MEDIZIN: Originalarbeit
Lebenserwartung auf Kreisebene in Deutschland
District-level life expectancy in Germany
;
Hintergrund: Die Identifikation von Regionen mit niedriger Lebenserwartung ist wichtig für politische Entscheidungsträger, insbesondere bei der Allokation von Ressourcen im Gesundheitssystem. Schätzungen für die Lebenserwartung in kleinräumigen Regionen sind jedoch oft unzuverlässig und führen zu statistischen Unsicherheiten, wenn die zugrunde liegenden Bevölkerungszahlen relativ klein sind.
Methode: Wir kombinieren die aktuellsten verfügbaren Daten für Deutschland (2015–2017) mit einem bayesianischen Modell, das mehrere methodische Fortschritte beinhaltet. Dies erlaubt uns, die Lebenserwartung für Frauen und Männer in allen 402 Kreisen präzise zu schätzen und die Unsicherheiten der Schätzwerte zu quantifizieren.
Ergebnisse: Die Lebenserwartung in den Kreisen liegt bei Männern zwischen 75,8 und 81,2 Jahren und bei Frauen zwischen 81,8 und 85,7 Jahren. Das räumliche Muster ist ähnlich für Frauen und Männer. Ländliche Kreise im Osten Deutschlands sowie einige Kreise des Ruhrgebiets haben eine relativ niedrige Lebenserwartung. Kreise mit relativ hoher Lebenserwartung konzentrieren sich auf Baden-Württemberg und Südbayern. Explorative Analysen zeigen, dass Durchschnittseinkommen, Bevölkerungsdichte und die Zahl der Ärzte pro 100 000 Einwohner nicht besonders ausgeprägt mit der Lebenserwartung auf Kreisebene korrelieren. Im Gegensatz dazu sind Indikatoren, die auf besonders benachteiligte Bevölkerungsschichten verweisen (Arbeitslosenquote, „Hartz IV“), geeignetere Prädiktoren für die Lebenserwartung.
Schlussfolgerung: Wir finden keine durchgängigen Stadt-Land-Unterschiede bei der Lebenserwartung. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Maßnahmen, die die Lebensstandards für ärmere Teile der Bevölkerung verbessern, am ehesten dazu geeignet sind, die existierenden Unterschiede in der Lebenserwartung zu reduzieren.


Den aktuellen Angaben des Statistischen Bundesamts zufolge liegt die Lebenserwartung in Deutschland zwischen 83,3 Jahren bei den Frauen und 78,5 Jahren bei den Männern (1). Weltweit gesehen liegt Deutschland damit auf dem 30. Platz – mit einem Abstand zu den bei der Lebenserwartung führenden Ländern von ungefähr vier Jahren bei den Frauen und drei Jahren für Männer (2).
Nach nur geringen Verbesserungen seit den 1970er Jahren erfuhr die Lebenserwartung der Menschen in der ehemaligen DDR (im weiteren Verlauf Ostdeutschland oder Osten genannt) einen plötzlichen Aufschwung nach der Wiedervereinigung (3, 4). Die Lebenserwartung in der früheren Bundesrepublik (im weiteren Verlauf Westdeutschland oder Westen genannt) wuchs hingegen beständig mit einem Tempo, das mit anderen westlichen Industrieländern vergleichbar war. Gegenwärtig gibt es hinsichtlich der Lebenserwartung bei den Frauen keine Unterschiede mehr zwischen Ost- und Westdeutschland. Bei den Männern besteht weiterhin ein Abstand von etwas mehr als einem Jahr.
Vergleiche solch großer Gebiete haben sicherlich einen informativen Wert. Um aber im Gesundheitswesen adäquat planen zu können, benötigt man Analysen in höherer geografischer Auflösung. Kleinräumige Schätzungen sind daher entscheidend, marginalisierte Regionen zu identifizieren. Dies ist insbesondere wichtig in Hinblick auf Art. 72 [2] des Grundgesetzes, der dem Bund das Gesetzgebungsrecht zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse zuweist.
Um solche Regionen besser identifizieren zu können, haben wir – basierend auf altersspezifischen Mortalitätsraten – die Lebenserwartung auf Kreisebene für Frauen und Männer in Deutschland geschätzt.
Unser Beitrag hat zwei wesentliche Ziele: Einerseits wollten wir für kleinräumige Gegenden zuverlässige Schätzungen vorlegen, die aufgrund der zugrunde liegenden geringen Einwohnerzahl nicht den Nachteil haben, instabil und mit großer Unsicherheit behaftet zu sein. Normale Schätzverfahren sind bei niedrigen Einwohnerzahlen anfällig für zufällige, statistische Schwankungen, wenn auf Grundlage nur sehr weniger Sterbefälle die Sterberate geschätzt werden soll. Zusätzlich liefert unser statistischer Ansatz auch Schätzwerte für die zugrunde liegenden Unsicherheiten. Solche Schätzungen der Unsicherheit sind dann von Nutzen, wenn man Aussagen treffen möchte, ob die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen zwei Kreisen wohl tatsächlich existieren oder lediglich ein Zufallsergebnis sind, da nur wenige Sterbefälle in Kreisen moderater Größe vorliegen. Unseres Wissens wurden bisher keine solchen Intervallschätzungen für die Lebenserwartung auf Kreisebene in Deutschland veröffentlicht.
Zudem wollen wir untersuchen, ob es bestimmte Korrelationsmuster zwischen sozialen und ökonomischen Indikatoren auf Kreisebene und der dortigen Lebenserwartung gibt. Es ist bekannt, dass arme, benachteiligte und weniger (formal) gebildete Personen eine niedrigere Lebenserwartung haben als Personen mit höherem Einkommen, besseren wirtschaftlichen Möglichkeiten oder einem Universitätsabschluss (5, 6, 7). Dies liegt nicht nur am Einkommen oder den Ressourcen an sich, sondern unter anderem auch an der höheren Prävalenz ungesunder Verhaltensweisen, wie zum Beispiel schlechter Ernährung, Rauchen oder übermäßigem Trinken, oder auch an berufsspezifischen Gesundheitsrisiken bei Personen mit niedrigem Einkommen oder geringerer Bildung (8, 9). Indem wir Schätzungen der Lebenserwartung für Deutschland auf Kreisebene vorlegen und deren Korrelation mit sozialen und politischen Variablen untersuchen, hoffen wir, nützliche Daten und eine solide Basis für zukünftige, detailliertere Analysen bereitstellen zu können.
Methoden
Verwendete Daten
Für jegliche Kombination von Kreis, Geschlecht und Altersgruppe (0, 1–4, 5–9, 10–14, …, 80–84, 85+) lagen uns Bevölkerungsdaten für den 31. Dezember der Jahre 2014, 2015, 2016 und 2017 vor; ebenso Sterbefallzahlen für die Jahre 2015, 2016 und 2017. Diese Daten – die aktuellsten für die Schätzung der Mortalität – werden von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder über www.regionalstatistik.de bereitgestellt (10, 11). Wir berechneten gelebte Personenjahre nach Altersgruppe und Geschlecht für jedes Kalenderjahr als Durchschnitt zweier aufeinanderfolgender Jahresendbestände (zum Beispiel waren die gelebten Personenjahre im Jahr 2015 von Frauen der Altersgruppe 50–54 der Durchschnitt der Frauen dieser Altersgruppe am 31. Dezember 2014 und am 31. Dezember 2015). Um die Zufallsschwankungen aufgrund kleiner Bevölkerungsgrößen zu reduzieren, legten wir die Sterbefalldaten sowie die gelebten Personenjahre der drei verfügbaren Jahre (2015, 2016, 2017) zusammen.
