THEMEN DER ZEIT
Flüchtlingsunterkünfte: Plötzlich ein Corona-Hotspot


Sammelunterkünfte und Asylbewerberheime können einer aktuellen Studie zufolge wegen der hohen Personendichte zu Brennpunkten für Infektionen mit SARS-CoV-2 in Deutschland werden.
Während derzeit vielerorts die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-
Pandemie gelockert werden, bleibt die Situation in vielen Flüchtlingsunterkünften in Deutschland angespannt. Gerade in größeren Unterkünften ist es für die Menschen schwierig, Kontakte zu vermeiden und sich zu schützen.
Auch nachweislich sind Flüchtlinge in Sammelunterkünften besonders gefährdet, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren und an COVID-19 zu erkranken. Das ist das Ergebnis der aktuellen Studie des Epidemiologen Prof. Dr. med. Kayvan Bozorgmehr, Leiter der Arbeitsgruppe Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld.
Gemeinsam mit Wissenschaftlern des Kompetenznetzes Public Health COVID-19 analysierte er in den vergangenen Wochen Infektionsdaten aus 42 Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete in elf Bundesländern. Dabei zeigte sich: In den betroffenen Sammelunterkünften wurden von 9 785 Geflüchteten insgesamt 1 769 Personen positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Statistisch ergibt sich daraus ein Ansteckungsrisiko von 17 Prozent für alle anderen Bewohner dieser Unterkünfte.
Risiko wie bei Kreuzfahrten
Die Ergebnisse ließen sich allerdings nicht auf alle Geflüchteten übertragen, da man nur Sammelunterkünfte in Deutschland untersucht habe, in denen mindestens ein COVID-19-Fall aufgetreten sei, erklären die Autoren der Studie. Sicher sei jedoch: Wenn sich in einer Sammelunterkunft eine SARS-CoV-2-Infektion bestätige, sei das Risiko einer Infektion für alle anderen Menschen in dem Heim ebenfalls hoch – vergleichbar mit dem Ausbreitungsrisiko auf Kreuzfahrtschiffen.
In ihrer Studie untersuchten die Wissenschaftler auch, welche Maßnahmen angeordnet wurden, um die Ausbreitung in den Heimen einzudämmen. Das Ergebnis: In den meisten betroffenen Einrichtungen (71 Prozent) wurde eine Kollektivquarantäne eingeleitet. Es wurden also für alle Bewohner Kontakt- und Ausgangssperren verhängt, auch wenn sie nicht selbst positiv getestet oder in engem Kontakt zu Personen standen, die positiv getestet wurden. Einen positiven Effekt hatte dies im Vergleich zu einer Einzelquarantäne nicht. Der Politik und den Behörden raten die Autoren deshalb, bundesweite Empfehlungen zu entwickeln, um die Prävention und Eindämmung von SARS-CoV-2 in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften zu vereinheitlichen und zu verbessern.
Flüchtlingsinitiativen fordern seit einiger Zeit von der Bundesregierung, Massenunterkünfte aufzulösen. Der Schutz vor Ansteckung sei dort unmöglich, so die Vereinigung der Flüchtlingsräte, Pro Asyl und der Städteverbund Seebrücke. „Große Flüchtlingsunterkünfte dürfen nicht zu neuen Corona-Hotspots werden“, betont auch Diakonie-Präsident Ulrich Lilie und fordert ebenfalls eine dezentrale Unterbringung der Flüchtlinge. Dies sei der beste Schutz – für sie und die ganze Gesellschaft.
„Die Diakonie fordert seit Jahren gute Standards der Unterbringung. Corona belegt, dass das Konzept, viele Menschen auf engem Raum zusammenzupferchen, der falsche Weg ist“, sagt Lilie. Eine Unterbringung in Großunterkünften sei außerdem gar nicht notwendig, weil viele Kommunen bereits ihre Unterstützung angeboten hätten. Die Diakonie und die Caritas sowie kirchliche Tagungshäuser hätten ihre Hilfe angeboten, die Menschen dezentral unterzubringen.
