ArchivDeutsches Ärzteblatt PP7/2020Selbstverletzendes Verhalten von Jungen: Letzte Kontrolle über den Körper

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Selbstverletzendes Verhalten von Jungen: Letzte Kontrolle über den Körper

Friebel, Harry

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Die Anzahl der sich selbstverletzenden Jugendlichen nimmt zu, sowohl bei Mädchen wie bei Jungen. Mehr interdisziplinäre Forschung ist notwendig, auch um die Geschlechterdifferenz besser verstehen zu können.

Foto: Adam Smigielski/iStock
Foto: Adam Smigielski/iStock

Bis vor etwa zehn Jahren galt allgemein im deutschsprachigen Raum die psychisch gestörte junge Frau als der „Prototyp“ des selbstverletzenden beziehungsweise selbstschädigenden Verhaltens (SVV): „Vor allem Frauen richten bestehende Aggressionen in zerstörerischer Weise gegen sich selbst“ (1). Doch einschlägige Fachartikel aus den USA und Großbritannien zeigen, dass die früheren Etikettierungen des selbstverletzenden Verhaltens als typisch weiblich einen erheblichen „gender bias“ haben (2). Die bis vor wenigen Jahren in Deutschland als „sicher“ geglaubte Geschlechtertypik verflüssigt sich mit dem Wandel der Geschlechterrollen.

Laut einer repräsentativen empirischen Studie hat sich in Deutschland etwa ein Drittel der Jugendlichen mindestens schon einmal selbst verletzt – etwa ein Zehntel mehrmals (3). SVV ist ein Symptom für vielfältige biografische Grenz-, Krisen- und Leiderfahrungen – häufig im Rahmen rigider Normierungen von der Pubertät bis zur Adoleszenz (4). Whitlok beschreibt den Zusammenhang des „Warum?“ in einem spannungsreichen Bogen vom Hilferuf („to get attention from adults or peers“) über den Versuch einer Emotionsregulierung („to regulate intensive emotions“) bis hin zur Selbsthilfe (5). Die bekannteste Form des SVV ist das Ritzen, also das Schneiden mit scharfen Gegenständen in die Haut (6). Weitere Selbstverletzungen sind das Aufkratzen der Haut, sich beißen, das Schlagen des Kopfes gegen Wände (7). SVV wird konventionell als „funktionell motivierte, direkte und offene Verletzungen des eigenen Körpers, die nicht sozial akzeptiert sind und ohne Suizidabsicht vorgenommen werden“ definiert (8).

Wandel im Geschlechterverhältnis

Das „Drehbuch“ Männlichkeit wird in der Moderne zunehmend uneindeutiger (9). Immer mehr Jungen verletzen sich selbst. In der traditionellen Lesart der Geschlechterrollen „Jungen explodieren, Mädchen implodieren“ erscheint das Verhalten geschlechtlich determiniert (11): Jungen wenden Aggression gegen andere, Mädchen gegen sich selbst. Aber es vollzieht sich ein tiefgreifender Wandel im Geschlechterverhältnis. „Doing gender“ (12) – als alltägliche Inszenierung der Geschlechtszugehörigkeit – hat Folgen auch für das SVV: Im Sinne einer geschlechtstypischen „Erwartungserwartung“ – ich erwarte, dass von mir erwartet wird – verhalten sich Jungen und Mädchen unterschiedlich. Barrocas et al. beschreiben typische Unterschiede der männlichen und weiblichen Selbstbeschädigungen: „Mädchen berichteten am häufigsten, dass sie sich in ihre Haut schnitten, während Jungen sich am häufigsten selbst schlugen“ (13).

Kampf, Einsatz, Härte, Stress und Risiko sind konventionelle Markenzeichen „ernster Spiele des Wettbewerbs“ im Rahmen der Männlichkeitssozialisation (14). Bourdieu hat diese „Spiele“ als männliche Gewalt – und Machtspiele bezeichnet. Der Zwang zur Stärke und Dominanz- und die Angst vor Schwäche – ist den traditionellen männlichen Rollenmustern noch eingeschrieben. So erfahren viele Jungen angesichts der Spannungslage zwischen klassischen männlichen Überlegenheitsbotschaften einerseits und modernen Gleichstellungsnormen für Frau und Mann andererseits eine Individualisierung mit Risiken in der Arbeitswelt (15).

Die These des Autors besagt, dass eine ins Absurde gesteigerte Überlegenheitsmeinung junger Männer von sich selbst zwangsläufig durch die vorgefundene Wirklichkeit enttäuscht wird. Dies kann eine gravierende Irritation in Bezug auf traditionelle Männlichkeit auslösen und damit eine (Selbst-)Verletzungsoffenheit generieren. Eine mögliche Reaktion der Jungen auf diesen Verlust von (Männlichkeits-)Gewissheiten ist das SVV als „letzte“ Kontrolle über den eigenen Körper. Die Verunsicherung der Jungen durch alltägliche Normen-Widersprüche generiert auch depressionsfördernde Misserfolgserfahrungen und Identitätsdiffusion. Doch versagen sich Jungen häufig der weiblich etikettierten Symptome wie Niedergeschlagenheit, Kummer und Traurigkeit. „Die Jungen „maskieren“ ihre Depression durch Risikoverhalten sowie SVV, und die medizinischen und therapeutischen Professionen sind primär geschult für typisch „weibliche Depressionssignale“ (16).

