MEDIZIN: Übersichtsarbeit
Beinlängendifferenz – Therapieindikationen und -strategien
Leg length discrepancy—treatment indications and strategies
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Hintergrund: Beinlängendifferenzen betreffen viele Menschen in unterschiedlich starker Ausprägung. Zur Behandlungsbedürftigkeit liegen keine evidenzbasierten Studien vor.
Methode: Die Übersichtsarbeit gründet auf einer selektiven Literaturrecherche in PubMed. Zusätzlich wurden nationale und internationale Empfehlungen sowie eigene klinische Erfahrungen der Autoren eingebracht.
Ergebnisse: Die Ursache für eine Beinlängendifferenz ist meistens eine Beinverkürzung. Der Einfluss von Beinlängendifferenzen auf Schmerzen und Langzeitfolgen im Bereich des Bewegungsapparates wird kontrovers diskutiert. Ein klarer Zusammenhang mit Rückenschmerzen ist fraglich, eine geringe Erhöhung der Inzidenz einer Gonarthrose jedoch wahrscheinlich. Die Evidenzlage zur Indikation einer Therapie von Beinlängendifferenzen ist schlecht. Es gibt ausschließlich informelle Konsensempfehlungen. Das Spektrum der Therapiemöglichkeiten umfasst eine Vielzahl konservativer und operativer Maßnahmen. Das Ausmaß einer progredienten Beinlängendifferenz im Wachstumsalter kann durch prädiktive Algorithmen auf 2 cm genau abgeschätzt werden. Neben Einlagen, Schuherhöhungen und Orthesen kann auch eine operativ induzierte Wachstumsbremsung durch eine Blockade der kniegelenknahen Epiphysenfugen oder eine Verlängerung mittels Osteotomie und nachfolgender Distraktion des Knochenkallus durch voll implantierbare oder externe Apparate erwogen werden. Längenänderungen des Knochens führen zu erheblicher Belastung der Weichteile. Bei einer erwarteten Beinlängendifferenz über 5 cm kann eine erste Beinverlängerung schon während des Wachstums diskutiert werden.
Schlussfolgerung: Ob eine konservative oder operative Therapie erfolgen soll, muss individuell mit dem Patienten abgewogen werden. Das Ausmaß der Beinlängendifferenz entscheidet nicht über die Behandlungsmethode. Die Therapieentscheidung ist somit stets elektiv.


Beinlängendifferenzen sind weit verbreitet und haben mannigfaltige Ursachen. Die vorliegende Arbeit fokussiert auf die anatomischen Beinlängendifferenzen mit messbaren Längenunterschieden zwischen den Beinknochen einschließlich der Fußhöhe.
Beinlängendifferenzen unter 2 cm werden gemeinhin auch als Beckenschiefstand beschrieben. Das verdeutlicht, dass es sich bei diesem Ausmaß häufig nicht nur um eine reine anatomische Beinlängendifferenz handelt, sondern diese Befunde vollständig oder zumindest teilweise funktionell durch beispielsweise Beckenverwringungen hervorgerufen werden (1, 2).
Große Beinlängendifferenzen reichen bis zum vollständigen Fehlen von Teilen der Extremität. Zugrunde liegen meist seltene, angeborene Fehlbildungen, die – neben dem reinen Beinlängenunterschied – mit einer komplexen Veränderung der gesamten Gliedmaße einhergehen. Hier finden sich instabile Gelenke, Gefäßfehlbildungen, schwere Fehlstellungen und das teilweise oder gar vollständige Fehlen ganzer Knochen beziehungsweise Zehenstrahlen (1, 2).
Trotz der weiten Verbreitung von Beinlängendifferenzen existiert keine nationale oder internationale Leitlinie für ihre Behandlung. Einzig die Pediatric Orthopaedic Society of North America (POSNA) bietet auf ihrer Internetseite einen Behandlungsleitfaden („study guide“) mit allerdings unklarem Konsentierungsverfahren unter Angabe dreier „top contributors“ (3).
Methodik
Neben einer selektiven Recherche in PubMed mit den Suchbegriffen „leg length discrepancy“ in Kombination mit „scoliosis“, „low back pain“, „osteoarthritis“, „gait analysis“, „function“, „epidemiology“ und „ISKD and lengthening or Fitbone and lengthening or Precice and lengthening“, wurden nationale und internationale Empfehlungen sowie eigene Erfahrungen verwendet.