Gesundheit steht auf dem Spiel
Dr. phil. Andrea Schlenker, Leiterin des Referats Migration und Integration beim Deutschen Caritasverband, hält es für die beste Prävention, zumindest Risikogruppen und Familien mit Kindern schnellstmöglich dezentral unterzubringen und damit Unterkünfte zu entlasten. „Unter Corona-Bedingungen entfaltet die Unterbringung von geflüchteten Menschen in Großunterkünften eine neue Brisanz“, erläuterte sie dem Deutschen Ärzteblatt. Zwar wären viele Einrichtungsleitungen und Mitarbeitende sehr bemüht, der Ausbreitung des Virus Einhalt zu gebieten. Doch häufig könnten Hygiene- und Abstandsregelungen einfach nicht eingehalten werden, sodass die Gesundheit von Menschen auf dem Spiel stünde.
„Neben der gesundheitlichen Problematik gibt es für die Bewohnerinnen und Bewohner noch weitere Schwierigkeiten: Aus gesundheitlichen Erwägungen heraus mussten sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die geflüchtete Menschen beraten, mancherorts aus den Unterkünften zurückziehen, ebenso wie ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, von denen nicht wenige zur Risikogruppe gehören“, gibt Schlenker zu Bedenken. Die Menschen seien zusätzlich zu den gesundheitlichen Gefährdungen durch das Virus teilweise auch isoliert und verängstigt. Diesem Aspekt werde zu wenig Rechnung getragen.
„Es kann nicht sein, dass die Politik wegschaut und hinnimmt, dass die Hygieneregeln in Flüchtlingsunterkünften nicht einzuhalten sind“, betont Caritas-Präsident Peter Neher. Die Unterbringungssituation müsse schnell angegangen werden. Dies sei gleichzeitig ein erster Schritt, die Integration zu fördern. Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
3 Fragen an . . .
Prof. Dr. med. Kayvan Bozorgmehr, Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld
Wie schätzen Sie derzeit die Ansteckungsgefahr in Flüchtlingsunterkünften ein?
Basierend auf unserer Untersuchung ist das Ansteckungsrisiko in Sammelunterkünften bei Auftreten einer Coronainfektion als hoch einzuschätzen. Trat ein Fall auf, lag das mittlere Risiko für die Menschen, dort ebenfalls positiv auf Sars-CoV-2 getestet zu werden, über alle 42 untersuchten Einrichtungen hinweg bei 17 Prozent. Es gab aber eine große Varianz.
Was sind aus Ihrer Sicht die Haupt-ansteckungsquellen?
Einzelne Ansteckungsquellen konnten wir nicht untersuchen. Allerdings liegt die Vermutung sehr nahe, dass die beengten Verhältnisse der Sammelunterbringung in Mehrbettzimmern, eine hohe Personendichte und das Teilen von Sanitäranlagen und (wenn vorhanden) Küchen mit mehreren Personen das Risiko der Ausbreitung fördern. Daher wären eine Reduzierung der Belegungszahlen, eine Unterbringung in Einzelzimmern und kleinen Wohneinheiten der beste Schutz vor gegenseitiger Ansteckung.
Welche Verbesserungsmaßnahmen halten Sie für dringend nötig?
Kurzfristig erscheinen drei Maßnahmen als dringend erforderlich:
Erstens, eine Einzelunterbringung in kleinen Wohneinheiten, die den Geflüchteten physische Distanzierung und Selbstisolation ermöglicht. Sind Geflüchtete vor gegenseitiger Ansteckung geschützt, stellt das den besten Schutz der öffentlichen Gesundheit dar.
Zweitens, die Erarbeitung von bundesweiten Handlungsempfehlungen zu Prävention und Eindämmung von Coronainfektionen in Sammelunterkünften. Diese sollten die bestehenden Empfehlungen des Robert Koch-Instituts auf die besondere Situation der Aufnahmeeinrichtungen anpassen und lokale Lösungen und Erfahrungen der Akteure der Flüchtlingsversorgung, aber auch wissenschaftliche sowie normativ-rechtliche Überlegungen berücksichtigen.
Drittens müssen behördliche und zivilgesellschaftliche Akteure der Flüchtlingsversorgung, insbesondere der Öffentliche Gesundheitsdienst, adäquat ausgestattet werden. Diese muss auch Ressourcen für die Sprachmittlung zur Aufklärung Geflüchteter über Maßnahmen der physischen Distanzierung und zu Testungen, Isolation oder Quarantäne enthalten.
Mittelfristig sollten die besondere Situation der Flüchtlingsaufnahme in Pandemieplänen Berücksichtigung finden und das Gesundheitsmonitoring in Aufnahmeeinrichtungen nachhaltig verbessert werden.
Ulbrich, Alexander
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