ArchivDeutsches Ärzteblatt24/2020Das Gesundheitssystem und die Coronakrise: Alte Baustellen nicht vergessen

SEITE EINS

Das Gesundheitssystem und die Coronakrise: Alte Baustellen nicht vergessen

Maibach-Nagel, Egbert

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS
Egbert Maibach-Nagel, Chefredakteur
Egbert Maibach-Nagel, Chefredakteur

Deutschlands Gesundheitssystem hat die COVID-19-Pandemie im internationalen Vergleich bisher vorzeigbar bewältigt. Die Infektions- und Todesfallzahlen sind im globalen wie auch europaweiten Ranking niedrig.

Damit bestätigt zumindest die Statistik die Qualität des nationalen Gesundheitswesens auch im Umgang mit einer Krise. Bevölkerung wie auch Politiker haben – anfangs fast euphorisch, später eher zurückhaltend – gelobt, dass Ärzteschaft und Pflege in Krankenhäusern, aber auch im ambulanten Bereich einen wirklich „guten Job“ gemacht haben.

Im Zuge der jetzt möglichen ersten Zwischenbilanz gibt es zum Teil sehr kontrovers geführte Diskussionen um Sinn oder Unsinn des beschrittenen Wegs. Ob das unabwendbar zum gesellschaftlichen Leben gehört, sei dahingestellt. Der Disput ist aber Indiz, dass anfänglich vorherrschende Gefühle existenzieller Not inzwischen verfliegen. Damit umzugehen, ist Aufgabe von Politik und Gesellschaft. Die von Politik wie Bevölkerung gestartete Auseinandersetzung um das „richtig oder falsch“ ist wieder einmal getragen von Kategorien wie Schuld oder Erfolg. Trotzdem: Konjunktive wie „hätte“, „wäre“ oder „sollte“ sind selten Katalysatoren für zielführende Diskussionen.

In der medizinischen Fachwelt gelten andere Maßstäbe: Es ist Zeit für eine kritische, aber sachbezogene Aufarbeitung und Analyse. Die Bestandsaufnahme der bisher gesammelten Erfahrungen soll helfen, COVID-19 besser zu verstehen und Ansätze für einen angepassten Umgang eines eventuellen weiteren Pandemieverlaufs zu schaffen. Abgesehen von vereinzelten, dafür um so heftiger mit journalistischer Provokation öffentlich ausgetragenen Expertendiskussionen wird in den aktuellen Absichten eher der Wille zur Zusammenarbeit betont.

Wichtig ist auch ein pragmatischer Blick zurück auf die Zeit vor der Pandemie. Trotz seiner qualitativ hochwertigen medizinischen Leistungsfähigkeit hatte das deutsche Gesundheitssystem, wie der Präsident der Bundesärztekammer und Hartmannbund-Vorsitzende Dr. med. (I) Klaus Reinhardt jüngst erinnerte, eine Reihe von Baustellen. Dort musste die Arbeit im Zuge der Pandemie zwischenzeitlich eingestellt werden. Probleme wie die Überlastungen in der Notfallversorgung, aber auch der weiter steigende Ärzte- und Pflegemangel wurden in Zeiten von COVID-19 nicht erledigt. Natürlich weiß Reinhardt um die vorrangigen Aufgaben der letzten Monate, um die in der Krise gewachsenen wirtschaftlichen Aufwendungen, vor allem auch um die aus den jüngsten Erfahrungen resultierende Neubetrachtung der Probleme. Dazu zählt sicherlich eine andere Perspektive auf die Kapazitäten der stationären Versorgung in Deutschland. Dazu zählt auch der nüchterne Blick auf die Arbeitssituation der Angestellten in Deutschlands Gesundheitswesen, um nur einige der Baustellen zu nennen.

Unbenommen: Politik und Gesellschaft müssen sich darum kümmern, die „Lok“ Wirtschaft wieder ans Laufen zu kriegen. Trotzdem: Wer aber aus der Krise gelernt hat, weiß, welches Gewicht eine gute medizinische Versorgung für uns alle hat. Wer die Herausforderungen und Emotionen der vergangenen Wochen nicht vergessen hat, weiß um den Wert eines guten Gesundheitssystems. Applaus ist schön, hilft aber nicht, angestammte Probleme zu lösen. Die muss man angehen.

Egbert Maibach-Nagel
Chefredakteur

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote