ArchivDeutsches Ärzteblatt22-23/2020COVID-19: Mit psychischen Belastungen umgehen

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COVID-19: Mit psychischen Belastungen umgehen

Braun, Birgit; Leinberger, Beate; Loew, Thomas

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Im Zuge der SARS-CoV-2-Pandemie finden sich in den Medien immer wieder Interviews mit Klinikpersonal, das an seine persönlichen Grenzen stößt. Dies motiviert dazu, vermehrt zur Selbstfürsorge anzuleiten.

Foto: adrian ilie825/stock.adobe.com
Foto: adrian ilie825/stock.adobe.com

Die aktuelle SARS-CoV-2-Pandemie verlangt Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegenden viel ab und fordert große physische und psychische Widerstandskraft, wie gegenwärtig in vielen Interviews mit Betroffenen deutlich wird. Das medizinische Personal hat aktuell unbestritten mit massiven Unsicherheiten, Angst vor Ansteckung und technisch herausfordernden Aufgaben der Intensivbetreuung zu kämpfen. Für Letztere wurde es nicht selten aufgrund der Notsituation nur kurzfristig geschult.

Aufbauend auf den klassischen Annahmen zu Salutogenese, Resilienz und zum Stress-Coping (1, 2) empfiehlt sich eine empirisch begründete Sammlung von Mini-Interventionen als Selbstfürsorge-Handreichung. Die vorliegenden Techniken basieren auf einer Auswertung von Studienergebnissen zur Stressprävention mit Ärzten (3, 4) sowie mit anderen Berufsgruppen, wie Lehrerinnen und Lehrer (5), Fachkräften aus der Landwirtschaft (6) und Soldatinnen und Soldaten (7). Konkret wurde auf dieser Grundlage eine Kurzintervention im Sinne eines psychologischen Stressmanagement-Akutprogramms entwickelt, das sich unter dem Akronym ABSICHERN zusammenfassen lässt.

Praktische Übungen im Alltag

Die Interventionen sind selbsterklärend, größtenteils nonverbal, brauchen keine spezifischen Rahmenbedingungen und können de facto auch in der Schutzausrüstung am Krankenbett wirksam zum Einsatz kommen. Sie können Kolleginnen und Kollegen, Patientinnen und Patienten sowie Angehörigen leicht vermittelt werden und sind größtenteils bereits für spezifische Einsatzsituationen wissenschaftlich als wirksam belegt (8, 9).

Die Interventionen sind nicht an die durch das Akronym vorgegebene Reihenfolge gebunden, sondern können individuell angepasst, verkürzt, variiert und unterschiedlich kombiniert werden. Die im Akronym enthaltenen Bausteine stellen eine Art Potpourri dar, aus welchem die Betroffenen die für sich in der entsprechenden Situation passenden Maßnahmen dosiert auswählen können.

Hinter „ABSICHERN“ verbergen sich die Maßnahmen Abstand, Bilaterale Aktivierung, Seelenzeit, Imagination, Correct Cognitions, Humming, Entschleunigtes Atmen/Erdung, Rat einholen, Neugierde kultivieren/Normalität.

Abstand halten bezieht sich nicht nur auf die anderthalb Meter (wo es geht), sondern auch auf einen inneren Abstand, beispielsweise indem man sich vorstellt, einige Meter weiter weg vom Ort des Geschehens zu sein. Auch die Vorstellung, über der Situation zu stehen, kann helfen, das Stresslevel zu reduzieren. Eine weitere Empfehlung ist, sich bewusst zu werden: Auch kurze Pausen sind Pausen.

Die bilaterale Stimulation ist eine Aktivierungsübung, bei der zum Beispiel abwechselnd mit der linken und der rechten Hand eine Faust geformt wird und die linken und rechten Fußzehen etwa 50 Mal und im Sekundentakt gekrallt werden. Anschließend blickt man abwechselnd an die rechte und linke Zimmerdecke. Dieser Zustand wird durch ein Sichwiegen intensiviert. Dabei können die Bewegungen ganz minimal und von außen kaum sichtbar sein. Durch das Zurückzählen von zehn auf null gelingt es, sich aus der Übung zurückzuholen.

