaufwand bei Verdachtsfällen von sexualisierter Gewalt war fast doppelt so hoch und erforderte 6,3 Stunden.

Der Anteil bestätigter Kindeswohlgefährdungen (KWG) lag bei 41,6 Prozent der Fälle. Ein Ausschluss einer KWG war in 22,7 Prozent möglich, 35,6 Prozent der Fälle konnten mit den Mitteln der KSA nicht abschließend auf Vorliegen einer KWG geklärt werden.

Verdachtsfälle von sexualisierter Gewalt stellen die KSA vor besondere Herausforderungen. Bei jedem Fall ist die entscheidende Frage, ob relevante Anhalte dafür vorliegen, dass die vorwurfsbezogenen Angaben erlebnisfundiert sind, und insofern Schutzmaßnahmen sowie eventuell strafrechtliche Maßnahmen eingeleitet werden müssen. Die KSA der Charité mit einer besonders hohen Anzahl an Verdachtsfällen von sexualisierter Gewalt hat durch den zusätzlichen Einbezug vertiefter aussagepsychologischer Expertise bei aussagewilligen und -fähigen Kindern und Jugendlichen zeigen können, dass die aussagepsychologische Einschätzung durch Rechtspsychologen einen wichtigen Beitrag für die Abklärung von Kindeswohlgefährdung leisten kann. Somit konnte bei circa zwei Dritteln der 960 vorgestellten Kinder und Jugendlichen eine medizinisch begründete verbindliche Aussage zum Vorliegen oder zum Ausschluss einer Kindesmisshandlung getroffen werden.

Psychische Auffälligkeiten hoch

Die KSA der Charité hat zusätzlich bei der Mehrheit der Fälle psychische Auffälligkeiten identifiziert. Aufgrund dieser hohen Prävalenz sollte die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie maßgeblich bei der interdisziplinären Diagnostik beteiligt werden. Neben der Dokumentation des Behandlungsbedarfs sowie der Initiierung der Behandlung ist dies vor allem auch deshalb von großer Bedeutung, da die Ansprüche an Versorgungsleistungen über das Landesamt für Gesundheit und Soziales an die Dokumentation von psychischen Auffälligkeiten geknüpft sind und im strafrechtlichen Verfahren neben den körperlichen auch die psychischen Folgeschäden in das Strafmaß miteinbezogen werden.

Die KSA füllen verschiedenste Lücken im System Kinderschutz und sind ein hervorragendes Bindeglied zwischen den Systemen der Kinder- und Jugendhilfe und der Medizin. Somit tragen sie zu einer Verbesserung der Versorgung der Kinder und Jugendlichen nach körperlicher, emotionaler oder sexualisierter Gewalt sowie Vernachlässigung bei. Es besteht die Möglichkeit einer umfassenden interdisziplinären Abklärung „unter einem Dach“, sowie die Vermittlung von Handlungssicherheit durch zeitnahe Rückmeldungen an die Jugendämter. Der Lückenschluss im Kinderschutz und die sehr positive Beurteilung sprechen für eine deutschlandweite Ausweitung des Modellprojektes.

Sicherung der Finanzierung

Die Finanzierung des Kinderschutzes in Deutschland ist bisher nur unzureichend gesichert. Da derzeit bundesweit sowohl im stationären, als auch im ambulanten Kontext die Finanzierung des Medizinischen Kinderschutzes Gegenstand zahlreicher Verhandlungen mit Kostenträgern ist, stellen die vorliegenden Erkenntnisse eine fundierte Grundlage für die Kostenberechnung dar, um dauerhafte Strukturen in der deutschen Versorgungssituation für betroffene Kinder zu schaffen.

Prof. Dr. med. Sibylle Maria Winter,

Leiterin der Kinderschutz- und Traumaambulanz sowie der interdisziplinären Kinderschutzgruppe, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Campus Virchow, Charité – Universitätsmedizin, Berlin.

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit2020
oder über QR-Code.

1.
DGKiM (2016): Vorgehen bei Kindesmisshandlung- und -vernachlässigung. Empfehlungen für Kinderschutz an Kliniken. http://www.kindesmisshandlung.de/mediapool/32/328527/data/DGKiM-DAKJ_KSG-Leitfaden_1.61-23.12.2016.pdf
2.
Von Soosten H, Rother S, von Bismarck S, Rossi R: Das Modell der Berliner Kinderschutzambulanzen. Monatsschrift Kinderheilkunde 2019; https://doi.org/10.1007/s00112-019-0651-2
3.
AWMF (2019: S3-Leitlinie Kinderschutz https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/KF_027-069k_Kinderschutz_2018-10.pdf.
4.
Imhof W, Karliczek KM: Evaluation der Kinderschutzambulanzen Berlin. Camino Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich GGMBH 2018.
5.
Berliner Gesetz zum Schutz und Wohl des Kindes: Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin 2009; 65. Jahrgang: 33, 875–80.
1. DGKiM (2016): Vorgehen bei Kindesmisshandlung- und -vernachlässigung. Empfehlungen für Kinderschutz an Kliniken. http://www.kindesmisshandlung.de/mediapool/32/328527/data/DGKiM-DAKJ_KSG-Leitfaden_1.61-23.12.2016.pdf
2. Von Soosten H, Rother S, von Bismarck S, Rossi R: Das Modell der Berliner Kinderschutzambulanzen. Monatsschrift Kinderheilkunde 2019; https://doi.org/10.1007/s00112-019-0651-2
3. AWMF (2019: S3-Leitlinie Kinderschutz https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/KF_027-069k_Kinderschutz_2018-10.pdf.
4. Imhof W, Karliczek KM: Evaluation der Kinderschutzambulanzen Berlin. Camino Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich GGMBH 2018.
5. Berliner Gesetz zum Schutz und Wohl des Kindes: Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin 2009; 65. Jahrgang: 33, 875–80.
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