Mit Ausnahme der Fusion der Kreise Göttingen und Osterode am Harz im Jahr 2016 änderten sich die Kreisgrenzen im Zeitraum 2015–2017 nicht. Folglich beziehen sich unsere Schätzungen für Göttingen und Osterode am Harz nur auf das Jahr 2015.
Die Bevölkerungsgrößen der Kreise umfassen zwei Größenordnungen. Zum 31. Dezember 2017 war Zweibrücken mit ungefähr 33 900 Einwohnern der kleinste Kreis, Berlin mit rund 3,6 Millionen Einwohnern der größte. Der Median liegt bei ungefähr 150 000 Einwohnern. 50 % aller Kreise besitzen zwischen 100 000 und 240 000 Einwohnern.
Die Sterbefallzahlen umfassen etwas weniger als zwei Größenordnungen. Im Jahr 2017 starben beispielsweise 449 Personen in Zweibrücken und 34 339 in Berlin. Bei etwas mehr als der Hälfte aller Kreise lag die Anzahl der Sterbefälle zwischen 1 200 und 2 700.
Relationales, bayesianisches Modell
Wir verwenden ein neues relationales Modell, um Sterberaten nach Alter und Geschlecht in jedem Kreis schätzen zu können. Relationale Modelle, wie beispielsweise das Brass-Logit-Modell (12), wurden in der Vergangenheit häufig bei Bevölkerungen mit wenigen Daten eingesetzt. Sie fanden auch teilweise Verwendung bei der Schätzung der Sterbetafeln für die deutschen Bundesländer nach dem registerbasierten Zensus des Jahres 2011 (13). Das relationale TOPALS-Modell, das wir verwendeten, wurde von de Beer vorgeschlagen (14). Selbst für sehr kleine Bevölkerungen besitzt es gute statistische Eigenschaften (15, 16).
Unser Ansatz schätzt altersspezifische Sterberaten für alle Kreise und beide Geschlechter mit einem bayesianischen Modell, dessen Parameter über die Kreise hinweg verknüpft sind. Das Modell erzeugt probabilistische Sterberaten auf Kreisebene, aus denen wir eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für die Lebenserwartung e0 auf Kreisebene berechnen können.
Basierend auf den gegebenen Sterbefällen und gelebten Personenjahren weist diese Verteilung denjenigen Werten für die Lebenserwartung eine höhere Wahrscheinlichkeit zu, die dem Modell nach wahrscheinlicher sind. Der Median der Verteilung dient als Punktschätzer für die Lebenserwartung auf Kreisebene. Die Unsicherheit unserer Schätzungen stellen wir mittels des Intervalls zwischen dem 10-%- und dem 90-%-Perzentil dar. Dementsprechend sind damit 80 % der e0-Werte abgedeckt. Mathematische und statistische Details finden sich online unter http://german-district-mortality.schmert.net.
Ergebnisse
Grafik 1 zeigt Schätzungen der Lebenserwartung und des 80-%-Wahrscheinlichkeitsintervalls für jeden Kreis und beide Geschlechter. In der Abbildung haben wir die zehn größten Städte ebenso hervorgehoben wie die höchste und niedrigste Lebenserwartung für Frauen und Männer. Basierend auf den für die Jahre 2015–2017 geschätzten Sterberaten hatte Bremerhaven die kürzeste Lebenserwartung, während Männer im Landkreis München davon ausgehen konnten, rund fünf Jahre länger zu leben. Die niedrigste Lebenserwartung für Frauen fanden wir für den Salzlandkreis in Sachsen-Anhalt, die höchste im Landkreis Starnberg im Südwesten Münchens. In der eTabelle findet sich eine nach Bundesländern sortierte Liste aller Kreise mit den Punktschätzern sowie den 80-%-Intervallschätzungen. Die hellblauen und hellroten Balken in Grafik 1 kennzeichnen diese 80-%-Wahrscheinlichkeitsintervalle. Aufgrund der größeren Bevölkerungszahl sind diese schmaler für die Großstädte als für dünner besiedelte Kreise. Die Breite der Intervallschätzungen liegt zwischen 0,14 Jahren in Berlin und 0,55 Jahren in Ansbach und Osterode im Harz; der Median liegt bei 0,36 Jahren.
