

Wie eine große Welle baut sich die versorgungspolitische Aufarbeitung der ersten Pandemiemonate auf: Welcher Versorgungsbereich verdient den politischen Applaus für seine Leistungen? Wer hat seine Aufgaben erfüllt und muss deshalb bei künftigen Reformen die eigenen Forderungen von Gesundheitspolitikern erfüllt bekommen? Nach dem ersten Halbjahr der Pandemie präsentieren Ökonomen, Verbands- und andere Interessenvertreter in dieser politischen Sommerpause ihre Vorschläge. Ein übliches Fazit: Jeder war selbst am besten – oder mindestens besser als die anderen.
Leider sind einige Diskussionsbeiträge noch auf dem Niveau von vor der Pandemie – als hätte man nichts aus den vergangenen Monaten gelernt. Dabei hat die Pandemie zwei Faktoren gezeigt: Ohne die ambulante, hausärztliche Versorgung geht es nicht. Sechs von sieben COVID-19-Fälle wurden ambulant versorgt. Anders als in anderen Ländern waren Patienten nicht mit Husten und Fieber als erstes im Krankenhaus. Die Notaufnahme war nicht das Zentrum für PCR-Abstriche. Faktor zwei: Ohne die Spitzenmedizin auf den intensivmedizinischen Stationen von Unikliniken und Maximalversorgern geht es auch nicht. Ganz besonders wichtig war es, dass viele dieser Abteilungen ihr täglich wachsendes Wissen mit anderen Häusern in der Region geteilt haben und so gemeinsam viele Patienten an mehreren Häusern versorgen konnten. Ärztlicher Erfahrungsaustausch, organisatorische Zusammenarbeit in Verbünden – all das funktionierte plötzlich und über Nacht – auch ohne langjährige Diskussion mit Strukturdebatten und Ausgleichszahlungen aus Steuergeldern.
Überspitzt gesagt: Infektionssprechstunden beim Hausarzt und telemedizinische Projekte wie beispielsweise das interdisziplinäre Visiten-Projekt ERIC (Enhanced Recovery after Intensive Care) an der Charité waren zwei der Erfolgsfaktoren der Pandemiebewältigung in Deutschland. Klare und effektive Steuerung von Patienten in die sinnvollste Versorgungsebene sowie spezialisierte Zentren für unbekannte, komplexe Erkrankungen sind der Schlüssel zum Erfolg.
Beide Ebenen benötigen sich gegenseitig – dürfen in der jetzt startenden gesundheitspolitischen Debatte nicht gegeneinander ausgespielt werden. Neu sind Vorschläge für Zentrenbildung, sektorenübergreifende Versorgung und Wissensaustausch per Videochat wahrlich nicht. Diese Modelle werden auf gesundheitspolitischen Veranstaltungen seit Jahrzehnten diskutiert. Dabei sind die Vorschläge sehr unterschiedlich, wie auch die Antworten der vom Deutschen Ärzteblatt befragten Ökonomen in dieser Ausgabe (Seite 1418) deutlich machen.
Die entscheidende Veränderung in der jetzigen Debatte: In den ersten Monaten des Jahres 2020 hat das deutsche Gesundheitswesen gezeigt, dass sich im Ernstfall die sektorenübergreifende Versorgung umsetzen lässt, Strukturveränderungen über Nacht Fakt werden und die Versorgung sich in allen Bereichen weiter auf hohem Niveau aufrechterhalten lässt.
Diese Erkenntnisse dürfen für die Reformdiskussionen nicht vergessen werden. Das Bundesgesundheitsministerium wird in diesen Sommer ein Krankenhausstrukturgesetz vorlegen, Mitte September finden erste Beratungen im Bundestag statt. Hoffentlich werden die positiven Erfahrungen aus der Versorgung der vergangenen Monate im Herbst in kluge Gesetzgebung überführt – und nicht die alten Argumente früherer Strukturdebatten.
Rebecca Beerheide
Leiterin politische Redaktion
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