Mentales Training einbauen

Hinter dem Begriff Seelenzeit verbirgt sich die Möglichkeit, den Kolleginnen und Kollegen nonverbal zu signalisieren: „Lasst mich mal kurz in Ruhe, nicht ansprechen.“ Dazu faltet die Person ihre Hände ungefähr wie eine Pyramide, mit den sich berührenden Mittelfingern als Spitze, die Handflächen berühren sich nicht.

Eine weitere und oft unterschätzte mentale Technik ist die Imagination, mit deren Hilfe man sich beispielsweise einen schönen Ort vorstellt – möglichst mit allen Sinnesqualitäten.

Vor negativen und belastenden Gedanken ist gerade in Ausnahmesituationen niemand gefeit. Umso wichtiger ist es, diese Gedanken auch wieder loszulassen. Um negative Einstellungen zu korrigieren (correct cognitions) kann eine Gedankenstopp-Übung helfen: Dabei stellt sich die Person möglichst bildlich vor, dass sie den oder die Gedanken niederschreibt – beispielsweise angedeutet mit dem Zeigefinger in der Luft und – den imaginierten Zettel in eine Kiste legt. Bestärkende Gedanken wie „weg ist er“ können beim Loslassen helfen.

Humming (Summen) kombiniert entschleunigtes Atmen, das bekanntermaßen auch physiologisch zur Stressreduktion beitragen kann, mit einem interessanten weiteren wissenschaftlichen Befund: der Ankurbelung der körpereigenen NO-Produktion in den oberen Luftwegen, welche antiviral wirken soll (10, 11). Es konnte gezeigt werden, dass durch das Summen die zelluläre Stickoxydproduktion in der Nasenschleimhaut um das Fünfzehnfache zunimmt. Das begünstigt unter anderem das Mikrobiom in der Nase, die Hydratation, die Durchblutung und die Schleimproduktion in den Nasengängen und Nebenhöhlen – also genau in den Geweben, in denen COVID-19 viele Tage verweilt, bevor andere Gewebe infiziert werden.

Natürlich lässt sich auch unabhängig vom Summen durch entschleunigtes Atmen Stress reduzieren. Dabei wird im Wechsel sechs Sekunden lang aus- und vier Sekunden lang eingeatmet. Zwei solcher Durchgänge können beispielsweise während des Händewaschens durchgeführt werden oder auch mehrere Durchgänge während er Händedesinfektion.

Eine einfache und oft vernachlässigte Maßnahme, um das Stresslevel in Ausnahmesituationen zu senken, ist es, sich Rat einzuholen. Niemand weiß alles. Die „Schwarmintelligenz“ zu nutzen entlastet und verteilt Verantwortung.

Und schließlich lautet die Empfehlung, neugierig zu bleiben. Das heißt, sich regelmäßig und bewusst abzulenken und zum Beispiel vergessene Interessensgebiete wieder aufzunehmen. Mithilfe einer festen Tagesstruktur kann es besser gelingen, trotz großer Herausforderungen und Unsicherheiten feste Orientierungspunkte aufrechtzuerhalten und ein Stück Normalität zu wahren.

Auch nach der überstandenen Pandemie wird ein weiterer Ausbau und eine fortgeführte Evaluation derartiger Selbstfürsorge-Strategien notwendig sein. So fordert die Fraktion Die Linke eine wissenschaftliche Untersuchung zur Aufnahme psychischer Erkrankungen auf die Liste der Berufskrankheiten (12). Ihr Antrag auf Erlassung von Anti-Stress-Verordnungen mit verbindlichen Richtlinien für Arbeitgebende zur Prävention arbeitsbezogener Gesundheitsgefährdungen könnte durch die gegenwärtige Krisensituation eine neue Dimension erhalten. Dr. med. Dr. phil. Birgit Braun, Dr. phil. Beate Leinberger, Prof. Dr. med. Thomas Loew

Literatur im Internet: www.aerzteblatt.de/lit2220 oder über QR-Code.

