MEDIZINREPORT
Umgang mit Corona-Toten: Obduktionen sind keinesfalls obsolet
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Mortui vivos docent – die Toten lehren die Lebenden – gilt auch in Pandemiezeiten. Obduzierende Ärzte waren stets mit Infektionsszenarien konfrontiert. In Hamburg wurden daher auch in der Coronakrise bei der Leichenschau keine Abstriche gemacht. Daraus ist das bisher größte Kollektiv obduzierter COVID-19-Verstorbener hervorgegangen.
Im Dezember 2019 begann die Ausbreitung des neuen SARS-Corona-Virus-2 (SARS-CoV-2) in der Hubei-Region von China. Seitdem hat sich eine weltweite Pandemie entwickelt, die das öffentliche und soziale Leben sehr weitgehend beeinträchtigt und die medizinischen Systeme vieler Länder überfordert.
In Deutschland haben sich die ersten COVID-19-Erkrankungsfälle im Umfeld eines Betriebs der Automobil(zulieferer)Branche ereignet, kurz nachdem chinesische Geschäftspartner zu Gast waren. Der erste COVID-19-Sterbefall eines deutschen Staatsangehörigen ereignete sich in Ägypten. Für einen 59-jährigen Hamburger Feuerwehrwehrmann verlief die ersehnte Urlaubsreise nach Luxor-Assuan-Hurghada fatal. Der Mann verstarb am 8. März 2020 auf der Intensivstation eines Krankenhauses in Hurghada am Roten Meer, nachdem er in Hamburg am 2. Februar 2020 gestartet war.
In Hamburg wurde der allererste Fall einer SARS-CoV-2-Infektion am 27. Februar 2020 am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf diagnostiziert. Der betroffene Arzt war kurz zuvor aus seinem Skiurlaub in Österreich zurückgekehrt. Seit diesem Datum hat sich die Zahl der Infizierten entsprechend des Bundestrends weiterentwickelt.
Bisher (Stand 3. Mai 2020) werden in Hamburg die sogenannten Corona-Sterbefälle dokumentiert sowie regelhaft seziert. Es handelte sich in Einzelfällen um gerichtliche Sektionen gemäß § 87 StPO, überwiegend wurden die Sektionen vom zuständigen Gesundheitsamt gemäß § 25 (4) InfSchG (= Infektionsschutzgesetz) angeordnet (1).
Die Rechtsmedizin in Hamburg ist von Beginn der Pandemie an bewusst nicht den Empfehlungen des Robert Koch-Instituts (RKI) sowie den andernorts praktizierten Verfahrensweisen gefolgt, wo auf Sektionen SARS-CoV-2-positiver Verstorbener und beispielsweise auch auf die gesetzlich eigentlich vorgeschriebene Leichenschau vor der Kremation (etwa in Baden-Württemberg) verzichtet wurde.
Die in der Literatur wiederholt gegebene Empfehlung, Sektionen wegen der Aerosolbildung und der damit einhergehenden Infektionsausbreitung zu vermeiden, ist nach unserer Auffassung kontraproduktiv. Die wissenschaftliche Erforschung dieser neuen Virusinfektion und der von ihr hervorgerufenen Krankheit COVID-19 im Hinblick auf die Pathogenese und Klinik wird dadurch erheblich eingeschränkt.
Zu bedenken ist nämlich: Die Hygiene und die organisatorischen Abläufe bei Infektionskrankheiten wie COVID-19 sind im Hinblick auf Schutzmaßnahmen beim Umgang mit dem Leichnam sowie bei der Sektion eine alltägliche Routine, wie sie auch bei anderen infektiösen Leichen abläuft. Inzwischen haben die Deutsche Gesellschaft für Pathologie, die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin (und die dazugehörigen Berufsverbände) sowie letztlich auch das RKI die Botschaft ausgegeben, verstärkt Obduktionen bei den sogenannten „Coronatoten“ durchzuführen.
Déjà-vu für Rechtsmediziner
Die zurückhaltende Einstellung zu Obduktionen erinnert jedenfalls ältere Rechtsmediziner an die Situation zu Beginn der AIDS-Ausbreitung. Ähnliche irrationale Ängste waren auch bei der Creutzfeld-Jacob-Erkrankung respektive beim sogenannten Rinderwahnsinn oder Erkrankungen durch EHEC (Enterohämorrhagische Escherichia coli) zu beobachten, als zunächst auch nur in Ausnahmefällen Sektionen durchgeführt wurden (2). Heute ist klar, dass wesentliche Fortschritte zum Verständnis der AIDS-Erkrankung mit ihrer Ausbreitung in speziellen Risikogruppen und bezüglich der Begleiterkrankungen infolge des Immundefizienzsyndroms erst durch Sektionen aufgezeigt worden sind.
