ArchivDeutsches Ärzteblatt33-34/2020Sehverlust nach assistierter mechanischer Beatmung aufgrund von SARS-CoV-2 – Eine Fallserie
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Das „severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“ (SARS-CoV-2) kann neurologische Beeinträchtigungen wie Anosmie und Dysgeusie hervorrufen. Die respiratorische Insuffizienz ist teilweise neurogen und durch eine virale Invasion des Nervus olfactorius bedingt, die in die Atmungszentren des Hirnstamms fortschreitet (1). Ob eine Schädigung des Zentralnervensystems direkt durch das Virus verursacht wird oder aus Stoffwechsel- oder Entzündungsreaktionen hervorgeht, ist bisher ungeklärt. CoV-2 bindet an ACE2-Rezeptoren (2) in Endothelzellen, was zu einer Endotheliitis und/oder Koagulopathie führt, die wiederum einen ischämischen Schlaganfall und eine hämorrhagische nekrotisierende Enzephalopathie nach sich ziehen können (1). Die Mehrzahl der SARS-CoV-2-Patienten ist im Labortest positiv für Lupus-Antikoagulans und weist eine verlängerte aktivierte partielle Thromboplastinzeit auf, was für mikrovaskuläre Verschlüsse und Blutungen im neuronalen Gewebe prädisponiert (3). Symptomatische, schwere neuroretinale Schäden, die zu einem Sehverlust nach SARS-CoV-2 führen, wurden bislang nicht berichtet.

Diese Fallserie illustriert neuroretinale Schädigungen bei drei Patienten nach einer assistierten mechanischen Beatmung über 7–16 Tage zwischen April und Mai 2020 aufgrund von SARS-CoV-2. Unmittelbar nach Wiedererlangen des vollen Bewusstseins berichteten die Patienten über ihre Sehstörung. Vor SARS-CoV-2 waren bei ihnen keine Augenerkrankungen bekannt. Das ophthalmologische Spektrum und ein detaillierter Zeitverlauf von SARS-CoV-2 bei den Patienten sind in der Grafik dargestellt.

Rechtes (RA) und linkes (LA) Auge von drei Patienten mit unterschiedlichen Stadien der Netzhaut- und Optikusatrophie 14, 21 beziehungsweise 35 Tage nach assistierter mechanischer Beatmung aufgrund von SARS-CoV-2; a–f: Fundusbilder; c´–f´: optische Kohärenztomografie (OCT): Querschnitte durch Makula, Sehnervenkopf und Cotton-wool-Herde; c``–f``: neuroretinale Randsaumdicke der Papille (NRD); g, zeitlicher Verlauf
Grafik
Rechtes (RA) und linkes (LA) Auge von drei Patienten mit unterschiedlichen Stadien der Netzhaut- und Optikusatrophie 14, 21 beziehungsweise 35 Tage nach assistierter mechanischer Beatmung aufgrund von SARS-CoV-2; a–f: Fundusbilder; c´–f´: optische Kohärenztomografie (OCT): Querschnitte durch Makula, Sehnervenkopf und Cotton-wool-Herde; c``–f``: neuroretinale Randsaumdicke der Papille (NRD); g, zeitlicher Verlauf

Fallserie

Bei Patientin 1, einer 64-jährigen Frau mit arterieller Hypertonie, rheumatoider Arthritis und Adipositas Grad 1, betrug die Sehschärfe initial nach Extubation beidseits 0,5. Der Augeninnendruck war normal und die vorderen Augenabschnitte waren unauffällig. Die Funduskopie ergab beidseits zentral gelegene, ischämische Netzhautläsionen und eine Papillenschwellung sowie am linken Auge Netzhautblutungen (Grafik). Bei einer Kontrolluntersuchung 44 Tage später betrug die Sehschärfe wieder 1,0 beidseits, jedoch bestanden periphere Gesichtsfeldausfälle aufgrund einer Optikusatrophie.