Stressintervention evaluieren

Mithilfe der Short Regensburg Stress Scale (STRESS) kann das persönliche Stresslevel gemessen werden. So lässt sich die Wirkung von Entspannungsinterventionen unmittelbar evaluieren. Das Tool ist lizenzfrei und angelehnt an den Perceived Stress Questionnaire (13), dessen Ziel es ist, die subjektive Wahrnehmung, Bewertung und Weiterverarbeitung von Stressfaktoren zu untersuchen.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beantworten Fragen zum Stressempfinden. Die ersten fünf werden bewertet von 1 (sehr) bis 4 (nein, kaum):

  • Sie fühlen sich ausgeruht.
  • Sie fühlen sich ruhig.
  • Sie sind voller Energie.
  • Sie fühlen sich sicher und geschützt.
  • Sie sind leichten Herzens.

Die zweiten fünf sind umgekehrt gepolt von 4 (sehr) bis 1 (kaum):

  • Sie fühlen sich frustriert.
  • Sie fühlen sich angespannt.
  • Sie fühlen sich gehetzt.
  • Sie haben viele Sorgen.
  • Sie fühlen sich mental erschöpft.

Je höher der errechnete Score (Maximum 40), desto belasteter ist die Person. Ein Punktwert unter 25 zählt als unauffällig. Der Fragebogen hält außerdem Platz für Freitext zu somatischen oder psychischen Beschwerden bereit, die akut besonders belasten.

