ArchivDeutsches Ärzteblatt PP6/2020Charles Dickens (1812–1870): Kindheit voller Licht und Schatten

KULTUR

Charles Dickens (1812–1870): Kindheit voller Licht und Schatten

A., Sandra Krämer M.

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Er stieg aus Armut und kleinbürgerlichen Verhältnissen auf zum erfolgreichsten Autor seiner Zeit; die eigene Herkunft jedoch vergaß er nie. Als er am 9. Juni vor 150 Jahren starb, hinterließ er ein großes literarisches und soziales Erbe.

Foto: picture-alliance/United Archives/TopFoto
Foto: picture-alliance/United Archives/TopFoto

Zwölf Jahre ist er alt, als sich ihm eine bis dato unbekannte Welt eröffnet, die sich in ihm einbrennt; Hunger und Kälte, der „Schmerz der Erniedrigung“, das Gefühl des Verlassenseins gepaart mit Hoffnungslosigkeit. Noch Jahre später – so Charles Dickens, inzwischen „ein erwachsener Mann, berühmt, geschätzt und glücklich“ – „wandere ich in trostloser Einsamkeit zurück in jene Zeit meines Lebens …“ (1).

Aufgewachsen in Chatham, wo der Vater als königlicher Marinezahlmeister für die Regierungswerft Portsmouth verantwortlich ist, verlebt er zunächst eine sorgenfreie Kindheit. Er darf die Schule besuchen, lernt die Theaterwelt kennen und macht sich vertraut mit der zeitgenössischen Literatur. Doch nach der Versetzung des Vaters nach London 1822, und den damit einhergehenden Verdiensteinbußen, gerät die Familie in eine finanzielle Krise. Schulden bestimmen den Alltag, erzwingen den Umzug in ein Mietshaus in Camden Town und den Abbruch des Schulbesuches. 1824 wird der Vater im Schuldgefängnis Marshalsea inhaftiert, wohin ihm die Mutter und Geschwister folgen. Charles muss – um den Unterhalt der Familie zu erwirtschaften – in Warren’s Blacking Factory arbeiten, wo er mit anderen Kindern Schuhwichsgefäße verschließt und etikettiert.

Awaiting Admission to the Casual Ward (Warteschlange vor dem Obdachlosenasyl), 1874 (nach Charles Dickens). Öl/Lw. Royal Hollowas and Bedford New College, Surrey. Foto: picture alliance/akg-images.
Awaiting Admission to the Casual Ward (Warteschlange vor dem Obdachlosenasyl), 1874 (nach Charles Dickens). Öl/Lw. Royal Hollowas and Bedford New College, Surrey. Foto: picture alliance/akg-images.

Arme und einsame Kinder

Später lebt die Familie unter Auflage der Schuldentilgung in Somers Town, einem Armeleuteviertel. 1827 wird Charles als Anwaltsgehilfe in einer Londoner Kanzlei eingestellt. Der Fünfzehnjährige erlernt das Stenografieren und verfasst Gerichts- und Parlamentsreportagen.

Im Herbst 1833 reicht er seine erste belletristische Textofferte bei der Monthly Magazine-Redaktion ein. Es ist der Auftakt zu einer Reihe von regelmäßig in verschiedenen Zeitungen publizierten Erzählungen, die 1836 gesammelt in Buchform erscheinen. Der Titel „Skizzen“ ist Programm: die Zeichnung der Buntheit der Welt in ihren kleinsten Details, eingebettet in die Landschaft des frühviktorianischen Londons; das Autorenpseudonym „Boz“ schon bald Inbegriff eines unverwechselbaren satirisch-humoristischen zugleich emphatischen Stils und einer bewusst gewählten kontrastiven Perspektivtechnik: „... die dunkelste Seite eines Bildes zu betrachten, welche sich willkürlich verschieben kann. (…) Es gibt Schatten in allen guten Bildern, aber es ist auch Licht darin“ (2).

