ArchivDeutsches Ärzteblatt29-30/2020Flüchtlinge und Folteropfer: „Immer nur auf das Trauma zu schauen, ist schwer“

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Flüchtlinge und Folteropfer: „Immer nur auf das Trauma zu schauen, ist schwer“

Bühring, Petra

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Das Zentrum Überleben in Berlin bietet geflüchteten Menschen mit schweren Traumata psychosoziale Hilfe an, um sich in Deutschland besser integrieren zu können. Über die Arbeit in dem Zentrum informierte sich jetzt Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) bei einem Besuch vor Ort.

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey vor einer Weltkarte mit den Herkunftsländern der Geflüchteten. Fotos: Zentrum Überleben
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey vor einer Weltkarte mit den Herkunftsländern der Geflüchteten. Fotos: Zentrum Überleben

Nach Deutschland geflüchtete Menschen, die Folter, Gewalt und Vertreibung erlebt haben und häufig schwer traumatisiert sind, suchen im Zentrum Überleben (ZÜ) in Berlin-Moabit Hilfe. Am Internationalen Tag zur Unterstützung der Folteropfer besuchte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey das Zentrum – begleitet von Journalisten. Es ist eines von 42 (zehn davon im Aufbau) spezialisierten Behandlungszentren in Deutschland. Organisiert sind alle unter dem Dach der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Behandlungszentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V. (BAfF).

Im ZÜ erhalten Geflüchtete psychiatrisch/psychotherapeutische Behandlung, Rehabilitation und integrative Qualifizierungen. Die Tagesklinik und die Ambulanzen für Psychotherapie arbeiten zusammen mit Sprachmittlern und Sozialarbeitern. Neben traumafokussierten Einzeltherapien werden Gruppentherapien und Kreativtherapien angeboten. Deutschkurse und Projekte zur beruflichen Orientierung ergänzen das Angebot. Die Berufsfachschule „Paulo Freire“ auf dem Gelände des ZÜ zum Beispiel qualifiziert Geflüchtete durch Pflegebasiskurse.

Draußen wegen Corona

„Immer nur auf das Trauma zu schauen, ist schwer“, sagt Dr. med. Tanja Waiblinger, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, als Ministerin Franziska Giffey (SPD) an einen Tisch im Garten des Zentrums herantritt, an dem geflüchtete Frauen und Kinder im Rahmen einer Kreativtherapie malen und modellieren. Seit der Coronapandemie finden die meisten Angebote im Freien statt, wenn das Wetter es zulässt, berichtet die Leiterin der Tagesambulanz für Erwachsene. Da die meisten Patienten aus Flüchtlingsunterkünften kommen, hat das ZÜ die Behandlung in Innenräumen aktuell weitgehend eingestellt – zum eigenen Schutz. Die BAfF forderte die Bundesländer vor Kurzem auf, die Unterbringungsbedingungen für Geflüchtete so zu verbessern, dass Abstands- und Hygienestandards eingehalten werden können (siehe auch „Plötzlich ein Corona-Hotspot“, , Heft 24/2020).

Das Zentrum Überleben hat den kreativen Ansatz der Behandlung im Garten des weitläufigen baumbestandenen Geländes gewählt, damit die Patienten auch während der Coronapandemie weiter versorgt werden können. „Videotherapie war für die meisten keine Option, denn sie besitzen keine geeigneten Handys und haben in ihren Unterkünften auch keinen Rückzugsort“, berichtet Waiblinger. Eine Traumaanamnese könne man im Garten wegen der Ablenkung zwar nicht machen, aber stabilisierend und ressourcenorientierend zu arbeiten, sei schon gut möglich.

Wie lang die Warteliste für die Aufnahme im Zentrum Überleben sei, möchte die Bundesfamilienministerin wissen. „Von sechs Anfragen können wir einen Patienten aufnehmen“, sagt Waiblinger. Im Bundesdurchschnitt müssen traumatisierte Geflüchtete laut BAfF rund 7,3 Monate auf einen Therapieplatz in einem der spezialisierten Zentren warten. Die Anfragen kämen zum größten Teil von Sozialarbeitern aus den Flüchtlingsunterkünften, die direkt damit konfrontiert seien, dass die Menschen dort einen dissoziativen Anfall haben, aggressiv gegen sich und andere sind oder nicht mehr aus ihrem Zimmer kommen. Melden würden sich aber auch Kollegen aus den psychiatrischen Institutsambulanzen, Mitarbeiter Psychosozialer Beratungsstellen oder Verfahrensberatungen, Rechtsanwälte oder jemand „aus der Community“ der Geflüchteten, berichtet die Ärztin. Wie sie denn auswählen, wer einen Platz im Zentrum Überleben bekommt, fragt Giffey, die sich sehr um die Patientinnen in der Kreativtherapie bemüht. Eine ältere Frau aus dem Iran, die gerade eine Puppe modelliert hat, sagt: „Ich möchte am liebsten jeden Tag hierherkommen.“ Sie fragt die Ministerin, ob sie ihr nicht eine Arbeit vermitteln könne, sie habe 34 Jahre am Theater gearbeitet, bevor sie nach Deutschland kam. Und Giffey hat tatsächlich einen Tipp.

