ArchivDeutsches Ärzteblatt27-28/2020Akutbelegungen – der „blinde Fleck“ im Gesundheitswesen?
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Die im Artikel von Rittberg et al. fokussierte Thematik „Akutbelegung von Krankenhäusern“ auf den folgenden Seiten beschreibt erstmals eine alarmierende Entwicklung, die im deutschen Gesundheitswesen an der Nahtstelle der präklinischen zur klinischen Akut- und Notfallmedizin stattfindet (1). 

Grundlage dieser Studie sind Daten eines interdisziplinären Versorgungsnachweis (IVENA) von Kliniken, die den Rettungsdiensten als Orientierungshilfe dienen, den richtigen Patienten zum richtigen Zeitpunkt in die optimale Versorgungsstruktur zu disponieren. Kliniken melden in Echtzeit ihre Versorgungskapazitäten und signalisieren damit den Leitstellen, dass sie zum Beispiel aufgrund fehlender Behandlungskapazitäten, Personalmangel oder bei technischen Defekten zeitweise nicht an der Notfallversorgung teilnehmen können. Diese Abmeldungen sind aber für den Rettungsdienst nicht bindend, da diese – wie die Autoren einleitend beschreiben – gegen die Berufspflicht der Ärzte verstoßen und auch im Fall einer Ablehnung eines Notfallpatienten der Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung erfüllt wird. Meldet sich aber eine Klinik bei Versorgungsengpässen nicht ab und werden dadurch nach erfolgter Notfallversorgung in einer Notaufnahme Sekundärtransporte notwendig oder kann die Notfallversorgung aus personellen oder technischen Gründen tatsächlich nicht stattfinden, stellt dies sowohl für die betroffenen Patienten als auch für die Kliniken und die verantwortlichen Ärzte ein medizinethisches und nicht zuletzt auch haftungsrechtliches Dilemma dar. 

Ernster Warnhinweis

Obwohl die Notaufnahmen als Glied einer sektorenübergreifenden Rettungskette im Fokus stehen, sind die Abmeldungen ein ernster Warnhinweis auf dringend erforderliche Maßnahmen, die über Prozessoptimierungen in den Notaufnahmen hinausgehen und auch im stationären Gesundheitssystem zu suchen sind (2).

Die oft beschriebenen Überfüllungssituationen der Notaufnahmen, kombiniert mit einer fehlenden Ab-Verlegungsmöglichkeit („Exit Block“ aus der Notaufnahme zum Beispiel durch nicht verfügbare oder betreibbare Krankenhausbetten) stellen einen erheblichen Risikofaktor für alle Notfallpatienten dar (3, 4, 5).

Diesem Risikofaktor steht aus Sicht der Notärzte und des Rettungsdienstes das Risiko einer vermeintlichen medizinischen Unterversorgung durch das in Kauf nehmen längerer Transportzeiten oder Patientendistribution in eine niedrigere Versorgungsstufe gegenüber. 

Entwicklung von Frühwarnsystemen gefordert

Die Akutbelegungen von zumeist lebensbedrohlich Erkrankten betraf 2019 im Großraum München jeden 14. Notfallpatienten, während im Jahr 2013 nicht einmal jeder 100. betroffen war. Im ersten Quartal eines jeden Jahres erreichten die Akutbelegungen Höchstwerte. Die Erklärungen für dieses erstmals beschriebene Phänomen reichen aus Sicht des Rettungsdienstes von einer Zunahme der Rettungsdienstzuweisung bis hin zu jahreszeitlich gehäuftem Auftreten von akuten respiratorischen Erkrankungen beispielsweise während einer Grippeepidemie (6). Aus Sicht der Kliniken werden jahreszeitlich gehäufte Erkrankungsfälle angeführt und nicht besetzte Pflegestellen sowie Pflegepersonaluntergrenzen diskutiert, die zu einer Verknappung der betreibbaren Bettenkapazitäten führen. Als Lösungsansätze werden organisatorische Maßnahmen und die Entwicklung von Frühwarnsystemen gefordert, um sich dynamisch auf bestimmte Ereignisse einstellen zu können (7).

Diese vorliegende Analyse fokussiert einen „blinden Fleck“ im deutschen Gesundheitssystem und gibt Anlass zu einer tiefgreifenderen Diskussion. Der Stellenwert der Notfallversorgung sowie der Vorhaltung von Krankenhausbettenkapazitäten wurde in den letzten Jahren vor allem aus der gesundheitsökonomischen Perspektive beleuchtet, zum Teil auch politisch motiviert aber kaum als ineinandergreifende Rettungskette begutachtet oder erforscht (8).

