POLITIK: Das Interview
Interview mit Prof. Dr. med. Monika Kellerer, Präsidentin der Deutschen Diabetesgesellschaft (DDG), Ärztliche Direktorin des Zentrums für Innere Medizin I im Marienhospital Stuttgart: „Deutschland hätte eine Vorreiterrolle spielen können“


Vage, unverbindlich, mutlos – DDG-Präsidentin Monika Kellerer ist enttäuscht von der neuen Nationalen Diabetesstrategie. Wie wirklicher Fortschritt aus ihrer Sicht gelingen könnte
Sind Sie zufrieden mit der Nationalen Diabetesstrategie?
Nicht wirklich. Ich begrüße zwar grundsätzlich, dass es nun nach vielen Jahren der Diskussion eine Nationale Diabetesstrategie gibt. Aber leider ist diese sehr vage und unkonkret formuliert.
Unter anderem soll es mehr Information und Aufklärung rund um Diabetes geben. Erreicht man so auch die Risikogruppen?
In der Regel nicht. Das ist salopp gesagt alter Wein in neuen Schläuchen. Nationale Aufklärungskampagnen machen wir schon seit vielen Jahren und sie waren, wie wir an den weiterhin drastisch steigenden Diabeteszahlen sehen, nicht sehr wirksam. Diabetes ist bei sozioökonomisch schwächer gestellten Menschen bis zu vierfach häufiger vertreten. Diese Gruppe muss man besonders adressieren. Aufklärungskampagnen, sei es in Form von Broschüren oder digital, sprechen aber in der Regel nur diejenigen an, die ohnehin schon an gesundheitlicher Information interessiert sind. Die besonders vulnerablen Gruppen erreicht man meist nicht. Deswegen rät die DDG davon ab, alleine auf Aufklärung und Eigenverantwortung zu setzen. Der Ansatz ist wichtig, aber als alleinige Strategie nicht ausreichend. Er muss ergänzt werden durch Maßnahmen der Verhältnisprävention. Das bedeutet, gesündere Lebensmittel müssen im Supermarkt die leichtere Wahl sein. Es gibt viele Stellschrauben, die man da ansetzen könnte.
Die DDG fordert ein Werbeverbot für stark gesüßte Kinderlebensmittel und verbind-liche Reduktionsziele. Die Strategie setzt auf Selbstverpflichtungen der Industrie. Kann das funktionieren?
Die nationale Reduktionsstrategie, die auch in dem jetzt beschlossenen Papier erwähnt wird, geht von einer 15-prozentigen Reduktion bis zum Jahr 2025 aus. Das ist uns deutlich zu wenig, das ist mutlos. Wir fordern eine 50-prozentige Reduktion von Zucker beispielsweise in Softdrinks. Man muss fairerweise erwähnen, dass in dem Papier steht, dass die Empfehlungen der Fachgesellschaften geprüft werden sollen. Aber „geprüft werden sollen“ ist eben auch nur ein vager Begriff. Daraus erkenne ich keinen konkreten Tatendrang.
Steuern auf zuckergesüßte Softdrinks – eine weitere Stellschraube – wird von den Unionsparteien strikt abgelehnt.
Dabei hat sich so eine Zuckersteuer, wie sie beispielsweise Großbritannien vor zwei Jahren eingeführt hat, als sehr erfolgreich erwiesen. Der Konsum ist gesunken, weil Getränke mit mehr als 50 Prozent Zucker merklich teurer geworden sind. Noch viel interessanter ist, dass die Industrie den Zuckergehalt ihrer Softdrinks von sich aus gesenkt hat, um die Steuer zu umgehen. Der Hebel hat auf beiden Seiten gewirkt. Zusätzlich wäre aber auch eine „positive“ Steuer sinnvoll: Man befreit die gesünderen Produkte von der Mehrwertsteuer. Dann wird es auch nicht teurer, sondern Obst und Gemüse sogar günstiger.
Damit Verbraucher Ungesundes leichter erkennen können, wurde der Nutri Score in Deutschland auf freiwilliger Basis eingeführt. Warum fehlt er in der Strategie?
Das finden wir sehr schade. Hier hätte Deutschland mit der verbindlichen Einführung eine Vorreiterrolle spielen können. Im Vergleich zu anderen Kennzeichnungen ist der Nutri Score einfach und intuitiv verständlich, so lassen sich auch sozial schwächer gestellte Schichten erreichen. Zum Nutri Score gibt es zahlreiche wissenschaftliche Daten. Eine Studie aus Frankreich hat etwa gezeigt, dass die Verbraucher mithilfe des Nutri Scores zehn Prozent mehr gesündere Produkte kaufen. Sie kaufen zwar weiterhin auch Ungesundes, aber eben weniger. Das ist besonders relevant im Bereich der Fertiglebensmittel, wo der Verbraucher den hohen Gehalt an Zucker, Fett und Salz häufig gar nicht vermutet und auch nicht erkennen kann.
In dem Papier ist die Rede von „Europäischen Nährwertprofilen“, die entwickelt und eingeführt werden sollen. Was ist damit gemeint?
Die Formulierung lässt viel Raum für Interpretationen. Aus meiner Sicht spricht alles für den Nutri Score, wenn man europaweit eine einheitliche Lebensmittelkennzeichnung einführen will. Immerhin haben sich ja schon einige Länder − Frankreich, Deutschland, Belgien und Spanien − auf diese Kennzeichnung eingelassen. Für Kinderlebensmittel gibt es bereits von der WHO entwickelte Nährwertprofile. Hier sollte Deutschland nicht auf eine europäische Regelung warten, sondern Kinder direkt vor ungesunden Produkten schützen.