„Wir nehmen vor allem diejenigen auf, die in ihren Herkunftsländern im Gefängnis waren, körperliche Folter erlebt haben und unter Symptomen einer Traumafolgestörung leiden“, sagt Waiblinger. Aber auch Geflüchtete, die viele Kriegstraumata erlebt haben und kaum deutsch sprechen, hätten eine Chance auf einen der begehrten Plätze. Wer besser deutsch spreche, könne auch in der Regelversorgung behandelt werden, so die Intention. In der Tagesambulanz für Erwachsene werden nach Angaben der Leiterin jährlich zwischen 50 und 70 Patienten neu aufgenommen, die zum Teil drei bis vier Jahre dort ambulant behandelt werden, sodass laufend zwischen 400 und 500 Menschen in der Abteilung versorgt werden. Sie versucht paritätisch aufzunehmen. Nach der Flüchtlingskrise 2015 habe es einen großen Ansturm von Männern zwischen 19 und Anfang 40 gegeben und nur wenigen Frauen. Jetzt liege der Anteil bei etwa 60 Männern zu 40 Frauen. „Die Frauen, die am Anfang noch gut gecopt haben, suchen jetzt, wo sie ihre Kinder betreut wissen, auch Hilfe“, erklärt Verhaltenstherapeutin Waiblinger. „Die meisten Frauen haben zunächst einen hohen Alltagsdruck, wenn sie bei uns aufgenommen werden, wie eine schwierige Wohnsituation oder fehlende Kitaplätze, wenn sie zu uns kommen. Über die Traumata wird meist erst später gesprochen“, ergänzt Cornelia Bruckner, Sozialarbeiterin in der Tagesambulanz. Die Familienministerin hört aufmerksam zu. Häusliche Gewalt im Herkunftsland oder auch in Deutschland von Ehepartnern oder Expartnern sei häufig ein Thema, so Bruckner. Während der Coronakrise sei der Zugang zu den betroffenen Frauen sehr schwierig gewesen, auch weil einige der gewaltausübenden Männer, das Virus als Vorwand genommen hätten, ihren Frauen den Kontakt zu den Helfenden zu verbieten.

Franziska Giffey und Tanja Waiblinger (rechts), Ärztliche Leiterin der Tagesambulanz für Erwachsene im Zentrum Überleben
Franziska Giffey und Tanja Waiblinger (rechts), Ärztliche Leiterin der Tagesambulanz für Erwachsene im Zentrum Überleben

Traumafokussierte Therapien

Sieben ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten arbeiten in der Tagesambulanz für Erwachsene plus fünf Sozialarbeiter. „Wir versuchen, jedem Patienten einen Bezugstherapeuten und einen Bezugssozialarbeiter zuzuteilen“, berichtet Leiterin Waiblinger. Dann werde jedem zunächst ein Akutprogramm mit 15 Sitzungen angeboten. „Oftmals spielen ein unsicherer Aufenthaltsstatus und die damit verbundene Zukunftsangst mit in die Symptomatik rein“, betont sie. Bei manchen Patienten reiche die Dokumentation der körperlichen und psychischen Folterfolgen für das aufenthaltsrechtliche Verfahren zunächst aus, sie brauchten keine längerfristige Psychotherapie. Andere erhielten eine Traumafokussierte Psychotherapie.

Im Zentrum Überleben suchen Männer, Frauen und Kinder aus rund 50 Ländern Hilfe. Die meisten kommen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, Libyen, Eritrea, Somalia und der Türkei. Zentral in der psychosozialen Arbeit mit den Geflüchteten sind daher Dolmetscher beziehungsweise Sprachmittler. „Wir haben rund 50 Honorarkräfte, die von uns ausgebildet wurden, regelmäßige Fortbildung erhalten und einmal im Monat Supervision bekommen“, berichtet Waiblinger. Dies sei notwendig, weil die Dolmetscher in der Therapiesituation die psychischen Belastungen der Patienten zum Teil ungefiltert erleben müssen. „Wir achten auf unsere Dolmetscher, damit sie nicht an ihre Belastungsgrenzen stoßen“, betont sie.

Honorierung von Dolmetschern

Bezahlt werden die Leistungen der Dolmetscher/Sprachmittler in den ersten 18 Monaten des Aufenthaltes der Geflüchteten in Deutschland von den Sozialämtern und danach von Spenden, die das Zentrum Überleben erreichen. Die Krankenkassen zahlen nicht für Dolmetscherleistungen. Neben der Komplexität der Fälle sei dies ein Grund, warum die Überführung in die Regelversorgung „sehr schwierig“ sei, betont Waiblinger. „Es gibt viele engagierte niedergelassene Psychotherapeuten, die gerne Geflüchtete behandeln würden, aber die Dolmetscherkosten dann aus eigener Tasche bezahlen müssten“, kritisiert sie. Wenn sie sich eines von der Politik wünschen könnte, dann wäre das die Übernahme von Dolmetscherleistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung. Doch dafür ist die Bundesfamilienministerin nicht zuständig. Eher als an niedergelassene Kollegen verweist Waiblinger deshalb an psychiatrische Institutsambulanzen mit transkulturellem Schwerpunkt (zum Beispiel Vivantes Humboldt-Klinikum, Charité Campus Benjamin Franklin, St. Hedwig-​Krankenhaus, Alexianer), wenn sie keinen Platz anbieten kann. Dort stehen neben einem Dolmetscherpool auch psychiatrische Betten im Hintergrund zur Verfügung. Petra Bühring

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