MEDIZIN: Editorial
Mit gleichwertigen Lebensverhältnissen zu gleichen Gesundheitschancen
Equality in living conditions as a prerequisite for health equity
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Sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit besteht selbst in einem wohlhabenden Land wie Deutschland: Menschen mit einem niedrigeren sozialen Status haben ein höheres Risiko, in jüngerem Lebensalter zu erkranken und zu versterben, als Bessergestellte. Dazu tragen einerseits wirtschaftliche und politische Strukturen bei, andererseits individuelle Lebensumstände und Gesundheitsverhalten (1). Weniger bekannt ist, dass auch der jeweilige Wohnort innerhalb Deutschlands mit Unterschieden im Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko einhergeht. Dass es diese Unterschiede gibt, demonstriert eindrücklich die Arbeit von Rau und Schmertmann in dieser Ausgabe (2). Sie zeigt unter anderem, dass die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern auf Kreisebene um mehr als fünf Jahre variiert, die von Frauen um fast vier Jahre.
Kleinräumige Unterschiede im Blick haben
Rau und Schmertmann führen mit ihrer Arbeit eine Forschungsrichtung fort, die sich in den vergangenen 15 Jahren an den Schnittstellen von Public Health, Demografie und Geografie erfreulich weiterentwickelt hat. Zu erinnern ist an die Arbeiten zu Mortalitätsunterschieden auf Kreisebene von Eva Kibele, die 2012 auf Veränderungen der regionalen Sterblichkeit besonders bei Frauen hinwies (3). Werner Maier hat 2012 einen Index multipler Deprivation publiziert und seitdem für die Analyse der Mortalität und anderer Gesundheitsunterschiede auf Gemeindeebene herangezogen (4). In einer eigenen Arbeit zeigten wir 2008, dass gesundheitliche Unterschiede nicht (mehr) einem Ost-West-Gradienten folgen, sondern viel kleinräumiger betrachtet werden müssen (5). Selektive Abwanderung jüngerer Menschen, hohe Arbeitslosigkeit und in der Folge Veränderungen gesundheitsrelevanter sozialer Normen finden sich nicht nur in einigen Kreisen Ostdeutschlands, sondern beispielsweise auch in der Kernregion des Ruhrgebiets (5).
Ein Verdienst von Rau und Schmertmann ist, dass sie die Schätzungen der Mortalität auf Kreisebene verbessern konnten. Als wichtige methodische Limitation bleibt, dass sie nicht für Auswahleffekte durch selektive Ab- oder Zuwanderung in Abhängigkeit vom Gesundheitsstatus kontrollierten. Dazu müsste man experimentelle, randomisierte Studien durchführen. Da dies nicht möglich ist, bleibt nur das Setting eines „natürlichen Experiments“ (6). Wir fanden ein solches bei der Verteilung neu zugewanderter (Spät-)Aussiedler auf NRW-Stadt-/Landkreise; da diese Verteilung nicht vom Gesundheitszustand abhängig war, konnten wir eine selektive Wanderung ausschließen. Die Analyse zeigte eine höhere Sterblichkeit unter Aussiedlern, die besonders armen Kreisen zugewiesen worden waren, im Vergleich zu denen, die Kreisen zugewiesen worden waren, in denen bevorzugt junge Familien leben (7).
Rau und Schmertmann weisen zu Recht auf die Politikrelevanz ihrer Forschung hin. Wie die Politik auf Befunde regionaler Ungleichheit reagiert, hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend geändert. Dass es in Deutschland große Unterschiede in den Lebensverhältnissen gibt, stellte bereits 2004 Bundespräsident Horst Köhler in einem Focus-Interview fest. Sein Lösungsvorschlag setzte allerdings vorwiegend auf Eigeninitiative. Wer regionale Unterschiede einebnen wolle, so Köhler, „zementiert den Subventionsstaat und legt der jungen Generation eine untragbare Schuldenlast auf. (. . .) Worauf es ankommt, ist, den Menschen Freiräume für ihre Ideen und Initiativen zu schaffen.“ (8) Heute ist klar, dass Eigeninitiative allein nicht ausreicht, um strukturelle Ungleichheiten und regionale Benachteiligungen zu überwinden. Das sieht mittlerweile auch die Politik so. 2019 legten drei Bundesministerien einen „Plan für Deutschland – Gleichwertige Lebensverhältnisse überall“ vor (9). Sie forderten unter anderem Verbesserungen bei den räumlichen Strukturen und der Infrastruktur im ländlichen Raum, aber auch bei der sozialen Daseinsvorsorge.