Die Grafiken 2 und 3 vermitteln einen guten Eindruck von der Verteilung der Lebenserwartung in den deutschen Landkreisen. Die eGrafiken 1 und 2 zeigen dieselben Karten für Männer und Frauen mit den Platzierungen der jeweiligen Landkreise. Diese Platzierungen der Kreise sollten nicht absolut interpretiert werden, da sich die Intervallschätzungen überlappen. Aber sie spiegeln die ungefähre Position innerhalb der 402 Landkreise wider. Eine nach Bundesländern geordnete alphabetische Liste der Landkreise ist in der eTabelle enthalten. Blassere Farbtöne, die Kreise geringerer Lebenserwartung kennzeichnen, finden sich häufiger im Osten als im Westen. Aber auch im Westen gibt es Kreise mit vergleichbar niedriger Lebenserwartung, insbesondere in Ruhrgebiets-Kreisen wie Dortmund oder Gelsenkirchen.
Es ist bekannt, dass die ökonomische Entwicklung, lokale Verhältnisse und die Verfügbarkeit von medizinischen Leistungen eine wichtige Rolle für die Lebenserwartung spielen können. (17, 18). Im Folgenden untersuchen wir explorativ, welche Korrelationen zwischen Lebenserwartung auf Kreisebene und sozialen wie ökonomischen Variablen aus der INKAR-Datenbank (INKAR, Indikatoren und Karten zur Raum- und Stadtentwicklung) bestehen (19).
Zu diesem Zweck verwendeten wir die folgenden Indikatoren auf Kreisebene: Bevölkerungsdichte (Personen pro km2), Allgemeinärzte je 100 000 Einwohner, Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf, Arbeitslosenquote, Kinderarmut (Leistungsberechtigte unter 15 Jahren je 100 Einwohner unter 15 Jahren), Wohngeld (Haushalte, die Empfänger von Wohngeld sind, je 1 000 Haushalte), SGB-II-Quote (Leistungsberechtigte unter 65 Jahren in Prozent, „Hartz IV“) und Grundsicherung im Alter (Anteil an den Einwohnern ≥ 65 Jahre in ‰).
Grafik 4 zeigt die Stärke der Zusammenhänge zwischen der Lebenserwartung auf Kreisebene und jedem der gewählten Indikatoren. Die Balken im Schaubild repräsentieren standardisierte bivariate Regressionskoeffizienten: die geschätzten Veränderungen in der Lebenserwartung bei einer Zunahme des jeweiligen Indikators um eine Standardabweichung. So ist zum Beispiel der standardisierte Koeffizient für die Arbeitslosenquote von Männern im Westen −0,6. Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit lag bei Männern im Westen bei 5,40 %, mit einer Standardabweichung von 2,47 % (siehe Tabelle). Das bedeutet, dass eine Differenz von 2,47 % in der Arbeitslosigkeit zwischen zwei Kreisen im Westen einer Lebenserwartung entspricht, die 0,6 Jahre niedriger liegt als im Kreis mit der höheren Lebenserwartung.
Grafik 4 zeigt einige klare Muster. So sind die gewählten Indikatoren stärker mit der Lebenserwartung für Männer (linke Seite) korreliert als mit der Lebenserwartung für Frauen (rechte Seite). Wir untersuchen hier zwar nur aggregierte Querschnittdaten; aber auf Individualdaten basierende Longitudinalstudien der Sterblichkeit zeigen häufig, dass soziale, demografische und ökonomische Bedingungen bei Männern einen stärkeren Effekt nach sich ziehen (20).