Epidemiologie und Ätiologie
Laut einer amerikanischen und einer schwedischen Studie hat ein Drittel der Bevölkerung eine Beinlängendifferenz von 1 cm und mehr (4, 5). In diesem Artikel sollen Beinlängendifferenzen über 2 cm dargestellt werden, deren Prävalenz jedoch nicht klar gesichert ist. Bei Militärrekruten wurde in 4 % der Fälle eine Beinlängendifferenz > 1,5 cm gemessen (5). Die einzige Bevölkerungsstudie ist eine häufig zitierte französische Studie, die bei jedem Tausendsten eine orthopädische Behandlung aufgrund einer Beinlängendifferenz über 2 cm zeigen konnte (6).
Die Ursache anatomischer Beinlängendifferenzen kann erworben oder angeboren sein. Eine Beinverkürzung kann primär durch traumatischen Knochenverlust oder sekundär durch traumatische oder infektiöse Epiphysenfugenverletzung im Wachstumsalter auftreten. Bei den kongenitalen oder idiopathischen Beinlängendifferenzen wächst das betroffene Bein kontinuierlich langsamer (1, 2).
Damit wird deutlich, dass eine Beinlängendifferenz fast immer durch eine Verkürzung entsteht. Verlängerungen bei sogenannten Hemihypertrophien oder partiellen Riesenwüchsen sind Raritäten, die fast ausschließlich bei syndromalen Erkrankungen oder Gefäßerkrankungen wie dem Klippel-Trénaunay-Weber-Syndrom auftreten (1, 2) und nicht Gegenstand dieser Übersicht sind.
Risiken der Beinlängendifferenz
Die Beinlängendifferenz wird als Ursache verschiedenster Langzeitschäden gesehen. Insbesondere werden Risiken für die Wirbelsäule, die Hüftgelenke und die Kniegelenke bis hin zu schmerzhaften Asymmetrien von Muskelketten vermutet (7). Wir diskutieren daher im Einzelnen die denkbaren, problematischen Einflüsse einer Beinlängendifferenz und erläutern die Studienlage.
Fehlwachstum, Hüftdysplasie und Skoliose
Eine Beinlängendifferenz erzeugt im gleich belasteten Zweibeinstand (Wachsoldat) ein zum kurzen Bein geneigtes Becken und Kreuzbein, was zu einer relativen Verschlechterung der Hüftkopfüberdachung und zu einer Seitverbiegung der Wirbelsäule führt (1, 2). Dieser Umstand führt zu der Befürchtung, dass eine Beinlängendifferenz während des Wachstums die Entstehung einer Hüftdysplasie und/oder Skoliose begünstigen könnte. Dieser Effekt wird jedoch im Einbeinstand nicht wirksam, da Becken und Kreuzbein durch die Glutealmuskulatur horizontalisiert werden (Abbildung 1). Zwar ist nicht untersucht, wie lange der gleichbelastete Zweibeinstand in der Durchschnittsbevölkerung täglich eingenommen wird, doch wird es näherungsweise kaum mehr als ein halbe Stunde sein. Es scheint schon aus dieser Überlegung heraus sehr fraglich, wie eine halbe Stunde täglicher „Fehlbelastung“ wesentliche Folgen für den Bewegungsapparat haben soll.
Die Untersuchung junger Erwachsener nach konservativem Ausgleich einer seit dem Kindesalter bestehenden Beinlängendifferenz ergab zwar eine Verminderung der skoliotischen Seitverbiegungen, aber auch persistierende Rotationskomponenten (8). Aus dieser Beobachtung wurde geschlussfolgert, dass Beinlängendifferenzen im Wachstumsalter zur Entstehung einer Skoliose beitragen könnten (2). Im Gegensatz dazu untersuchte die gleiche Arbeitsgruppe junge Erwachsene mit Differenzen über 3 cm, welche erst nach Wachstumsabschluss traumatisch erworben wurden und zehn Jahre lang keinen Beinlängenausgleich trugen. Die radiologische Untersuchung konnte hier eine Skolioseentwicklung ausschließen (9).