Gezielte staatliche Eingriffe scheinen erforderlich
Rau und Schmertmann finden allerdings keine eindeutigen Belege für die Rolle von infrastrukturellen Faktoren, wie etwa die Arztdichte auf Kreisebene, bei der Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit. Eine starke Korrelation zeigt sich dagegen mit dem Anteil der Hartz-IV-Empfänger. Die Autoren schlagen daher vor, den Lebensstandard ärmerer Menschen anzuheben, um gesundheitliche Ungleichheit zu reduzieren. Ob dabei der Fokus auf der direkten Unterstützung ärmerer Menschen oder auf der strukturellen Stärkung von Regionen liegen soll, lassen sie offen. Dies ist nicht zuletzt der Evidenzlage geschuldet: Interventionen mit einem Fokus auf strukturelle Faktoren sind komplex – sowohl in der Durchführung als auch in der Evaluation (6). So gibt es dazu erst wenige belastbare Studienergebnisse.
Die COVID-19-Pandemie wird die Debatte um geeignete Interventionen weiter befeuern; denn die Folgen der Schutzmaßnahmen tragen dazu bei, soziale Ungleichheiten im Bereich Gesundheit weiter zu vergrößern. Und wiederum spielen regionale Unterschiede eine Rolle: Die COVID-19-Inzidenzraten variieren erheblich zwischen Stadt-/Landkreisen – im Mai 2020 um einen Faktor > 100 (10). Regionen mit höheren Inzidenzen könnten im Vergleich mit weniger betroffenen Regionen durch länger anhaltende Einschränkungen stärkere ökonomische und damit in der Folge auch gesundheitliche Benachteiligungen erfahren. Daher wirft auch COVID-19 in Wissenschaft und Politik die Frage auf, ob staatliche Hilfsmaßnahmen gleichmäßig über die Republik oder gezielt gemäß lokalen Notwendigkeiten verteilt werden sollen. Sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheiten sind weitgehend vermeidbar. Es liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse, sie zu reduzieren. Bei allen Debatten und Lücken in der Evidenz dürfte kaum mehr strittig sein, dass staatliche Unterstützung zur Überwindung struktureller Ungleichheiten erforderlich ist. Wie genau sie erfolgen soll, muss weiter beforscht werden. Das Ziel, gleichwertigen Lebensverhältnissen und damit gleichen Gesundheitschancen in ganz Deutschland möglichst nahe zu kommen, erfährt mittlerweile aber breite Unterstützung.
Interessenkonflikt
Prof. Razum und Dr. Sauzet leiten DFG-finanzierte Projekte zu kleinräumigen Einflüssen auf Gesundheit, in deren Rahmen dieses Editorial entstand. Prof. Razum erhielt Honorare für das unter (1) zitierte Handbuch Gesundheitswissenschaften.
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Oliver Razum, AG3 Epidemiologie & International Public Health,
Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Postfach 100131,
33501 Bielefeld, oliver.razum@uni-bielefeld.de
Zitierweise
Razum O, Sauzet O: Equality in living conditions as a prerequisite for health equity. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 491–2. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0491
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Zentrum für Statistik, Universität Bielefeld: Dr. Odile Sauzet
1. | Lampert T: Soziale Ungleichheit und Gesundheit. In: Razum O, Kolip P (eds.): Handbuch Gesundheitswissenschaften. 7th eds. Weinheim: Beltz Juventa 2020; 530–59. |
2. | Rau R, Schmertmann CP: District-level life expectancy in Germany. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 493–9 VOLLTEXT |
3. | Kibele EUB: Regional mortality differences in Germany. Dordrecht: Springer Science & Business Media, Netherlands; 2012 CrossRef MEDLINE |
4. | Maier W: Indizes Multipler Deprivation zur Analyse regionaler Gesundheitsunterschiede in Deutschland: Erfahrungen aus Epidemiologie und Versorgungsforschung. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2017; 60: 1403–12 CrossRef MEDLINE |
5. | Razum O, Altenhöner T, Breckenkamp J, Voigtländer S: Social epidemiology after the German reunification: east vs. west or poor vs. rich? Int J Public Health 2008; 53: 13–22 CrossRef MEDLINE |
6. | Craig P, Katikireddi SV, Leyland A, Popham F: Natural experiments: an overview of methods, approaches, and contributions to public health intervention research. Annu Rev Public Health 2017; 38: 39–56 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
7. | Reiss K, Berger U, Winkler V, Voigtländer S, Becher H, Razum O: Assessing the effect of regional deprivation on mortality avoiding compositional bias: a natural experiment. J Epidemiol Community Health 2013; 67: 213–8 CrossRef MEDLINE |
8. | Köhler H: Jeder ist gefordert. Interview mit dem „Focus“ am 13. 9. 2004. www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Interviews/2004/20040913_Rede.html (last accessed on 8 May 2020). |
9. | Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Unser Plan für Deutschland – Gleichwertige Lebensverhältnisse überall. Berlin: Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, 2019. |
10. | Rohleder S, Qreini M, Bozorgmehr K: Covid-19 small area monitor www.covidmonitor.de (last accessed on 8 May 2020). |
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International Journal of Environmental Research and Public Health, 202210.3390/ijerph19031530
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