POLITIK
Psychotherapie in der Coronakrise: Trendwende in der Online-Psychotherapie


Seit Beginn der COVID-19-Pandemie hat die Psychotherapie per Videotelefonie an großer Bedeutung gewonnen. Das stellt Psychotherapeuten und Patienten vor besondere Herausforderungen.
Die COVID-19-Pandemie hat in Windeseile eine Trendwende in Bezug auf Online-Psychotherapie herbeigeführt. Krisenbedingt haben Kassenärztliche Bundesvereinigung und GKV-Spitzenverband im März beschlossen, dass die Richtlinien-Psychotherapie ebenso wie die Psychotherapeutische Sprechstunde und probatorische Gespräche während der Coronapandemie auch per Videotelefonat möglich sind. Danach können in begründeten Einzelfällen die Beratung und Diagnostik von Patienten auch ohne unmittelbaren Kontakt erfolgen. Zudem sind während der Coronakrise Videobehandlungen unbegrenzt möglich, das heißt ihre Beschränkung auf maximal 20 Prozent der Patienten wurde ausgesetzt. Therapien über das Telefon sind auch möglich, allerdings nicht für neue Patienten (1). Im Folgenden werden einige Herausforderungen für Psychotherapeuten sowie für Patienten skizziert, die sich daraus ergeben (2, 3, 4).
Settingwechsel herausfordernd
In der Coronakrise wurden Therapien entweder digital begonnen – und unter Umständen auch in diesem Setting zu Ende geführt. In diesem Fall handelt es sich um reine Online-Psychotherapien. In den meisten Fällen jedoch werden Psychotherapeuten ihre Patienten in laufenden Behandlungen per (Video)telefonie weiterbehandelt haben. Dabei handelt es sich dann um sogenannte Blended-Therapy-Ansätze, das heißt die traditionelle Behandlung wird mit digitalen Interventionen kombiniert, indem zum Beispiel ein Umstieg von Face-to-Face- auf Online-Sitzungen stattfindet oder zwischen diesen beiden Settings gewechselt wird. Entscheiden sich Patient und Therapeut für die Fortführung der Therapie im (video)basierten Setting, so stand weiterhin offen, dass der Patient etwa im Krisenfall wieder die Praxis aufsucht, unter Einhaltung bestimmter Hygieneregeln (5).
Dass entsprechende Setting-Änderungen unmittelbar Einfluss auf die therapeutische Beziehung nehmen, ist evident. Während umfangreiche Literatur über die entscheidende Rolle der therapeutischen Beziehung in der Face-to-Face-Psychotherapie existiert, ist die Forschung über die therapeutische Allianz bei Internetinterventionen noch begrenzt. Belege dafür, dass im Rahmen einer Online-Psychotherapie mit Kontakt zu einem Therapeuten eine stabile und positive therapeutische Beziehung aufgebaut werden kann, stehen uns jedoch schon lange zur Verfügung (für eine Übersicht zu den existierenden Studien zur therapeutischen Beziehung im Online-Setting differenziert für kognitiv-behaviorale und psychodynamische Online-Therapien siehe 6). So belegen hochwertige randomisiert-kontrollierte Studien, dass die therapeutische Beziehung im Videotelefonie-Setting vergleichbar zu der im Face-to-Face-Setting bewertet wird (7). Allerdings ist bisher auf empirischer Basis nichts darüber bekannt, wie Therapeut und Patient diese Setting-Wechsel erleben, also den Wechsel aus dem bekannten Setting in der Therapiepraxis auf das Online-Setting und auch wieder zurück. Entsprechende Begleitforschung wäre wichtig, um sowohl vonseiten der Therapeuten als auch der Patienten diese Wechsel hinsichtlich der Auswirkungen auf die therapeutische Beziehung zu erfassen. Die Sigmund Freud PrivatUniversität hat daher eine entsprechende Studie initiiert.
Von Psychotherapeutenkammern und Fachverbänden wurden sehr zeitnah nach den neuen gesetzlichen Regelungen zur psychotherapeutischen Fernbehandlung Handzettel zusammengestellt, die Psychotherapeuten die wichtigsten Regeln für die Umsetzung von vor allem Videotelefoniesitzungen vermitteln sollen. Ein Beispiel dafür sind die Empfehlungen zur Durchführung videokonferenzbasierter Psychotherapie der Interessensgruppe E-Health in der Fachgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (8). Die Handzettel tragen die wichtigsten datenschutzrechtlichen Voraussetzungen (so sind beispielsweise nur zertifizierte Videotelefonieprogramme zugelassen, 9), Hinweise zum organisatorischen Ablauf (zum Beispiel ist vor der ersten Sitzung eine schriftliche Einwilligungserklärung der Patienten einzuholen) und zu technischen Bedingungen (man sollte etwa vor der ersten Nutzung der Videokommunikationssoftware diese mit einer Person, die kein Patient ist, testen) zusammen. Auch zur konkreten Durchführung einer Sitzung werden Hinweise gegeben (Störquellen wie Mobiltelefone sind patienten- wie therapeutenseits auszuschalten), ebenso wie mit technischen Störungen umgegangen werden kann (Ausweichen auf alternative Kontaktmöglichkeiten wie Anrufe, wenn die Internetverbindung ausfällt).
