
Als Instrument, Defizite und Ressourcen, aber auch Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken von älteren Patienten zu erfassen, ist das geriatrische Assessment bereits erprobt. Ziel ist nun, es auch zur Verbesserung der Behandlung älterer Patienten mit Krebserkrankungen zu nutzen.

Ältere Patienten sind in onkologischen Therapiestudien häufig unterrepräsentiert. Foto: CaroleGomez/iStock
Neue Therapien auf molekularer Basis ermöglichen aufgrund ihrer meist geringeren Toxizität und höheren Effektivität im Vergleich zur zytotoxischen Chemotherapie, dass immer mehr ältere, darunter auch hochaltrige Patienten einer kausalen Tumortherapie zugeführt werden und davon profitieren können. Dies gilt sowohl hinsichtlich Lebensqualität als auch der Überlebenszeit.
Alter der Patienten wird selten berücksichtigt
Dennoch sind ältere Patienten in onkologischen Therapiestudien (1) unterrepräsentiert (2). Selbst dann, wenn ältere Patienten in Studien eingeschlossen werden, wird der Funktions- und Morbiditätsstatus mithilfe eines geriatrischen Assessment zumeist nicht erhoben (3, 4). Vielmehr entscheidet meist das numerische Alter über Art und Ausmaß der Therapie, sei sie systemisch (5) oder chirurgisch (6). Dabei zeigen eine Reihe von Register-Studien, dass der Funktionsstatus inklusive Mobilität und Kognition besser mit der Prognose korreliert als das numerische Alter (7; 8; 9). Assessments sagen dabei das klinische Outcome vorher. Für diese alte Hypothese der Geriatrischen Onkologie existieren immer mehr belastbare Daten entitätsübergreifend, aber auch entitätsgebunden (10, 11, 12, 13, 7, 8, 14, 15, 16).
Zudem gibt es konsentierte Vorschläge zum Umfang und Einsatz eines solchen Assessments, durch Arbeitsgruppen (17, 18) und von Fachgesellschaften. Neben Therapieplanung und Abschätzung der Prognose geht es auch darum, Ansätze für geriatrische Interventionen zu identifizieren (19, 20). Bleibt die Frage, wie ein solches Assessment in die onkologische Entscheidungsfindung integriert werden kann.
Ein etabliertes, wenn auch nicht durch randomisierte Studien bezüglich Aufwand und Ergebnis abgesichertes Format der Entscheidungsfindung und Risikostratifikationen in der Onkologie ist das sogenannte „Tumorboard“, das die beteiligten Disziplinen an einen Tisch bringt und anhand radiologischer Befunde, Histologie/molekularer Diagnostik und weiterer Befunde die Empfehlungen für eine definierte Therapie ausspricht und mit Blick auf neu verfügbare Therapien auf molekularer Basis auch zu einer „personalisierten Empfehlung“ führt. „Personalized Medicine“ im besten Wortsinne impliziert aber auch, dass neben krankheitsbezogenen Kriterien durchaus auch jene, oft als „weich“ bezeichnete (patientenbezogene) Risikofaktoren, wie Patienten-„Fitness“ und „Performance-Status“ an Bedeutung gewinnen (21). Diese werden jedoch selten standardisiert erhoben oder beschränken sich oft auf eine grobe Einschätzung, obwohl Scores für die Risikoabschätzung bei älteren Patienten nur sehr begrenzte Aussagekraft haben und häufig überschätzt werden (22, 23).
„Personalisierte Medizin ohne Ansehen der Person“
Ein auf die Besonderheiten der älteren Patienten zugeschnittenes geriatrisches Assessment kommt außerhalb von Studien kaum und schon gar nicht in einem festen Format, wie dem Tumorboard, zum Einsatz (24). Dabei ist bekannt, dass die Therapieempfehlung im Tumorboard in Kenntnis der Ergebnisse eines Geriatrischen Assessments in nahezu einem Drittel der Fälle anders ausfällt als ohne diese Information (25). Diese Situation erscheint im Sinne der „Personalisierten Medizin“ unbefriedigend und ist zugespitzt auch bereits als „Personalisierte Medizin ohne Ansehen der Person“ bezeichnet worden.
Die Empfehlung muss demnach lauten, Informationen des geriatrischen Assessments in die Arbeit der Tumorboards aufzunehmen und in der „Real-Life-Situation“ im Hinblick auf Kurz- und Langzeitüberleben auszuwerten. Es ist in der realen Behandlungssituation zu prüfen – entitätsübergreifend –, aber auch entitätsspezifisch (23). Ziel ist, neben der onkologischen Expertise eine geriatrische Expertise zur Verbesserung der Behandlung älterer Patienten mit Krebserkrankungen zu nutzen (26).
Hinsichtlich der zu verwendenden Assessment-Instrumente bestehen Vorschläge seitens nationaler und internationaler Gesellschaften, wie der SIOG (International Society of Geriatric Oncology) (27), aber auch der DGHO (Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie) sowie von Fachgesellschaften aus der Schweiz und Österreich (Tabelle). Ressourcenschonend ist ein zwei- bzw. dreistufiges Vorgehen vorstellbar, beginnend mit einem Screening bei allen Patienten über 70 Jahren, um dann abgestuft ein differenziertes Assessment bedarfsorientiert erfolgen zu lassen (28, 29, 30, 9).
Tabelle
Entitätsübergreifender Assessmentvorschlag der AG Geriatrische Onkologie für Patienten mit maligner Erkrankung
Erfassung von Defiziten und Ressourcen
Das geriatrische Assessment ist genauso wie alle anderen Befunde, die zur Vorstellung in einem Tumorboard gehören, im Rahmen der vorgeschalteten Diagnostik zu erheben. Organisiert wird die Durchführung des Assessments idealerweise durch geschulte Pflegekräfte oder geriatrisch erfahrene Ärzte. Nahezu alle Assessmentverfahren sind in der Durchführung an Assistenzpersonal delegierbar (7). Die Bewertung des Assessments erfolgt im Tumorboard gemäß dem Schema von Hammermann und Balducci (31, 32, 33): Uneingeschränkt therapiebar (Gruppe 1), eingeschränkt therapierbar (Gruppe 2) und vulnerabel mit erheblichen Therapieeinschränkungen, vorzugsweise Beschränkung auf palliativmedizinische Betreuung (Gruppe 3).
Das Geriatrische Assessment ist keine Konkurrenz zur bestehenden „personalized medicine” mit molekularpathologisch unterstützter Entscheidung im Tumorboard, sondern eine sinnvolle Ergänzung, die sowohl den Tumor als auch den einzelnen Patienten hinsichtlich seiner alltagsrelevanten Defizite, aber auch Ressourcen präziser erfasst. Die Autoren* sind überzeugt, dass eine solche funktionsorientierte Betrachtung dabei helfen wird, sowohl teure und toxische Übertherapie als auch ineffektive und ressourcenbindende Untertherapie zu vermeiden Prof. Dr. med. Gerald Kolb,
Prof. Dr. med. Carsten Bokemeyer,
Dr. med. Ulrich Wedding
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit2720
oder über QR-Code.
*Gemeinsame Arbeitsgruppe „Geriatrische Onkologie“ der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie, der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie und der Deutschen Krebsgesellschaft unter Mitarbeit von Engelhardt, Monika; Stauder, Reinhard; Goede, Valentin; Honecker, Friedemann; Späth-Schwalbe, Ernst
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