Funktion, Hinken und Sportfähigkeit
Funktionelles Kennzeichen einer Beinlängendifferenz ist das Verkürzungshinken (1, 2). Ganganalytisch konnte gezeigt werden, dass Beinlängendifferenzen ab 1 cm ein asymmetrisches Gangbild erzeugen können. Mit steigender Differenz kommt es zu einer Zunahme der Asymmetrie und zu einem optisch sichtbar werdenden Hinken (10).
Im deutschen Behindertensport gilt eine dauerhafte Beinlängendifferenz ab 4 beziehungsweise ab 7 cm, abhängig von der betriebenen Sportart, als eine Beeinträchtigung, die zur Teilnahme am paralympischen Wettbewerb berechtigt (11). Nach Meinung der Autoren sollten sportliche Aktivitäten bei Beinlängendifferenzen unter 5 cm immer ohne konservativen Beinlängenausgleich ausgeübt werden. Insbesondere Schuherhöhungen verändern das Verhalten der Sportschuhe vollkommen und machen teilweise die Ausübung des Sports unmöglich.
Rückenschmerz und Arthrose
Die Entstehung von Rückenschmerz ist bekanntermaßen ein multifaktorielles Geschehen, wobei in den meisten Fällen keine alleinige Ursache ermittelt werden kann. In vielen Studien wurden potenzielle Rückenschmerz-begünstigende Faktoren überprüft. Beinlängendifferenzen konnten dabei nicht als Risikofaktor für die Entstehung von Rückenschmerz herausgearbeitet werden (12). Trotzdem gibt es natürlich individuelle Erfahrungen über eine Besserung von Rückenschmerzen durch die Verordnung von Schuherhöhungen. Es konnte jedoch nicht belegt werden, ob die Veränderung der Biomechanik im gleichbelasteten Zweibeinstand für diesen Effekt entscheidend war (4).
Eine Kohortenstudie mit über 3 000 Teilnehmern zeigte, dass bei Beinlängendifferenzen eine erhöhte Arthrosewahrscheinlichkeit für Kniegelenke gegeben ist. Bei einer Beinlängendifferenz von mehr als 1 cm wurde sowohl für das kürzere als auch für das längere Bein ein erhöhtes Arthroserisiko gegenüber gleichlangen Beinen gefunden. Das Risiko stieg aber nicht mit einem zunehmenden Ausmaß der Beinlängendifferenz (13).
Eine weitere Kohortenstudie mit 3 067 Teilnehmern untersuchte den Zusammenhang zwischen Beinlängendifferenzen ab 2 cm und der Entwicklung von Hüft- und Kniebeschwerden sowie von Cox- und Gonarthrosen. Zwar ergab sich ein numerisch höheres Risiko für die Entwicklung von Coxarthrosen, eine statistisch signifikante Assoziation fand sich jedoch ausschließlich für progrediente Kniegelenkarthrosen (14).
Diagnostik
Klinisch kann eine Beinlängendifferenz mit einer Genauigkeit von ± 1 cm bestimmt werden (15). Durch definierte Brettchenhöhen wird die Verkürzung bis zum Beckengeradstand ausgeglichen und lässt so auf die Beinlängendifferenz schließen (16) (Abbildung 2). Eine radiologische Messung mittels Ganzbeinstandaufnahme mit Beinlängenausgleich durch Brettchenunterlage wird erst bei der Planung eines operativen Beinlängenausgleichs erforderlich.
Indikation zur Therapie
Die Evidenzlage zur Indikation einer Therapie von Beinlängendifferenzen ist schlecht. Es gibt weder prospektive noch retrospektive Studien, die den natürlichen Verlauf gegen eine therapeutische Intervention überprüft haben, noch wurden die verschiedenen Therapiemöglichkeiten untereinander verglichen. Nur die unterschiedliche Verlängerungsverfahren wurden retrospektiv verglichen (Tabelle 1).
Es existiert keine Leitlinie, die auf einem transparenten Konsentierungsverfahren basiert. Dies liegt nicht zuletzt an der schwachen Evidenzlage für Spätschäden wie Rückenschmerzen oder Arthrose.