Fort- und Weiterbildung nötig
Natürlich sind diese Handreichungen wichtig, jedoch nur eine Behelfsmaßnahme, die keine qualifizierten Fort- und Weiterbildungen ersetzt. Diese sind jedoch auch in einer Situation, die einen schnellen Einsatz von Videotelefonietechnologien erfordert, notwendig, um im Online-Setting behandeln zu können. Ebenso können kurzgefasste Handzettel natürlich nicht alle Herausforderungen und möglichen Probleme in diesem meist ungewohnten Setting abbilden. Ein wichtiges Thema sind hier unter anderem mögliche Grenzverletzungen auf beiden Seiten (10), die häufig unbewusst passieren (Aufweichen von Setting-Regeln; Patient isst während der Sitzung oder Familienangehörige laufen durchs Zimmer).
Sehr grundlegend sind ebenso behandlungstechnische Fragen. Wie können die jeweiligen Methoden eines Therapieverfahrens an das Video-Setting adaptiert werden? Dies wirft für psychoanalytische Behandlungen ganz andere Fragen auf (zum Beispiel nach anderen Qualitäten in der Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehung; 11) als für systemische Therapien (welche technischen Voraussetzungen braucht es, um mit mehreren Familienmitgliedern eine Videositzung abzuhalten?), die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (12) oder für die Verhaltenstherapie (wie können videobasierte Sitzungen durch strukturierte Onlinemodule, wie zum Beispiel minddistrict.com, ergänzt werden?). Gleichzeitig werden aber auch Technikaffinität und -kompetenz der Patienten wie der Therapeuten, Persönlichkeitsmerkmale und Strukturniveau des Patienten sowie die Behandlungsphase Einfluss darauf haben, ob das (Video)telefonie-Setting progressive oder eher regressive Entwicklungen des Patienten fördert und damit indiziert ist (2).
Aus der Psychotraumatologie ist bekannt, dass Belastungsreaktionen sich häufig zeitversetzt zeigen, das heißt drei bis sechs Monate nach einem akuten Ereignis. Wenden wir diese Erkenntnisse auf die Coronakrise an, so müssen wir sicherstellen, dass – auch in der Coronakrise spezifisch installierte – digitale psychosoziale Hilfsangebote auch nach Abklingen der ersten Welle weiter aufrechterhalten werden. Gleichzeitig werden bei einem Teil der Patienten Befürchtungen (13) für eine zweite Welle bestehen, sodass psychische Probleme aufgrund der Coronakrise noch länger vorherrschen werden (14). Univ.-Prof. Dr. phil. habil.
Christiane Eichenberg,
Sigmund Freud PrivatUniversität Wien
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/pp/lit0620
Umfrage: Videobehandlung nicht der „Goldstandard“
Zwei Drittel der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten schätzen die Wirksamkeit einer Videobehandlung im Vergleich zum persönlichen Kontakt als schlechter ein. Das ergab eine Blitzumfrage der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV), die ihre Mitglieder zwischen dem 3. und 7. April zur Nutzung von Videosoftware und Telefon während der Coronapandemie befragt hatte. 4 466 in der ambulanten Versorgung tätige Psychotherapeuten haben geantwortet, davon fast 90 Prozent Vertragspsychotherapeuten in eigener Praxis. (https://tinyurl.com/dptvvideo 2020). „Der Goldstandard in der Psychotherapie ist der persönliche Kontakt und wir hoffen, dass dieser bald wieder problemlos möglich sein wird“, kommentierte Gebhard Hentschel, Bundesvorsitzender der DPtV.
Dem Berufsverband zufolge gaben 77 Prozent der Umfrageteilnehmer an, dass sie die Möglichkeit von Videobehandlungen nutzen – 95 Prozent davon erst seit Beginn der Krise. Die Befragten, die Video einsetzten, versorgten auf diesem Wege im Durchschnitt 40 Prozent ihrer Patienten. In 15 Prozent dieser Praxen werden sogar 90 bis 100 Prozent der Patient per Video behandelt. 50 Prozent der befragten Psychotherapeuten sahen weitere Nachteile der Videobehandlung: Sie gaben an, dass dieses Setting sie mehr anstrenge. Zudem erschwere das Fehlen des direkten Blickkontakts für 39 Prozent die Therapie.
Trotzdem könnten sich 57 Prozent der Befragten vorstellen, auch nach der Coronapandemie Videositzungen anzubieten – 19 Prozent lehnten dies ab, ein Viertel hat sich noch keine Meinung gebildet. „Die Erfahrungen sind sehr unterschiedlich. Wichtig ist aber, dass Psychotherapeuten in diesen Zeiten flexible Möglichkeiten haben“, betonte Hentschel. Die DPtV fordert deshalb eine Verlängerung der Ausnahmeregelungen um ein weiteres Vierteljahr. PB
Seit Beginn der COVID-19-Pandemie hat die Psychotherapie per Videotelefonie an großer Bedeutung gewonnen. Das stellt Psychotherapeuten und Patienten vor besondere Herausforderungen.
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