Bei Patient 2, einem 43-jährigen Mann mit arterieller Hypertonie und einer Kohlenmonoxidvergiftung vor 24 Jahren, zeigten sich initial nach Extubation funduskopisch beidseits parafoveale Blutungen. Ein Anstieg des Augeninnendrucks auf 54 mm Hg am rechten Auge normalisierte sich innerhalb von zwei Tagen nach der Gabe von systemischen und topischen Glaukompräparaten und einer Laseriridotomie. Elf Tage später stieg der Druck rechts erneut auf 49 mm Hg an. Die Sehschärfe betrug 0,1 am rechten und 1,0 am linken Auge. Am rechten Auge zeigte sich neben einer zellulären Infiltration des Glaskörpers ein Lichtweg in der Vorderkammer, hinweisend auf eine Ischämie oder Entzündung. Die Fundusuntersuchung ergab eine bilaterale Netzhautausdünnung, Optikusatrophie im rechten und Papillenschwellung im linken Auge (Grafik). Die kinetische Perimetrie wies auf ein zentrales Skotom am rechten und einen zentralen Empfindlichkeitsverlust des linken Auges hin. In der Magnetresonanztomografie mit Kontrastmittel wurde eine Signalanhebung in beiden Sehnerven erkennbar. Die Ursache des erhöhten Augeninnendrucks blieb unklar, da weder ein Block des Kammerwinkels noch eine Neovaskularisation der Iris nachgewiesen werden konnte. Nach einem operativen Linsenaustausch inklusive einer Trabekulotomie normalisierte sich der Augeninnendruck. Bei einer Kontrolluntersuchung 36 Tage nach der ersten ophthalmologischen Untersuchung betrug die Sehschärfe 0,25 rechts und 1,0 links. Die Papillenschwellung war rückläufig bei ansonsten stabilen klinischen Befunden.

Bei Patient 3 handelt es sich um einen 60-jährigen Mann mit initial nach Extubation beidseitiger Sehbehinderung. Als Vorerkrankungen bestanden eine arterielle Hypertonie, ein insulinabhängiger Diabetes mellitus, eine Adipositas Grad 1 und ein Nikotinabusus. Fünf Wochen nach Extubation betrug die Sehschärfe rechts Lichtscheinwahrnehmung und links 1,0. Der Augeninnendruck war beidseits normal. Am rechten Auge wurde ein relativer afferenter Pupillendefekt festgestellt. Die kinetische Perimetrie ergab ausgeprägte absolute Skotome beidseits. Die Spaltlampenuntersuchung zeigte keine Auffälligkeiten der vorderen Augenabschnitte, die Fundusuntersuchung beidseits hyperreflektierende, ischämische Läsionen in der Netzhaut, eine Atrophie der innerer Netzhautschichten sowie eine Optikusatrophie (Grafik). Eine Kontrolluntersuchung 28 Tage später erbrachte unveränderte klinische Befunde.

Diskussion

Bereits vor 20 Jahren wurde über eine apoptotische Degeneration in den neuronalen Strukturen des hinteren Augenabschnitts bei Mäusen berichtet, die durch eine intravitreale Infektion mit dem Coronavirusstamm JMH induziert worden war (4). Kürzlich wurden beim Menschen asymptomatische Netzhautveränderungen als ischämische Cotton-wool-Herde und Mikroblutungen sowie hyperreflektive Läsionen in der retinalen Ganglienzellschicht und in der inneren plexiformen Schicht mittels optischer Kohärenztomografie beschrieben, die auf ischämische mikrovaskuläre Veränderungen hinweisen (5). Bislang sind jedoch keine symptomatischen neuroretinalen Komplikationen aufgrund von SARS-CoV-2 und der Behandlung dieser Erkrankung auf einer Intensivstation beim Menschen dokumentiert worden. Nach unserer Literaturrecherche und Erfahrung sind weder die eingesetzten Antikoagulanzien, Kortikosteroide und Analgetika, noch die bei den drei Patienten während der intensivmedizinischen Behandlung zusätzlich eingesetzten Medikamente dafür bekannt, eine Degeneration des Sehnervs oder der Netzhaut zu verursachen. Wir empfehlen daher, systematisch auf Sehstörungen nach assistierter mechanischer Beatmung aufgrund von SARS-CoV-2 zu prüfen. Ob die in der vorliegenden Fallserie berichteten Befunde auf die intensivmedizinische Behandlung, sekundäre Stoffwechselreaktionen, Entzündungen oder eine Hypoxie zurückzuführen sind oder ob sie durch eine direkte retinale Virusinfektion verursacht wurden, muss in weiteren Studien geklärt werden.

Förderung

Dr. Schröter wird unterstützt durch das Berta-Ottenstein-Programm für klinische Wissenschaftler der Medizinischen Fakultät, Universität Freiburg.