Ein Konsens innerhalb der Richtlinien zur Bewertung von Invalidität im nationalen Sozial- und Versicherungsrecht ist nur indirekt ablesbar (Tabelle 2) (17). Daraus kann nach Meinung der Autoren eine Indikation zur Therapie ab 2 cm abgeleitet werden. Auch der Leitfaden der POSNA sieht hier die Grenze der Therapieindikation (3). Ob überhaupt eine Behandlung – konservativ oder operativ – erfolgen soll, muss daher individuell mit den Patienten abgewogen werden. Das Vorhandensein einer Beinlängendifferenz als solche stellt keine Behandlungsindikation dar. Therapieentscheidungen sind daher stets elektiv.
Durch eine klare Darstellung der obigen Grundüberlegungen muss der Patient auf einen Kenntnisstand gebracht werden, der es ihm ermöglicht, seinen Leidensdruck und seine individuellen Beweggründe wie Sorgen vor Rückenschmerzen und Spätschäden oder aktuelle Beschwerden korrekt zu bewerten und auf dieser Basis eine Entscheidung zu fällen.
Im Wachstumsalter kann die Messung der Beinlängendifferenz nur eine Momentaufnahme sein. Für die Therapieentscheidung ist die Beinlängendifferenz nach der abgeschlossenen Wachstumsphase entscheidend. Bei einem vorzeitigem Wachstumsfugenschluss als Ursache der Differenz kann das Ausmaß der Verkürzung über das Restwachstum der kontralateralen Fuge prognostiziert werden (18).
Für kongenitale Beinlängendifferenzen wird die „Multiplier“-Methode zur Prognose genutzt (19, 20). Die Bestimmung des Skelettalters erzielt eine höhere Genauigkeit. Es bleibt jedoch eine Restunsicherheit von rund 2 cm bestehen, abhängig von der Länge des Prognosezeitraumes (21). Das Autorenteam hat aus den obigen Überlegungen und eigenen Erfahrungen eine Tabelle als Therapieentscheidungshilfe entwickelt (Tabelle 3).
Konservative Therapie
Eine konservative Therapie wird insbesondere bei moderaten Beinlängendifferenzen zwischen 2 und 5 cm durchgeführt (1, 2, 22). Dabei muss kein vollständiger Beinlängenausgleich angestrebt werden. Es herrscht ein guter Konsens darüber, dass Beinlängendifferenzen im Wachstumsalter auf 1 cm und nach dem Wachstumsabschluss auf 2 cm Restdifferenz ausgeglichen werden sollten (2, 22).
Einlage und Schuherhöhung
Ein Beinlängenausgleich durch Einlagen ist durch das Schuhvolumen begrenzt. Keilförmige Einlagen im Fersenbereich können bis zu 2 cm ausgleichen. Durch Sohlenerhöhungen können bei geschlossenen Schuhen bis zu 5 cm ausgeglichen werden (22).
Orthese
Ab 5 cm Schuherhöhung wird diese Versorgung zunehmend instabil, sodass eine Orthesenversorgung unumgänglich wird. Diese bedingt stets eine relative Spitzfußstellung und eine Aufhebung der Sprunggelenksfunktion (22). Beinlängendifferenzen unter 10 cm lassen sich meist nicht durch eine funktionell günstigere Orthoprothese versorgen, da der Einsatz eines Prothesenfußes aus Platz- und kosmetischen Gründen nur sehr schwer möglich ist (23).
Operative Therapie
Alternativ ist ab einer Beinlängendifferenz von 2 cm der operative Beinlängenausgleich eine Therapieoption (7, 24). Aufgrund der voranstehenden Erläuterungen sollten weniger die vermuteten Spätschäden als vielmehr das Verkürzungshinken und die Verminderung der Funktionalität des Schuhwerkes durch Schuherhöhungen indikationsbestimmend für den Ausgleich sein (7). Bei orthoprothetischen Versorgungen großer Beinlängendifferenzen verschärft sich diese funktionelle Beeinträchtigung.