Viele offenen Fragen

Um auf der Basis der vorliegenden Arbeit Änderungen herbeizuführen, sollten nicht voreilig Schlüsse gezogen werden. Vielmehr sollten zukünftig Fragen beantwortet werden:

  • Warum werden für Notfallpatienten nicht ausreichend stationäre Behandlungskapazitäten vorgehalten, um einen „Exit Block“, der nachweislich Patienten gefährdend ist, zu verhindern?
  • Warum gibt es für die Notaufnahmen keine Mindestbesetzungen von Mitarbeitern, die einer akuten Überfüllungssituation Stand halten?
  • Warum werden Frühwarnsysteme, die sich aus Daten der Präklinik (Zuständigkeit der Innenministerien) und der Klinik (Zuständigkeit der Gesundheitsministerien) generieren nicht stärker beforscht?
  • Warum werden jahreszeitliche Schwankungen in den Bettenkapazitätsplanungen der Gesundheitsökonomen kaum berücksichtigt? 

Auch die Funktionsweise eines sogenannten Versorgungskapazitätsnachweises muss kritisch hinterfragt werden. Abmeldekaskaden und taktische Abmeldemanöver einzelner Kliniken sind nicht auszuschließen. Fragen in diesem Kontext könnten lauten:

  • Nach welchen Kriterien melden einzelne Kliniken Versorgungskapazitäten ab?
  • Warum gibt es keinen Standard?
  • Wie hoch darf die Belastungsgrenze einer Funktionseinheit oder Klinik überschritten werden?
  • Dürfen sich mehrere Kliniken in einer Region zeitgleich abmelden?
  • Welche Maßnahmen sollen dann ergriffen werden?

Auch die Reaktion des Rettungsdienstes und deren Konsequenzen bedürfen weiterer Klärung:

  • Ist die Akutbelegung wirklich nicht vermeidbar gewesen?
  • Gibt es einheitliche Kriterien, die eine Akutbelegung unter dem Gesichtspunkt einer potenziellen Patientengefährdung rechtfertigen?
  • Kann bei einer Akutbelegung immer davon ausgegangen werden, dass der Notarzt in Kenntnis ist, welche tatsächliche Belastung in der Zielklinik zur Abmeldung geführt hat?

Strukturen anstatt Notfallpläne

Mit den Regelungen zu einem gestuften System von Notfallstrukturen in Krankenhäusern in Deutschland wurde im Jahr 2018 der erste Schritt unternommen, einen Rahmen zu definieren, innerhalb dessen die Kernaufgaben der Notaufnahmen erfüllt werden können (9). Nun sollten weitere Regelungen folgen, die es ermöglichen deren Leistungsfähigkeit und ein reibungsarmes ineinandergreifen der Rettungskette an der Nahtstelle Präklinik/Klinik auch in Überfüllungssituationen zu garantieren. Abmeldungen von der Notfallversorgung, die zumindest jahreszeitlich und seit Neuestem auch pandemisch zu erwarten sein werden, sollten dann eher wieder die Ausnahme als die Regel sein (10).

Somit ist die vorliegende Arbeit von Rittberg et al. (1) auch als Einladung zu weiteren Versorgungsforschungsaktivitäten zu verstehen. Denn die Vermeidung von Versorgungsengpässen und damit einhergehenden Patientengefährdungen sollte nicht durch Notfallpläne, sondern durch Strukturen beantwortet werden.

Den Autoren und dem Deutschen Ärzteblatt ist ausdrücklich zu danken, dass sie sich dieser Thematik angenommen haben, um damit einen wichtigen ersten Impuls zu setzen.

Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Harald Dormann
Zentrale Notaufnahme, Klinikum Fürth
Jakob Henle Straße 1, 90766 Fürth
harald.dormann@klinikum-fuerth.de

Zitierweise
Dormann H: Forced centralized allocation of patients to temporarily ‘closed’ emergency departments—a healthcare loophole.
Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 463–4. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0463