Die Korrelationen zwischen Bevölkerungsdichte, Arztdichte und Lebenserwartung sind relativ gering. Es ist aber erwähnenswert, dass die Korrelationen in Ost und West in unterschiedliche Richtungen zeigen: Im Osten steigt die Lebenserwartung leicht mit zunehmender Bevölkerungs- und Arztdichte, während sie im Westen leicht sinkt. Das Leben in einer Stadt oder dichter besiedelten Regionen bringt damit lediglich im Osten Deutschlands einen Vorteil für die Lebenserwartung.
Die Daten in Grafik 4 zeigen auch, dass ökonomische Indikatoren weitaus stärkere Prädiktoren für die Lebenserwartung sind als Bevölkerungsdichte und die Zahl der Allgemeinärzte pro 100 000 Einwohner. Dies widerspricht einer Mutmaßung in den Medien (21), nach der die Nähe zu medizinischer Versorgung regionale Unterschiede in der Gesundheit und der Sterblichkeit erklären könnte.
Der positive Zusammenhang zwischen BIP und Lebenserwartung beim Nationenvergleich ist seit Mitte der 1970er Jahre bekannt (17). Dasselbe Muster ist in unserer Analyse auch zwischen den Kreisen erkennbar. Höhere Wirtschaftskraft fällt mit höherer Lebenserwartung zusammen.
Korrelationen zwischen Lebenserwartung und Bevölkerungsdichte, Arztdichte und BIP sind jedoch relativ gering, wenn man sie mit ökonomischen Indikatoren vergleicht, die sich auf besonders benachteiligte Einwohner eines Kreises beziehen. Wie in den Balken im unteren Bereich von Grafik 4 zu sehen ist, haben Indikatoren wie Arbeitslosenquote, Wohngeld und weitere öffentliche Unterstützungsleistungen erheblich höhere (und durchgehend negative) Korrelationen mit der Lebenserwartung auf Kreisebene. Es ist ebenfalls interessant zu sehen, dass Arbeitslosigkeit und Transferleistungen einen stärkeren Zusammenhang mit niedriger Lebenserwartung im Westen Deutschlands aufweisen.
Unserer Meinung nach verdeutlichen die einfachen Korrelationen in Grafik 4, dass es nicht die durchschnittlichen ökonomischen Bedingungen sind, die die Lebenserwartung beeinflussen, sondern eher die Lebensumstände von Personen am unteren Ende des sozioökonomischen Spektrums.
Diskussion
Unseren Schätzungen zufolge variiert die Lebenserwartung zwischen den Kreisen um mehr als fünf Jahre bei den Männern (5,3 Jahre) und um knapp vier Jahre bei den Frauen (3,9 Jahre). Bringt man dies in einen internationalen Kontext, so entspricht die niedrigste Lebenserwartung für Männer (75,8 Jahre) ungefähr dem Niveau von Oman (Platz 53 der 201 Länder laut Schätzungen der Vereinten Nationen [2]), während die höchste Lebenserwartung (81,2) in etwa der von Australien entspricht (Platz 6). Bei der Lebenserwartung für Frauen ist der Kreis mit der geringsten Lebenserwartung vergleichbar mit der Lebenserwartung tschechischer Frauen (81,8; Platz 46). Die höchste weibliche Lebenserwartung in einem deutschen Kreis ist vergleichbar mit der Lebenserwartung von Frauen in Südkorea (85,7; Platz 5).