Die eigenen Erfahrungen mit den bisher in Hamburg durchgeführten Sektionen zeigen sehr unterschiedliche Krankheitsverläufe auf und lassen dementsprechend wechselvolle morphologische und virologische Befunde erheben. Details werden an anderer Stelle dargestellt (3, 4). Von zentraler Bedeutung bezüglich des tödlichen Verlaufs erwies sich die Virusinfektion der Atemwege und der Lunge.
Unserer Erfahrung nach ist das typische Vollbild einer alleinigen Viruspneumonie allerdings selten ausgebildet. Hinzu kommen Modifikationen durch bakterielle Superinfektionen beziehungsweise nosokomiale Infektionen, durch Intensivtherapie und Langzeitbeatmung, gelegentlich Aspirationen, diverse Vorerkrankungen des respiratorischen Systems sowie begleitende Multimorbidität.
Speziell fanden wir bisher in ungewöhnlich vielen Fällen ubiquitäre Thrombosen sowie rezidivierende Lungenembolien – nicht zuletzt auch Lungeninfarkte. Von virologischem Interesse war auch der post-mortem Nachweis von SARS-CoV-2-RNA nicht nur in der Lunge und im Respirationstrakt, sondern auch in vielen anderen Organen (3).
Die erste Sektion eines COVID-19-Sterbefalls erfolgte am 22. März 2020. Bis zum 3. Mai 2020 wurden in Hamburg 167 COVID-19-Sterbefälle registriert. Bis zu diesem Tag wurden 4 834 Infektionsfälle mit COVID-19 in der Hamburger Bevölkerung festgestellt. Hieraus ergibt sich eine abgeschätzte Letalität von 3,5 %. Zu bedenken ist allerdings, dass es bei den Verstorbenen in Hamburg nahezu keine Dunkelziffer von SARS-CoV-2 bedingten Todesfällen gibt, während die Dunkelziffer von asymptomatischen, symptomatischen, aber nicht diagnostizierten und abgelaufenen Infektionen bisher ungeklärt ist.
Letalität nach unten korrigierbar
Wir gehen jedenfalls davon aus, dass die Letalität deutlich geringer ist – vorsichtigen Schätzungen zufolge deutlich unter 2 %. Die Prognose geht dahin, dass die Neuinfektionen mit dem Virus jetzt weiter abnehmen. Zurzeit besteht eine Reproduktionsrate (R) des Virus von unter 1. Zeitlich versetzt um etwa 2–3 Wochen dürfte auch die Zahl der sogenannten „Coronatoten“ abfallen.
Die Alters- und Geschlechtsverteilung der Verstorbenen (Grafik 1) zeigt bisher ein Verhältnis von 92 Männern zu 75 Frauen. Das Durchschnittsalter liegt bei 80 Jahren (Spannweite 31–99 Jahre). Für Männer beträgt das Durchschnittsalter 78 Jahre (Spannweite: 31–99 Jahre, Median 80 Jahre) und für Frauen 82,6 Jahre (Spannweite: 54–98 Jahre, Median 85 Jahre). Das Kollektiv weist in der Regel diverse Vorerkrankungen auf. Zu diesen zählten Herz-Kreislauf-Erkrankungen, COPD, Neoplasien, Stoffwechselkrankheiten, Demenz und andere. (Grafik 2).
Jüngere waren nie betroffen
Bisher war nur eine betroffene Person unter den Verstorbenen unter 50 Jahre alt. Es handelte sich um einen 31 Jahre alten Mann mit einem metastasierten Krebsleiden, der unter palliativer Chemotherapie stand. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene waren niemals betroffen. Die meisten Todesfälle ereigneten sich im Krankenhaus. Es waren weiterhin bereits mehrere Alten- und Krankenpflegeeinrichtungen von Ausbruchsszenarien betroffen. Einige Infizierte mit infauster Prognose wurden in palliativem Setting im Bereich der Pflege belassen. Weitere spezielle epidemiologische Aspekte werden in wissenschaftlichen Arbeiten an anderer Stelle hervorgehoben (3, 4).
Parallel haben wir in der öffentlichen Leichenhalle Hamburgs und im Hamburger Krematorium unselektiert Tote mit nasopharyngealem Abstrich mittels PCR auf SARS-CoV-2 getestet. Dabei kam es zu zufällig entdeckten Befunden. Dies waren Fälle, die im Bereich der niedergelassenen Ärzte, der Krankenhäuser und des öffentlichen Gesundheitswesens überhaupt nicht aufgefallen waren und insofern unentdeckt – also ohne ihren Infektionsstatus zu kennen – verstorben waren. Auch dieses „Zufallskollektiv“ wird unter morphologischen und epidemiologischen Aspekten derzeit sorgfältig weitergehend analysiert.