„Keine Worte können die heimliche Agonie meiner Seele ausdrücken, (…) wenn ich diese Genossen mit den Gefährten meiner glücklicheren Kindheit verglich …“ (3), schreibt Dickens in seinem autobiografischen Fragment. Er erinnert sich Bob Fagins, ein Waisenjunge „in einer zerlumpten Schürze und mit einer Mütze aus Papier“, sowie Paul Greens, dessen Vater als Beleuchter am Drury-Lan-Theater arbeitet; allzeit gegenwärtig bleibt ihm die Schuhwichsfabrik, „ein verwinkeltes, verfallendes altes Haus, das über den Fluss hinausragte und in dem es von Ratten wimmelte“ (4), das Gefängnis, in dem er sonntags den Vater besucht, die kärglichen Mahlzeiten in seiner Dachkammer in Camden Town, die Wege durch die schmutzigen Viertel Londons mit seinen Kneipen, Bordellen und Leihhäusern, die Straßen mit den kleinen Läden und billigen Pensionen. Es sind die Schauplätze, an die Dickens seine Leser führt; die Figuren, mit denen er sie bekannt macht. „Die Dinge“ darzustellen, „wie sie tatsächlich sind“ (5), schreibt er im Vorwort zu „Oliver Twist“ (1838) – Dickens schärfste Anklage gegen das Poor Law Amendment Act von 1834. Sein wohl bekanntester Held, der im Armenhaus aufwächst, später in die Fänge einer Bande, die Waisenkinder zu Dieben ausbildet, gerät; und durch die von Elend, Prostitution und Kriminalität gezeichneten Slums von London irrt, bevor er seine wahre Herkunft entdeckt. Auch Amy, genannt „Little Dorrit“ (1857), hat einen schlechten Start ins Leben. Geboren im Schuldgefängnis Marshalsea, bringt die Halbwaise sich und ihren dort inhaftierten Vater mit Näharbeiten durch. Nach ihrem sozialen Aufstieg infolge einer Erbschaft, jedoch durch ruinöse Unternehmer zurück in die Armut getrieben, kämpft sie erfolgreich gegen die Auswüchse einer inhumanen Gesellschaft. Ausgemergelt und seelisch gebrochen stirbt Smikes, Schüler an der „Dotheboys Hall“. Die mit sprechenden Namen beschriebene Lehranstalt ist Schauplatz von „Nicholas Nickleby“ (1839) und Missständen im Erziehungswesen: sadistische Quälerei und körperliche Züchtigung armer, meist unerwünschter und daher von Eltern und Vormündern ganzjährig in den Schulen von Yorkshire untergebrachter Kinder. Fehlende Fürsorge und Vernachlässigung infolge von Egoismus und Verantwortungslosigkeit müssen auch Esther, Ada, Jo und die anderen Kinder in „Bleakhaus“ (1853) sowie das Slumkind in „Firma Dombey und Sohn“ (1848) erfahren. Ein Parlamentsbericht über die Ausbeutung der Kinder in den Fabriken ist es, der Dickens 1843 zu „A Christmas Carol“ animiert. Die Verkündung seiner Philosophie – Verantwortung füreinander und Nächstenliebe – wird in den kommenden Jahren zur weihnachtlichen Tradition („Die Glocken“, „Der Heimgesuchte“, „Das Heimchen am Herde“ und andere).

Oliver Twist wagt es im Armenhaus, um eine zweite Portion Porridge zu bitten. Illustration von J. Mahoney (fl 1856–76) für „The Adventures of Oliver Twist“ von Charles Dickens, London, 1871. Foto: picture alliance/Heritage Images/The Print Collector
Oliver Twist wagt es im Armenhaus, um eine zweite Portion Porridge zu bitten. Illustration von J. Mahoney (fl 1856–76) für „The Adventures of Oliver Twist“ von Charles Dickens, London, 1871. Foto: picture alliance/Heritage Images/The Print Collector

Soziales Engagement

Auch Dickens journalistisches Wirken – von 1837 bis 1839 ist er Herausgeber des Magazins Bentley’s Miscellany, ab 1839 der Wochenzeitschrift Master Humphrey’s Clock, in den 1850er-Jahren von Household Words und All the Year Round – steht im Zeichen sozialkritischer Auseinandersetzung. Das Spektrum reicht von Armenfürsorge, Erziehung und Einrichtung von Schulen für Bedürftige und geistig Behinderte über Arbeitsschutz, Wohn- und Hygienemaßnahmen bis hin zur Rehabilitierung Straffälliger. Hierbei verweist der Autor stets auf den Teufelskreis von Armut, Schmutz, Krankheit, Unwissenheit und Kriminalität, den es zu durchbrechen gilt, und wirbt für präventive Maßnahmen. Auch im Rahmen von Reden, Lesungen und Benefizveranstaltungen bei wohltätigen Organisationen propagiert er die Dringlichkeit von Reformen, er bringt sich in politisch-gesellschaftliche Debatten ein und beteiligt sich aktiv an der Umsetzung verschiedener Projekte. So unterstützt er in den 1840er-Jahren das Gesetz zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Kohlegruben sowie das Beschäftigungsverbot von Kindern unter zehn Jahren in den Bergwerken inklusive Reduzierung ihrer Arbeitszeit. Gemeinsam mit der Philanthropin und Millionärin Angela Burdett-Coutts gründet er 1843 die ersten „Ragged Schools“, gebührenfreie Schulen für die Slum-Kinder in der Field Lane, eröffnet 1847 das Urania Cottage im Westen Londons, ein Haus zur Rehabilitierung von Prostituierten und straffällig gewordenen Frauen und Mädchen, und 1858 engagiert er sich für das „Hospital for Sick Children“. Jegliche Formen seines Engagements basieren auf Dickens Verständnis von der Gesellschaft als eines organischen Ganzen, in dem jeder Einzelne Verantwortung für die sozialen Verhältnisse trägt.