Es ist wichtig, auf einige methodische Einschränkungen hinzuweisen: Unsere Schätzungen basieren auf den gegenwärtig gemessenen Bevölkerungszahlen und Sterbefällen in jedem Kreis. Diese könnten von selektiver Migration betroffen sein. Beispielsweise könnte die Migration von besonders gesunden Personen die Lebenserwartung in ihrem Heimatkreis reduzieren und im neuen Kreis erhöhen. Weder unsere Daten noch unsere Methoden können hierfür kontrollieren. Zusätzlich gilt, dass Modelle wie unseres, das Informationen über kleinere Einheiten bündelt, um die Variabilität zu senken, dazu tendieren, statistische Ausreißer mit kleinen Bevölkerungsgrößen zu den regionalen und nationalen Durchschnittswerten zu ziehen. Dies ist ein klassisches Verzerrungs-Varianz-Dilemma („bias-variance tradeoff”) und kann in manchen Fällen dazu führen, dass für einen „echten“ Ausreißer mit einer kleinen Bevölkerung zu viel geglättet wird. Ohne eine längere Zeitreihe oder zusätzliche Informationen zur Identifikation solcher Ausreißer bleibt dies ein unvermeidbares Risiko.
Obwohl Aggregatdaten im Querschnitt keine kausalen Schlussfolgerungen zulassen, untersuchten wir explorativ bivariate Korrelationen zwischen der Lebenserwartung auf Kreisebene und Makrofaktoren, wie Bevölkerungs- oder Arztdichte, die häufig in den Medien als kausale Faktoren angeführt werden. Unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass diese Faktoren weitaus weniger relevant sind als ökonomische Indikatoren, die sich auf ärmere Personengruppen konzentrieren, wie beispielsweise die Arbeitslosenquote oder öffentliche Transferzahlungen.
Die Lebenserwartung fasst das ganze Altersprofil der Sterblichkeit in einer einzigen Zahl zusammen. Daher könnten weitere Analysen, die sich auf Säuglings- und Kindersterblichkeit oder Sterblichkeit in den höheren Altersstufen konzentrieren, zu anderen Ergebnissen kommen. Indem wir alle Daten, den Code und unsere Ergebnisse bereitstellen (http://german-district-mortality.schmert.net), möchten wir andere Forscherinnen und Forscher dazu ermutigen und in die Lage versetzen, unser Modell im Detail zu verstehen, unsere Ergebnisse zu reproduzieren, sie mit neueren Daten zu aktualisieren und sie für eigenständige Analysen zu nutzen. Wichtige Beispiele für weitergehende Forschungsinitiativen wären eine detailliertere Analyse der Sterblichkeit in unterschiedlichen Altersgruppen oder auch die Einbindung von Lebensstilfaktoren wie die Prävalenz von Rauchen, Alkoholkonsum oder physische Aktivitäten (22).
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 9. 10. 2019, revidierte Fassung angenommen: 23. 4. 2020
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. Roland Rau
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät
Universität Rostock
Ulmenstr. 69, 18057 Rostock
roland.rau@uni-rostock.de
Zitierweise
Rau R, Schmertmann CP: District-level life expectancy in Germany.
Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 493–9. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0493
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Zusatzmaterial
eTabelle und eGrafiken:
www.aerzteblatt.de/20m0493 oder über QR-Code
demografische Forschung, Rostock: Prof. Dr. rer. pol. Roland Rau
Center for Demography and Population Health, Florida State University, Tallahassee, USA:
Prof. Dr. Carl P. Schmertmann
1. | Statistisches Bundesamt (Destatis): Durchschnittliche Lebenserwartung (Periodensterbetafel); Tabelle 12621–0002; 2020. https://www-genesis.destatis.de/genesis//online?operation=table&code=12621–0002&levelindex=0&levelid=1588857487918 (last accessed on 3 March 2020). |
2. | United Nations Population Division: wpp2019: World Population Prospects 2019. R package version 1.1–0. www.CRAN.R-project.org/package=wpp2019 (last accessed on 3 March 2020). |
3. | Vogt TC: How many years of life did the fall of the Berlin Wall add? A projection of East German life expectancy. Gerontology 2013; 59: 276–82 CrossRef MEDLINE |
4. | Oeppen J, Vaupel JW: Broken limits to life expectancy. Science 2002; 296: 1029–31 CrossRef MEDLINE |
5. | Mackenbach JP, Bos V, Andersen O, et al.: Widening socioeconomic inequalities in mortality in six Western European countries. Int J Epidemiol 2003; 32: 830–7 CrossRef MEDLINE |
6. | Lampert T, Hoebel J, Kroll LE: Social differences in mortality and life expectancy in Germany. Current situation and trends. Journal of Health Monitoring 2019; 4: 3–14. |
7. | Wenau G, Grigoriev P, Shkolnikov V: Socioeconomic disparities in life expectancy gains among retired German men, 1997–2016. J Epidemiol Community Health 2019; 73: 605–11 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
8. | Lantz PM, House JS, Lepkowski JM, Williams DR, Mero RP, Chen J: Socioeconomic factors, health behaviors, and mortality: results from a nationally representative prospective study of US adults. JAMA 1998; 279: 1703–8 CrossRef MEDLINE |
9. | Goldman, N: Mortality Differentials: Selection and Causation. In: Smelser NJ, Baltes PB (eds.): International encyclopedia of the social & behavioral sciences. Amsterdam: Elsevier 2001: 10068–70 CrossRef |
10. | Regionalstatistik. Die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder: Bevölkerung nach Geschlecht, Nationalität und Altersgruppen; Tabelle 12411–03–03–4; 2019. www.regionalstatistik.de/genesis/online/data;sid=1ACC2309105E04B36B092B88D41E63B8.reg1?operation=begriffsRecherche&suchanweisung_language=de&suchanweisung=12411-03-03-4 (last accessed on 7 September 2019). |
11. | Regionalstatistik. Die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder: Gestorbene nach Geschlecht, Nationalität und Altersgruppen - Jahressumme - regionale Ebenen; Tabelle 12613–02–02–4; 2019. www.regionalstatistik.de/genesis/online/data;sid=84C57B3423E5A0326EDC269B88930DF7.reg3?operation=begriffsRecherche&suchanweisung_language=de&suchanweisung=12613-02-02-4 (last accessed on 7 September 2019). |
12. | Brass W: On the scale of mortality. In Brass W (ed.): Biological aspects of demography. London: Taylor & Francis 1971: 69–110. |
13. | zur Nieden F, Rau R, Luy M: Allgemeine Sterbetafel 2010/12 - Neue Ansätze zur Glättung und Extrapolation der Sterbewahrscheinlichkeiten. Wirtschaft und Statistik 2016: 63–74. |
14. | de Beer JAA: Smoothing and projecting age – specific probabilities of death by TOPALS. Demogr Res 2012; 27: 543–92 CrossRef |
15. | Gonzaga MR, Schmertmann CP: Estimating age- and sex-specific mortality rates for small areas with TOPALS regression: an application to Brazil in 2010. Rev Bras Estud Popul 2016; 33: 629–52 CrossRef |
16. | Schmertmann CP, Gonzaga MR: Bayesian estimation of age-specific mortality and life expectancy for small areas with defective vital records. Demography 2018; 55: 1363–88 CrossRef MEDLINE |