Weit entfernt, die betroffenen Jungen nur auf eine Dimension der Wahrnehmung – nämlich Geschlecht – zu reduzieren, erscheint es sinnvoll, einen Zusammenhang des SVV mit Schwierigkeiten der Männlichkeitskonstruktion zu sehen (17). Es ist nicht abwegig, die „Stärke“ des männlichen Geschlechts infrage zu stellen und im Rückgriff auf den klassischen Suizidforscher Durkheim anzunehmen, dass im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess ein bedeutsamer Zusammenhang zwischen „männlich“ einerseits und „sozialer Desintegration“ andererseits besteht (18). Die soziokulturelle Integration des Jungen in der Moderne scheint somit zunehmend fragil zu werden.

Bewältigungskonzepte

Die Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit von traditionellen männlichen Überlegenheitsnarrativen und Gleichstellungsimperativen für Mann und Frau im Modernisierungsprozess ist geeignet, die Identitätsentwicklung der Jungen zu verstören (19).

Soziale Arbeit, Hilfe- und Beratungskonzepte, therapeutische Konzepte und außerschulische Jungenarbeit können allesamt in eine subjekt- und lebensweltorientierte Biografie- und Erinnerungsarbeit einmünden. Dabei muss darauf geachtet werden, dass die Perspektive nicht auf eine individualistische Betrachtungsweise reduziert wird, sondern das persönliche Verhalten immer auch sozial und kulturell kontextualisiert ist. Ziele dieses interaktiven Bewältigungsprozesses sind die Stabilisierung der Jungen im Sinne von Selbstachtsamkeit und Handlungsfähigkeit einerseits sowie Gefühls- wie Stresstoleranz andererseits (20).

Angesichts der Ziele einer geschlechtsreflektierten Praxis, den Jungen Hilfe und Unterstützung zur Erweiterung ihrer Geschlechterbilder und ihrer Handlungsalternativen zu vermitteln, ist eine lebensweltorientierte Biografie- und Erinnerungsarbeit per se Jungenarbeit. Jungenarbeit reduziert Jungen nicht auf ihr Geschlecht (21). Weitere Struktur-geber und Identitätsdimensionen wie Bildung, soziale Herkunft, ethnischer Hintergrund sind gleichfalls bedeutsam. Biografie und Lebensweltorientierung sind konstitutiv sowohl für eine einzelfallspezifische therapeutische Arbeit als auch für eine geschlechtsreflektierte Jungenarbeit als Gruppenarbeit ausschlaggebend. Aus der biografischen Perspektive werden Fragen nach Blockaden, Problemen und Störungen in der Lebensgeschichte der Betroffenen gestellt. Die Lebensweltperspektive richtet die Aufmerksamkeit auf die nahe Umwelt des Jungen – als Rahmen für Aneignungs- und Vermittlungsprozesse (22). Kraus verweist auf den Zusammenhang von individueller Wahrnehmung und sozialem Kontext im Rahmen der sozialen Arbeit: „Einerseits ist die Lebenswirklichkeit eines jeden Menschen dessen subjektives Konstrukt, andererseits ist dieses Konstrukt nicht beliebig, sondern – bei aller Subjektivität, aufgrund der strukturellen Koppelung des Menschen an seine Umwelt – eben durch die Rahmenbedingungen dieser Umwelt beeinflusst und begrenzt“ (23). Die Anzahl der sich selbstverletzenden Jugendlichen nimmt enorm zu, sowohl bei Mädchen wie bei Jungen (23, 24). Mehr interdisziplinäre Forschung ist notwendig, auch um die Geschlechterdifferenz besser verstehen zu können.

Leitlinie

In der Leitlinie „Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten im Kindes- und Jugendalter“ wurde eine psychiatrisch-therapeutische Blickerweiterung empfohlen: „Es konnte in der Vergangenheit gezeigt werden, dass die Unterscheidung in gelegentliche und repetitive Selbstverletzung (…) eine wichtige Differenzierung darstellt. Repetitive Selbstverletzungen (…) sind häufiger mit Suizidalität und einem höheren Grad an Psychopathologie assoziiert“ (25). Mit dieser Unterscheidung zwischen „gelegentlich“ (gleich psychisch-soziales Problem) und „repetitiv“ (= pathologische Störung) öffneten die Leitlinien-Experten vorsichtig den Weg für eine auch nichtklinische, nichtpathologische Sicht- und Therapierweise. Zudem wurde in der neuen Leitlinie hinsichtlich der Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen erstmals ein besonderer Wert auf die Beschreibung genderspezifischer Methodenwahlen („ritzen“ = eher Mädchen/ „sich selbst schlagen“ = eher Jungen) in der Selbstverletzung gelegt. Erstmals hervorgehoben wurden unterschiedliche Motivationen für Selbstverletzung bei Jungen und Mädchen: „Männliche Jugendliche nennen als Motivation signifikant häufiger Gründe wie Langeweile, einer Gruppe zugehören, Gedanken, dass es Spaß mache und sie damit unliebsame Dinge vermeiden. Im Gegensatz dazu nannten weibliche Jugendliche häufiger als männliche Jugendliche Gefühle wie Depressivität oder unglücklich sein.“ Das deutet auf einen möglicherweise radikalen Eingriff in den bisher herrschenden Fachdiskurs.

Prof. Dr. phil. Harry Friebel,
Fachbereich Sozialökonomie,
Universität Hamburg

1.
Plener PL, Brunner R, Resch F, Fegert J M, Libal G: Selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2010; 38: 77–89.
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Kaess M, Parzer P, Haffner J, et al.: Explaining gender differences in non-fatal suicidal behaviour among adolescents: a population-based study. BMC Public Health 2011; 11 (1): 597–603.
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23.AWMF: Leitlinie Nicht-Suizidales Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) im Kindes- und Jugendalter. Köln: Hogreve 2015.

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