Wachstumsbremsung
Im Wachstumsalter kann eine Bremsung des Wachstums durch eine rechtzeitige Blockade der kniegelenknahen Epiphysenfugen des längeren Beines herbeigeführt werden. Dafür müssen die erwartete Beinlängendifferenz und das verbleibende Restwachstum dieser Fugen vorhergesagt werden. Als „Faustregel“ kann ein jährliches Restwachstum der distalen Femurfuge von 0,95 cm und der proximalen Tibiafuge von 0,64 cm angenommen werden (25).
Der Wachstumsstopp kann einerseits permanent durch eine Verödung der Fuge oder temporär durch fugenüberbrückende Klammern (Abbildung 3), Schrauben oder Platten-Schrauben-Systeme erfolgen (26).
Zu bedenken ist, dass ein verkürzender Eingriff auch immer die absolute Körperhöhe reduziert und bei großen Verkürzungen über 5 cm relevante Proportionsänderungen der Beine gegenüber dem Rumpf erzeugen kann (26), da das kurze Bein – wie voranstehend beschrieben – fast immer das kranke Bein ist (2). Die vorliegenden Verhältnisse können durch die Bestimmung des Quotienten aus Sitzhöhe und subischialer Beinlänge ermittelt werden (18, 26).
Neben der Prädiktionsunsicherheit ist die Erzeugung sekundärer Achsfehler durch ungleichmäßig herbeigeführte Blockade der Wachstumsfuge ein Hauptrisiko der Wachstumsbremsung (2, 26, 27, 28, 29). Beide Risiken steigen mit dem Ausmaß der zu korrigierenden Beinlängendifferenz. Die Prognose ist um so unsicherer, je jünger das Kind ist, und das Fehlwachstum kann um so länger wirken, je früher der Wachstumsstopp eingeleitet wurde (26).
Die Wachstumsbremsung ist deshalb eher für moderate Beinlängendifferenzen zwischen 2 und 5 cm geeignet (2, 26, 27).
Akute Verkürzung und akute Verlängerung
Durch akute Verkürzungen und Verlängerungen werden während der Operation nach einer Knochenresektion rund drei bis vier Zentimeter Längenänderung durch gewaltsame Stauchung oder Streckung erreicht (30). Diese Operationen sind mit relativ großen Zugängen und Narben verbunden (31). Des Weiteren bewirkt eine akute Verkürzung oder Verlängerung eines Knochens immer eine erhebliche Belastung der Weichteile (2, 30, 32).
Nach der Verkürzung sind die Weichteile relativ zu lang, was zu einer passiven Muskelinsuffizienz mit Kraftverlust bis zum sichtbaren Hinken führt (2, 33). Intensives Training kann diesen Kraftverlust ausgleichen, was aber je nach Ausmaß der Verlängerung ein jahrelanger Prozess sein kann. Insgesamt treten bei einem Drittel der Fälle Komplikationen auf (31).
Bei der Verlängerung bestehen erhebliche Risiken für Dehnungsschäden der Gefäß-Nerven-Strukturen (32). Zusätzlich entstehen große Probleme, wenn es darum geht, den durch die Verlängerung entstandenen Knochendefekt zu füllen. Häufig ist ein Zweiteingriff zur Knochentransplantation erforderlich (30, 32, 34).
Kontinuierliche Verlängerung mit externen Fixateuren und voll implantierbaren Verlängerungsmarknägeln
Die kontinuierliche Knochenverlängerung etablierte sich in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts unter Verwendung von externen Fixateuren. Dabei wird nach einer Osteotomie durch Distraktion des Knochenkallus neuer Knochen gezüchtet. Die externe Apparatur verbleibt etwa ein bis zwei Monate pro verlängertem Zentimeter (32).
In den letzten 20 Jahren wurde einerseits an der Verminderung der Fixateurtragedauer gearbeitet. Durch die Kombination von Marknägeln und Fixateur externe („lengthening over nails“, LON) konnte die Tragezeit um fast die Hälfte reduziert werden (35). Andererseits wurden voll implantierbare Verlängerungsmarknägel entwickelt (36, 37), welche die nötigen Kräfte zur Distraktion des Kallus entweder durch mechanische Rotation der zu verlängernden Segmente gegeneinander („intramedullary skelettal kinetic distractor“, ISKD) oder durch im Nagel (Fitbone) oder außerhalb des Nagels (Precice) wirkende Elektromotoren erzeugen (36, 37) (Abbildung 4). Der Einsatz dieser Marknägel ist jedoch durch die anatomische Konfiguration inklusive Durchmesser und Länge des Knochens sowie offene Wachstumsfugen limitiert.