Deutschland, und speziell auch Hamburg, hat offenbar rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen getroffen, um die Ausbreitung des Virus nachvollziehbar zu begrenzen. Dazu zählten insbesondere umfassende Testungen, stringente Nachverfolgung von Kontaktpersonen, Quarantänemaßnahmen, Ausgangsbeschränkungen und die Vermeidung sozialer Kontakte über längere Zeit. Das System der medizinischen Versorgung funktioniert sehr gut. Es gibt derzeit so gut wie keine Engpässe bezüglich der Behandlung schwerer COVID-19-Erkrankungen im stationären Bereich und speziell auch nicht auf der Intensivstation. Spezielle Ausbruchsszenarien (beispielsweise in Altenheimen, im Bereich der Onkologie, oder auch allgemein in ganzen Kliniken) wurden erkannt und gestoppt.
Die sorgfältige Untersuchung der Toten belegt, dass schwerwiegende und tödliche Verläufe der Krankheit in einem nicht überlasteten System von öffentlichem Gesundheitswesen und Krankenhäusern selten sind. Betroffen sind davon in Hamburg, bei aller individuellen Tragik dieser Fälle, bisher Personen, die bereits zuvor körperlich beziehungsweise immunologisch erheblich kompromittiert waren.
Leichenschau statt Leichenfoto
Es zeigte sich, dass diese exakten Untersuchungen an Toten genaue Daten liefern, die in einer summarischen und oberflächlichen Erfassung von COVID-19-Toten nicht zutage treten. Diese Analysen sind geeignet, einen Gegenpol zu den dramatisierenden Darstellungen in den öffentlichen Medien zu bilden.
Durch die Bilder von Toten, von überlasteten Notaufnahmen, von langen Reihen von Särgen oder Großtransporten in Militärfahrzeugen sowie auch Massengräbern, welche aus Ländern wie China, Italien, Spanien, USA, Brasilien verbreitet wurden, und die Präsentation nackter Sterbeziffern werden Angst, Hysterie und Panik geschürt, die bei dieser Virusinfektion im hiesigen Kontext stark übertrieben scheinen.
Aus der sorgfältigen Analyse der Todesfälle ergeben sich Ansätze für Qualitätssicherung im Bereich der stationären Therapie. Hinzu kommen sehr viele Möglichkeiten einer systematischen Forschung zur Ausbreitung und Eingrenzung des Virus und zur Pathogenese in den verschiedenen Organen, Geweben und Zellen, insgesamt zur Pathologie, Infektiologie und Virologie von COVID-19. Mortui vivos docent! Das ist kein leerer Spruch.
Prof. Dr. med. Klaus Püschel
Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Prof. Dr. med. Martin Aepfelbacher
Institut für Medizinische Mikrobiologie, Virologie und Hygiene, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Dieser Artikel unterliegt nicht dem Peer-Review-Verfahren.
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit2020
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„Der Hamburger Weg“
Vor dem Hintergrund der Coronakrise hatte sich in Hamburg bereits frühzeitig eine enge Kooperation zwischen der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz (BGV) der Freien und Hansestadt Hamburg, dem Institut für Medizinische Mikrobiologie, Virologie und Hygiene sowie der Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) ausgebildet. Auf Initiative der Leitung des Instituts für Rechtsmedizin war ein spezieller Verfahrensablauf bei der Obduktion von – zumindest mutmaßlich – Coronainfizierten etabliert worden.
Entgegen den ursprünglichen, mittlerweile öffentlich revidierten Empfehlungen des Robert Koch-Institutes (RKI) sollte dies eine innere Leichenschau sämtlicher Corona-Toter des Stadtstaates Hamburg möglich machen, was in diesem Umfang wahrscheinlich international ein zunächst einzigartig ambitioniertes Vorhaben darstellte. Dies konnte nur umgesetzt werden, weil sämtliche Mitarbeiter und Verantwortlichen das Rationale des Verfahrens angesichts einer Infektionskrankheit mitgetragen haben, von der seinerzeit noch wenig bekannt war.
1. | Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG); Ausfertigung vom 20. Juli 2000; hier: § 25 (4). https://www.gesetze-im-internet.de/ifsg/BJNR104510000.html (last accessed on 6 May 2020). |
2. | Püschel K, Tenner-Racz K, Racz P, et al.: AIDS-Todesfälle in Hamburg (Stand: Februar 1985) – Rechtsmedizinische Aspekte. Z Rechtsmed 1985; 95: 113–21 CrossRef MEDLINE |
3. | Wichmann D, Sperhake JP, Lütgehetmann M, et al.: Autopsy findings and venous thromboembolism in patients with COVID-19: a prospective cohort study. Ann Intern Med 2020 (in Druck) CrossRef MEDLINE |
4. | Edler C, Sperhake JP, Heinemann A, et al.: Dying with SARS-CoV-2-infection – an autopsy study of the first consecutive 80 cases in Hamburg, Germany. Int J Legal Med 2020 (eingereicht). |
Beck, Norbert