17. | Preston SH: The changing relation between mortality and level of economic development. Pop Stud 1975; 29: 231–48 CrossRef CrossRef |
18. | Cutler D, Deaton A, Lleras-Muney A: The determinants of mortality. J Econ Perspect 2006; 20: 97–120 CrossRef |
19. | Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR): Indikatoren und Karten zur Raum- und Stadtentwicklung (INKAR), 2019. www.inkar.de (last accessed on 14 January 2020). |
20. | Koskinen S, Martelin T: Why are socioeconomic mortality differences smaller among women than among men? Soc Sci Med 1994; 38: 1385–96 CrossRef |
21. | Weise K, Krüger L, Kleine R: Die bittere Wahrheit über das Leben auf dem Land. Bild Hamburg; 27 October 2017. www.bild.de/politik/inland/mangel/die-bittere-wahrheit-ueber-das-leben-auf-dem-land-53680998.bild.html (last accessed on 7 May 2020). |
22. | Atzendorf J, Apfelbacher C, de Matos EG, et al.: Do smoking, nutrition, alcohol use, and physical activity vary between regions in Germany? - Results of a cross-sectional study. BMC Public Health 2020; 20: 277 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
23. | Bundesamt für Kartographie und Geodäsie: Verwaltungsgebiete 1 : 2 500000. VG2500. https://daten.gdz.bkg.bund.de/produkte/vg/vg2500/2014/vg2500_01-01.utm32w.shape.zip (last accessed on 7 May 2020). |
-
European Journal of Environment and Public Health, 202310.29333/ejeph/12681
-
Book, 202210.1007/978-3-658-37083-1_3
-
Geographica Helvetica, 202210.5194/gh-77-505-2022
-
European Journal of Epidemiology, 202310.1007/s10654-023-00995-5
-
Demographic Research, 202110.4054/DemRes.2021.44.45
-
Frontiers in Oncology, 202210.3389/fonc.2022.827028
-
Book, 202310.1007/978-3-658-39635-0_11
-
International Journal of Environmental Research and Public Health, 202210.3390/ijerph19031530
-
Deutsches Ärzteblatt international, 202110.3238/arztebl.m2021.0148
-
Deutsches Ärzteblatt international, 202010.3238/arztebl.2020.0491
Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.am Freitag, 25. Juni 2021, 18:48
Geldquellen für Lebensqualität und Lebenserwartung
AOK Rheinland/Hamburg – Die Gesundheitskasse 2021
REPORT
Gesundheits-Fakten zur regionalen Gesundheits- und Versorgungssituation der Bürgerinnen und Bürger im Rheinland und in Hamburg
https://www.aok.de/pk/fileadmin/user_upload/AOK-Rheinland-Hamburg/05-Content-PDF/AOK_RH_Gesundheitsreport_2021.pdf
Doch die Demokratie in Deutschland hinkt. Bei den Grundprinzipien eines bürgernahen Bundesstaat mit Subsidiarität und Konnexität gibt es schwergradige Mängel (Laggard-Problem Deutschland). Den Kommunen fehlt Geld für Straßen, Brücken, Jugendzentren und Gesundheitsvorsorge, weil sie für Aufgaben durch die Bundesgesetzgebung bezahlen müssen.
Das Konnexitätsprinzip „Wer bestellt, bezahlt!“ wird durch die geltende Gesetzgebung ausgehebelt.
Dann gibt es keine Gelder im Stadthaushalt etwa von Duisburg für Lebensqualität und Lebenserwartung. Um das schlechte Image zum Ausgleich aufzuwerten, wird mit «Duisburg ist echt!» geworben.
am Dienstag, 4. Mai 2021, 21:44
co_ed
Und gäbe es eine Pflicht, gleichwertige Lebensverhältnisse in den deutschen Regionen herzustellen – so jedenfalls das Grundgesetz, würde auch die Corona-Inzidenz im Norden von Duisburg und in Rheinhausen sinken (teils > 300-500). Das ist derzeit vermehrt tödlich und gefährdet zudem Mitmenschen.
Politik und Verwaltung sind untätig.
Benachteiligte Einwohner von Duisburg und ihre Bezirksbürgermeister mit Schlaganfall sterben mindesten fünf Jahre früher als anderswo in Deutschland. Das ist ein „Laggard“-Problem.
am Mittwoch, 22. Juli 2020, 20:31
Was tun?
Der Entwurf des Regelbedarf-Ermittlungsgesetzes sieht ab 2021 z.B. eine Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes für alleinstehende Erwachsene um 7 Euro vor (für Kinder gibt es je nach Alter etwas mehr). Das wird mit der Studienempfehlung wohl nicht gemeint sein?