Die kontinuierliche langsame Distraktion reduziert im Vergleich zur akuten Verlängerung den Stress für die Weichteile deutlich. Dennoch bleibt die Weichteilbelastung problematisch, sodass nach Erfahrung der Autoren auch bei kontinuierlicher Distraktion am Femur ab 8 cm und an der Tibia ab 5 cm erhebliche Schwierigkeiten auftreten.
Verfahrenstypische Komplikationen all dieser Verfahren sind eine unzureichende oder überschießende Knochenbildung, transiente und residente Gelenkkontrakturen bis hin zu Luxationen sowie vorübergehende und bleibende Nerven- und Gefäßschädigungen (28, 34). Durch die Verwendung von Verlängerungsmarknägeln ist das Problem der Pin-Infektionen der Fixateure gelöst. Dennoch bleibt die Knochenverlängerung ein Verfahren mit hohem Risikopotenzial (Tabelle 1).
Resümee
Die technischen Entwicklungen haben die Möglichkeiten der Knochenverlängerung hinsichtlich der Belastung für die Patienten enorm verbessert. Hier wird es in den nächsten Jahren noch Weiterentwicklungen von implantierbaren Verlängerungsgeräten geben. Denkbar sind beispielsweise Verlängerungsplatten, die auch bei Patienten mit offenen Wachstumsfugen eingesetzt werden, oder Implantate, die Biofeedback über das Knochenregenerat geben können. Trotzdem wird es eine anspruchsvolle Behandlungsmethode bleiben, die Erfahrung – insbesondere bei der Beherrschung der möglichen Komplikationen – voraussetzt.
Interessenkonflikt
Dr. Vogt bekam Kongressgebühren- und Reisekostenerstattung von
Merete Medical, Orthofix und Nuvasive. Für Vorträge wurde er honoriert von Merete Medical und Nuvasive.
Prof. Wirth erhielt Vortragshonorare von Orthopediatris (Warsaw, USA). Studienunterstützung wurde ihm zuteil von Orthofix (Italien).
Joachim Horn, MD, PhD, ist bezahlter Berater für Nuvasive im Rahmen von Lehrprogrammen zu chirurgischen Methoden.
Prof. Rödl hält Patente und bekommt Lizenzgebühren/Tantiemen der Firma Merete für Flex Tack und Rigid Tack. Reisekosten wurden für ihn erstattet von Nuvasive, Merete und Smith & Nephew. Er wurde für Vorträge honoriert von Nuvasive und Smith & Nephew.
Die übrigen Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 31. 5. 2019, revidierte Fassung angenommen: 4. 3. 2020
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Robert Rödl
Abteilung für Kinderorthopädie, Deformitätenrekonstruktion
und Fußchirurgie
Universitätsklinikum Münster, Albert-Schweitzer-Campus 1,
Gebäude A1, 48129 Münster
roedl@ukmuenster.de
Zitierweise
Vogt B, Gosheger G, Wirth T, Horn J, Rödl R: Leg length discrepancy—treatment indications and strategies.
Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 405–11.
DOI: 10.3238/arztebl.2020.0405
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Zusatzmaterial
Mit „e“ gekennzeichnete Literatur:
www.aerzteblatt.de/lit2420 oder über QR-Code
cme plus
Dieser Beitrag wurde von der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- und Weiterbildung zertifiziert. Die Fragen zu diesem Beitrag finden Sie unter http://daebl.de/RY95. Einsendeschluss ist der 11. Juni 2021.
Die Teilnahme ist möglich unter cme.aerztebatt.de
Prof. Dr. med. Georg Gosheger
Abteilung für Kinderorthopädie, Deformitätenrekonstruktion und Fußchirurgie,
Universitätsklinikum Münster: Prof. Dr. med. Robert Rödl, Dr. med. Björn Vogt
Orthopädische Klinik, Olgahospital/Frauenklinik, Klinikum Stuttgart: Prof. Dr. med. Thomas Wirth
Oslo University Hospital, Oslo: Joachim Horn, MD, PhD
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