www.prof-loew.de

1.
Antonovsky A: Unraveling the Mystery of Health. How People Manage Stress and Stay Well (A Joint publication in the Jossey-Bass social and behavioral science series and the Jossey-Bass health series. Bd.). San Francisco: Jossey-Bass 1987.
2.
Lazarus R: Psychological Stress and the Coping Process. New York: McGraw-Hill 1966.
3.
Scherl DT: Arbeitszufriedenheit und Burnout bei Klinikärztinnen und Klinikärzten. Dissertation Regensburg, 2012.
4.
Angerer P, Petru R, Pedrosa-Gil F et al.: Stress, Krankheitsrisiko und berufliche Belastungsfaktoren bei Krankenhausärzten in Weiterbildung, Arbeitsmedizin München. Deutsche Medizinische Wochenschrift 2008; 133: 26–9 CrossRef MEDLINE
5.
Batka LM: Arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster bei Lehrerinnen und Lehrern im Kontext psychosomatischer Krankheitsneigung. Darstellung naturalistischer Stichproben in Bayern und Berlin. Dissertation Regensburg, 2013.
6.
Loew TH, Braun B, Stier-Jamer M et al.: „Stark gegen Stress“. Zur Burnoutprophylaxe für Landwirt(inn)e(n) an bayerischen Naturheilbädern. In Prep.
7.
Schels-Klemens C, Leinberger B, Loew TH: „Post- Combat-Coaching“ oder – wenn der Krieg am Kopf nicht vorbei kommt. Entwicklung einer psychodynamisch- und körperorientierten Beratung für Einsatzkräfte. Psychodynamische Psychotherapie 2017; 1 (16): 25–35.
8.
Loew TH, Götz K, Hornung R et al: AFA breathing therapy to prevent burnout for teachers. Forsch Komplementmed 2009; 16(3): 174–9 CrossRef MEDLINE
9.
Loew TH, Kutz P: Short Universal Regulative Exercise (SURE). Eine randomisierte, kontrollierte Studie zum Nachweis der Stressreduktion und Prävention bei Einsatzkräften durch ein neues Entspannungsverfahren im Vergleich zur Progressiven Muskelrelaxation. In: Psychodynamische Psychotherapie 2010; 9: 86-95.
10.
Loew TH: Entschleunigtes Atmen. In: Psychotherapie im Dialog 2017; 18 (04): 63–6 CrossRef
11.
Weitzberg E, Lundberg J: Humming greatly increases nasal nitric oxide. In: American Journal of Respiratory and Critical Care Medicine 2002; 166 (2): 144–5 CrossRef MEDLINE
12.
Bühring P: Berufskrankheiten. Liste um psychische Erkrankungen erweitert. Dtsch Arztebl 2020; 19 (4): 149 VOLLTEXT
13.
Fliege H, Rose M, Arck P al.: The Perceived Stress Questionnaire (PSQ) reconsidered: validation and reference values from different clinical and healthy adult samples. Psychosom Med 2005; 67: 78–88 CrossRef MEDLINE
1.Antonovsky A: Unraveling the Mystery of Health. How People Manage Stress and Stay Well (A Joint publication in the Jossey-Bass social and behavioral science series and the Jossey-Bass health series. Bd.). San Francisco: Jossey-Bass 1987.
2.Lazarus R: Psychological Stress and the Coping Process. New York: McGraw-Hill 1966.
3.Scherl DT: Arbeitszufriedenheit und Burnout bei Klinikärztinnen und Klinikärzten. Dissertation Regensburg, 2012.
4.Angerer P, Petru R, Pedrosa-Gil F et al.: Stress, Krankheitsrisiko und berufliche Belastungsfaktoren bei Krankenhausärzten in Weiterbildung, Arbeitsmedizin München. Deutsche Medizinische Wochenschrift 2008; 133: 26–9 CrossRef MEDLINE
5.Batka LM: Arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster bei Lehrerinnen und Lehrern im Kontext psychosomatischer Krankheitsneigung. Darstellung naturalistischer Stichproben in Bayern und Berlin. Dissertation Regensburg, 2013.
6.Loew TH, Braun B, Stier-Jamer M et al.: „Stark gegen Stress“. Zur Burnoutprophylaxe für Landwirt(inn)e(n) an bayerischen Naturheilbädern. In Prep.
7.Schels-Klemens C, Leinberger B, Loew TH: „Post- Combat-Coaching“ oder – wenn der Krieg am Kopf nicht vorbei kommt. Entwicklung einer psychodynamisch- und körperorientierten Beratung für Einsatzkräfte. Psychodynamische Psychotherapie 2017; 1 (16): 25–35.
8.Loew TH, Götz K, Hornung R et al: AFA breathing therapy to prevent burnout for teachers. Forsch Komplementmed 2009; 16(3): 174–9 CrossRef MEDLINE
9.Loew TH, Kutz P: Short Universal Regulative Exercise (SURE). Eine randomisierte, kontrollierte Studie zum Nachweis der Stressreduktion und Prävention bei Einsatzkräften durch ein neues Entspannungsverfahren im Vergleich zur Progressiven Muskelrelaxation. In: Psychodynamische Psychotherapie 2010; 9: 86-95.
10.Loew TH: Entschleunigtes Atmen. In: Psychotherapie im Dialog 2017; 18 (04): 63–6 CrossRef
11.Weitzberg E, Lundberg J: Humming greatly increases nasal nitric oxide. In: American Journal of Respiratory and Critical Care Medicine 2002; 166 (2): 144–5 CrossRef MEDLINE
12.Bühring P: Berufskrankheiten. Liste um psychische Erkrankungen erweitert. Dtsch Arztebl 2020; 19 (4): 149 VOLLTEXT
13.Fliege H, Rose M, Arck P al.: The Perceived Stress Questionnaire (PSQ) reconsidered: validation and reference values from different clinical and healthy adult samples. Psychosom Med 2005; 67: 78–88 CrossRef MEDLINE

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