MEDIZIN: Diskussion
Entstehen und Funktion von Bewusstsein: Gehirn als funktionelles Organ
Zu dem Beitrag von Prof. Dr. rer. nat. Dr. phil. Gerhard Roth in Heft 30/1999


Solche Übersichten müssen zwangsläufig auch Fragen offen lassen, da sie sich nur auf den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft stützen können. Dennoch sind die vorhandenen Kenntnisse und Informationen notwendig, um unser Verständnis für Zusammenhänge zwischen Psyche und Soma herzustellen. Es zeigt sich, dass es nicht makroskopischer Beeinträchtigungen - die uns ja in erster Linie in der ärztlichen Ausbildung vermittelt werden - des Gehirns bedarf. Sondern dass schon mikroskopische, mit herkömmlicher Methodik nicht ohne weiteres darstellbare, organische Defizite zu Beeinträchtigungen der verschiedenen Formen von Bewusstsein führen können, die in ihrer Konsequenz letztlich auch Verhaltensstörungen verursachen können.
Jeder, der Bewusstsein, Denken, geistige Tätigkeit als höchste Form der Entwicklung betrachtet, tut gut und richtig daran. Zweifellos müssen wir die Möglichkeiten bewussten Willens nicht unterschätzen: Das seit Jahrzehnten untersuchte "Bereitschaftspotenzial" (3) ist klassischer Beleg dafür, dass allein aus dem freien, von außen völlig unbeeinflussten, bewussten Willen, entsprechend messbare Aktivierungsprozesse in den neurophysiologischen Strukturen des Gehirns ausgelöst werden können. Diese Fähigkeiten der bewussten Steuerung des neuronalen Netzwerkes nutzen verhaltens-, übungstherapeutische und psychologische wie pädagogische Therapieansätze. Aber diese Ansätze müssen erkennen, dass ihr Erfolg dann limitiert sein kann, wenn hirnphysiologische, funktionelle Basisprozesse für Bewusstsein diskret oder partiell gestört sind.
Ausdrücklich betont sollte nochmals werden, dass nicht nur Extrema zu Veränderungen von Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Verhalten führen, sondern bereits leichte Dysbalancen zu Beeinträchtigungen führen können. Beispielsweise wurden bei aufmerksamkeitsgestörten und hyperaktiven Kindern Störungen der zerebralen Durchblutung (4, 5, 6), des zerebralen Glukosemetabolismus (7, 8) und lokal begrenzt veränderte Gehirnvolumina (das heißt Anzahl der Neurone) (2) nachgewiesen. Ähnliche Befunde mehren sich in anderen Bereichen "klassisch" psychiatrischer Krankheitsbilder (Schizophrenie, Depressionen).
Die Befunde mahnen eindringlich, das Gehirn endlich nicht mehr als allein makroskopisch beurteilbaren und in seiner Komplexität nicht fassbaren Teil des menschlichen Körpers zu betrachten. Vielmehr sollten wir es in der Tat als ein höchst komplexes, aber - zumindest in Ansätzen - begreifbares, funktionelles Organ unseres Körpers auffassen, und als Grundlage für Bewusstsein, Denken, Lernen, Gedächtnis . . . Verhalten. Neurophysiologisch orientierte, praktizierbare, interdisziplinäre diagnostische und therapeutische Konzepte sind nach Ende des WHO-Jahrzehnts der Neurowissenschaften möglich, ja zwingend notwendig.
Literatur beim Verfasser
Dr. med. Arnfried Heine
Helmut-Schatzler-Straße 12
91332 Heiligenstadt/OFr.
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