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de

1.
Rittberg W, Pfüger P, Ledwoch J, et al.: Forced centralized allocation of patients to temporarily ‘closed’ emergency departments—data from a German city. Dtsch. Arztebl Int 2020; 117: 465–71 VOLLTEXT
2.
Searle J, Muller R, Slagman A, et al.: Überfüllung der Notaufnahmen. Notfall+ Rettungsmedizin 2015; 18: 306–15 CrossRef
3.
Boulain T, Malet A, Maitre O: Association between long boarding time in the emergency department and hospital mortality: a single-center propensity score-based analysis. Intern Emerg Med 2020; 3: 479–89 CrossRef MEDLINE
4.
McKenna P, Heslin SM, Viccellio P, Mallon WK, Hernandez C, Morley EJ: Emergency department and hospital crowding: causes, consequences, and cures. Clin Exp Emerg Med 2019; 3: 189–95 CrossRef MEDLINE PubMed Central
5.
Moskop JC, Geiderman JM, Marshall KD, et al.: Another look at the persistent moral problem of emergency department crowding. Ann Emerg Med 2019: 74; 357–64 CrossRef MEDLINE
6.
Sivey P, McAllister R, Vally H, Burgess A, Kelly AM: Anatomy of a demand shock: quantitative analysis of crowding in hospital emergency departments in Victoria, Australia during the 2009 influenza pandemic. PloS one 14 (9): eCollection 2019 CrossRef MEDLINE PubMed Central
7.
Dormann H, Eder PA, Gimpel H, Meindl O, Rashid A, Regal C: Assessing healthcare service quality using routinely collected data: Linking information systems in emergency care. J Med Syst 2020; 44: 113 CrossRef MEDLINE PubMed Central
8.
Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. www.svr-gesundheit.de/fileadmin/user_upload/Gutachten/2018/SVR-Gutachten_2018_WEBSEITE.pdf (last accessed on 28 May 2020).
9.
Gemeinsamer Bundesausschuss: Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Erstfassung der Regelungen zu einem gestuften System von Notfallstrukturen in Krankenhäusern gemäß § 136c Absatz 4 SGB V. www.g-ba.de/downloads/39-261-3301/2018-04-19_Not-Kra-R_Erstfassung.pdf (last accessed on 28 May 2020).
10.
Ramshorn-Zimmer A, Pin M, Hartwig T, Lordick F, Zimmermann M, Brokmann JC, Bernhard M, Gries A: Coronapandemie: Rolle der Zentralen Notaufnahme: Dtsch Arztebl 2020; 117: A-1040 VOLLTEXT
Zentrale Notaufnahmen Klinikum Fürth: Prof. Dr. med. Harald Dormann
1.Rittberg W, Pfüger P, Ledwoch J, et al.: Forced centralized allocation of patients to temporarily ‘closed’ emergency departments—data from a German city. Dtsch. Arztebl Int 2020; 117: 465–71 VOLLTEXT
2.Searle J, Muller R, Slagman A, et al.: Überfüllung der Notaufnahmen. Notfall+ Rettungsmedizin 2015; 18: 306–15 CrossRef
3.Boulain T, Malet A, Maitre O: Association between long boarding time in the emergency department and hospital mortality: a single-center propensity score-based analysis. Intern Emerg Med 2020; 3: 479–89 CrossRef MEDLINE
4. McKenna P, Heslin SM, Viccellio P, Mallon WK, Hernandez C, Morley EJ: Emergency department and hospital crowding: causes, consequences, and cures. Clin Exp Emerg Med 2019; 3: 189–95 CrossRef MEDLINE PubMed Central
5. Moskop JC, Geiderman JM, Marshall KD, et al.: Another look at the persistent moral problem of emergency department crowding. Ann Emerg Med 2019: 74; 357–64 CrossRef MEDLINE
6. Sivey P, McAllister R, Vally H, Burgess A, Kelly AM: Anatomy of a demand shock: quantitative analysis of crowding in hospital emergency departments in Victoria, Australia during the 2009 influenza pandemic. PloS one 14 (9): eCollection 2019 CrossRef MEDLINE PubMed Central
7. Dormann H, Eder PA, Gimpel H, Meindl O, Rashid A, Regal C: Assessing healthcare service quality using routinely collected data: Linking information systems in emergency care. J Med Syst 2020; 44: 113 CrossRef MEDLINE PubMed Central
8. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. www.svr-gesundheit.de/fileadmin/user_upload/Gutachten/2018/SVR-Gutachten_2018_WEBSEITE.pdf (last accessed on 28 May 2020).
9.Gemeinsamer Bundesausschuss: Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Erstfassung der Regelungen zu einem gestuften System von Notfallstrukturen in Krankenhäusern gemäß § 136c Absatz 4 SGB V. www.g-ba.de/downloads/39-261-3301/2018-04-19_Not-Kra-R_Erstfassung.pdf (last accessed on 28 May 2020).
10. Ramshorn-Zimmer A, Pin M, Hartwig T, Lordick F, Zimmermann M, Brokmann JC, Bernhard M, Gries A: Coronapandemie: Rolle der Zentralen Notaufnahme: Dtsch Arztebl 2020; 117: A-1040 VOLLTEXT

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