An welcher Stelle hat die Strategie Sie positiv überrascht?
Ich habe mich gefreut, dass man Lehrstühle an den Universitäten ausbauen, Forschung stärken und Diabetes und Adipositas mehr in den Studiencurricula berücksichtigen will. Hier ist rasches Handeln geboten. Positiv sehe ich zudem, dass Disease-Management-Programme (DMP) explizit erwähnt werden und diese weiterentwickelt werden sollen. Damit hat man sich zu diesem Ansatz bekannt. Dass Patienten DMPs leichter finden, bewerten und vergleichen können sollen, ist ein guter Ansatz. Es ist allerdings verwunderlich, dass dies nach fast 20 Jahren, in denen es diese Programme schon gibt, noch nicht passiert ist. Die Daten stehen immer noch nicht bundesweit zur Verfügung. Das ist ein echtes Defizit.
Ist solch ein Datenmangel noch an anderer Stelle ein Problem?
In dem Papier wird eine leitliniengerechte Behandlung als Voraussetzung in der Versorgung von Diabetespatienten genannt, das ist sehr zu begrüßen. Auch vor dem Hintergrund, dass derzeit eine neue Versorgungsleitlinie für Diabetes unter Mitwirkung von mehr als 30 verschiedenen Fachgesellschaften auf dem Weg ist. Aber auch hier gibt es nur einen Flickenteppich an Daten, die zeigen, wie oft eine leitliniengerechte Behandlung bislang schon Anwendung findet und wie sich das auf die Versorgung insgesamt auswirkt.
Die Strategie adressiert das Problem: Versorgungsdaten sollen schneller und breiter zur Verfügung stehen. Woran scheitert die Datenzusammenführung bisher?
Möglich wäre sie. Ich kann nur vermuten, dass an einigen wichtigen Schaltstellen der Wille dazu fehlt.
Der ist auch in der Telemedizin gefragt. Das Strategiepapier erwähnt diesen Bereich jedoch nur am Rande.
Dabei ließe sich Telemedizin zum Beispiel gut im Bereich des diabetischen Fußsyndroms nutzen, um ein Fußkonzil von Hausarzt zu Facharzt einzuholen, ohne dass der Patient weite Wegstrecken zurücklegen muss. So könnten sich Fußläsionen und Amputationen verhindern lassen. Das können wir uns perspektivisch auch für das Retinopathie-Screening vorstellen.
Welche Rolle kann die elektronische Patientenakte künftig in der Diabetesversorgung spielen?
In der Behandlung von Diabetes-patienten, die ja meist sehr komplex erkrankt und multimorbid sind, kann so ein sektorenübergreifender Zugang − natürlich unter Wahrung des Datenschutzes − eine ganz wichtige Rolle spielen. Medikations- und Injektionspläne sollten Teil davon sein.
Welche Rolle können Apps, etwa zur Erfassung des Blutzuckerspiegels, in der Diabetesversorgung spielen?
Solche Apps haben sich als sinnvoll erwiesen. Mittlerweile gibt es aber eine schwer überschaubare Anzahl auf dem Markt. Das Ende Mai gestartete Prüfverfahren des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte soll zeigen, welche der Programme sich auch als Kassenleistung eignen. So wird sich hoffentlich die Spreu vom Weizen trennen.
Perspektivisch soll die Diabetesstrategie in ein allgemeines Präventionsgesetz münden. Halten Sie das für sinnvoll?
Die Diabetesstrategie enthält vor allem Willensbekundungen. In einem neuen Präventionsgesetz sollten konkrete Maßnahmen der Verhältnisprävention enthalten sein und das Know-how der Fachgesellschaften stärker berücksichtigt werden. Die Sorge bei so einem breiten Ansatz ist, dass am Ende das gesamte Produkt verwässert. Wenn mit der Gießkanne in jeden Bereich ein bisschen was Unverbindliches gegossen wird, dann wird auch eine Neuauflage des Präventionsgesetzes seinem Namen nicht gerecht.
Das Interview führte Alina Reichardt.
Die Nationale Diabetesstrategie
Anfang Juli hat die Bundesregierung nach langjährigen Verhandlungen eine Nationale Diabetesstrategie beschlossen. Diese enthält keine Gesetzesentwürfe, sondern macht Vorschläge für mögliche Maßnahmen, die sowohl auf Ebene des Bundes als auch der Länder und Kommunen umgesetzt werden sollen. Die Autoren schlagen unter anderem vor, die Themen Sport und Ernährung stärker in die ärztliche Ausbildung zu integrieren, die Adipositasversorgung schon in frühen Stadien zur Kassenleistung zu machen und Disease-Management-Programme weiter zu vereinheitlichen und zu verbessern. Zudem sollen Behandlungsdaten national und regional erfasst und zugänglich gemacht, Forschung und Informationsangebote langfristig finanziell unterstützt werden. Kritik von Opposition und Institutionen des Gesundheitswesens gab es vor allem an den Vorschlägen im Bereich der Ernährung. Hier verweist die Strategie auf Selbstverpflichtungen der Industrie, etwa bei der Zuckerreduktion in Lebensmitteln. Auch eine national verpflichtende Nähwertkennzeichnung ist nicht vorgesehen. alir
Schulz, Wolf-Dieter