Der Kreis schließt sich

1849 gelangt Dickens bekannteste und persönlichste Kindergestalt zu Weltruhm. Indem er den Lebensweg von „David Cooperfield“ vom armen Jungen zum angesehenen, viktorianischen Bürger nachzeichnet, kleidet er seine eigene soziale Entwicklung in ein fiktives Gewand. Sein schriftstellerischer Erfolg verhilft ihm zu Wohlstand und Ansehen; er verkehrt in den Kreisen der liberalen Intellektuellen Londons und nähert sich dem Lebensstil des viktorianischen Gentry an.

Gad`s Hill Place – ein prachtvolles Anwesen bei Rochester, das ihm der Vater in seiner Kindheit einmal gezeigt hat, ist seither für ihn Inbegriff des standesgemäßen Landsitzes eines Gentlemans. Hierher kehrt er im Juni 1857 zurück und erwirbt es für sich und seine Familie; wissentlich dass „ich einmal, wie jetzt dieses Buch, mein Leben beschließe und meine Wanderung auf jenem geheimnisvollen Pfad antreten muss, von der noch keiner zurückgekehrt ist“ (6).

Sandra Krämer M. A.
Sandra.Kraemer@studium.uni-hamburg.de

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/pp/lit0620

1.
Forster J: The Life of Charles Dickens. 3 Bände. London 1872–74, übersetzt von Friedrich Althaus (vom Verfasser autorisiert); hier: Bd. 1; Kap. 2.
2.
Dickens Ch: Leben und Schicksale des Nicholas Nickleby. In: Färber M, Hermann P, Schiller KM (Hg.): Charles Dickens. Werke in zwölf Bänden (Monumentalausgabe). Meersburg/Leipzig 1827–33; hier Bd. 9.
3.
Forster J; Bd. 1; Kap. 2.
4.
Ebd.
5.
Dickens Ch: Oliver Twist. In: CD. Gesammelte Werke; Bd. 3.
6.
Dickens Ch: Lebensgeschichte und Erfahrungen David Copperfields des Jüngeren. In: CD. Gesammelte Werke; Bd. 1.
7.
Andrews M: Dickens and the Grown-Up-Child. Iowa City 1994; Gelfert HD: Charles Dickens der Unnachahmliche. Biografie. München 2011; Maack A: Charles Dickens. Epoche – Werk – Wirkung. München 1991; Reinhold H (Hg): Charles Dickens. Sein Werk im Lichte neuer deutscher Forschung. Heidelberg 1969; Schmidt JN: Dickens. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1978; Slater M: Charles Dickens. London 2009 / Smith G: Charles Dickens. A Literary Life. London 1996.
1. Forster J: The Life of Charles Dickens. 3 Bände. London 1872–74, übersetzt von Friedrich Althaus (vom Verfasser autorisiert); hier: Bd. 1; Kap. 2.
2. Dickens Ch: Leben und Schicksale des Nicholas Nickleby. In: Färber M, Hermann P, Schiller KM (Hg.): Charles Dickens. Werke in zwölf Bänden (Monumentalausgabe). Meersburg/Leipzig 1827–33; hier Bd. 9.
3. Forster J; Bd. 1; Kap. 2.
4. Ebd.
5. Dickens Ch: Oliver Twist. In: CD. Gesammelte Werke; Bd. 3.
6. Dickens Ch: Lebensgeschichte und Erfahrungen David Copperfields des Jüngeren. In: CD. Gesammelte Werke; Bd. 1.
7. Andrews M: Dickens and the Grown-Up-Child. Iowa City 1994; Gelfert HD: Charles Dickens der Unnachahmliche. Biografie. München 2011; Maack A: Charles Dickens. Epoche – Werk – Wirkung. München 1991; Reinhold H (Hg): Charles Dickens. Sein Werk im Lichte neuer deutscher Forschung. Heidelberg 1969; Schmidt JN: Dickens. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1978; Slater M: Charles Dickens. London 2009 / Smith G: Charles Dickens. A Literary Life. London 1996.

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