Michael Reich, Laurenz Pauleikhoff, Nils Schröter, Stephan Spang, Jan Lübke, Clemens Lange, Wolf A. Lagrèze

Klinik für Augenheilkunde, Universitätsklinikum Freiburg, Medizinische Fakultät, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (Reich, Pauleikhoff, Lübke, Lange, Lagrèze)

michael.reich@uniklinik-freiburg.de

Klinik für Neurologie und Neurophysiologie, Universitätsklinikum Freiburg,
Medizinische Fakultät, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (Schröter)

Augenzentrum Tuttlingen (Spang)

Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Manuskriptdaten
eingereicht: 10. 6. 2020, revidierte Fassung angenommen: 15. 7. 2020

Zitierweise
Reich M, Pauleikhoff L, Schröter N, Spang S, Lübke J,
Lange C, Lagrèze WA: Visual loss following assisted mechanical ventilation due to SARS-CoV-2—a case series. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 561–2. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0561

Dieser Beitrag erschien online am 22. 7. 2020 (online first) auf www.aerzteblatt.de

►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de

1.
Román GC, Spencer PS, Reis J, et al.: The neurology of COVID-19 revisited: a proposal from the environmental neurology specialty group of the world federation of neurology to implement international neurological registries. J Neurol Sci 2020; 414: 116884 CrossRef MEDLINE PubMed Central
2.
Patel AB, Verma A: COVID-19 and angiotensin-converting enzyme inhibitors and angiotensin receptor blockers: What is the evidence? JAMA 2020; 323: 1769–70 CrossRef PubMed Central
3.
Bowles L, Platton S, Yartey N, et al.: Lupus anticoagulant and abnormal coagulation tests in patients with Covid-19. NEJM 2020; c2013656. Epub ahead of print CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.
Wang Y, Detrick B, Yu ZX, Zhang J, Chesky L, Hooks JJ: The role of apoptosis within the retina of coronavirus-infected mice. Invest Ophthalmol Vis Sci 2000; 41: 3011–8.
5.
Marinho PM, Marcos AAA, Romano AC, Nascimento H, Belfort R, Jr.: Retinal findings in patients with COVID-19. Lancet 2020; 395: 1610 CrossRef
Rechtes (RA) und linkes (LA) Auge von drei Patienten mit unterschiedlichen Stadien der Netzhaut- und Optikusatrophie 14, 21 beziehungsweise 35 Tage nach assistierter mechanischer Beatmung aufgrund von SARS-CoV-2; a–f: Fundusbilder; c´–f´: optische Kohärenztomografie (OCT): Querschnitte durch Makula, Sehnervenkopf und Cotton-wool-Herde; c``–f``: neuroretinale Randsaumdicke der Papille (NRD); g, zeitlicher Verlauf
Grafik
Rechtes (RA) und linkes (LA) Auge von drei Patienten mit unterschiedlichen Stadien der Netzhaut- und Optikusatrophie 14, 21 beziehungsweise 35 Tage nach assistierter mechanischer Beatmung aufgrund von SARS-CoV-2; a–f: Fundusbilder; c´–f´: optische Kohärenztomografie (OCT): Querschnitte durch Makula, Sehnervenkopf und Cotton-wool-Herde; c``–f``: neuroretinale Randsaumdicke der Papille (NRD); g, zeitlicher Verlauf
1.Román GC, Spencer PS, Reis J, et al.: The neurology of COVID-19 revisited: a proposal from the environmental neurology specialty group of the world federation of neurology to implement international neurological registries. J Neurol Sci 2020; 414: 116884 CrossRef MEDLINE PubMed Central
2.Patel AB, Verma A: COVID-19 and angiotensin-converting enzyme inhibitors and angiotensin receptor blockers: What is the evidence? JAMA 2020; 323: 1769–70 CrossRef PubMed Central
3.Bowles L, Platton S, Yartey N, et al.: Lupus anticoagulant and abnormal coagulation tests in patients with Covid-19. NEJM 2020; c2013656. Epub ahead of print CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.Wang Y, Detrick B, Yu ZX, Zhang J, Chesky L, Hooks JJ: The role of apoptosis within the retina of coronavirus-infected mice. Invest Ophthalmol Vis Sci 2000; 41: 3011–8.
5.Marinho PM, Marcos AAA, Romano AC, Nascimento H, Belfort R, Jr.: Retinal findings in patients with COVID-19. Lancet 2020; 395: 1610 CrossRef

Kommentare

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Avatar #650150
0815doc
am Donnerstag, 30. Juli 2020, 12:29

Schöne Schilderung mit objektiven Parametern, aber...

ein Visusverlust nach ARDS mit Bauchlage ist eine lange bekannte Komplikation und wahrscheinlich auf (wie auch immer geartete) Sauerstoffminderversorgung der Retina und / oder zu viel Augenninnendruck zurückzuführen, wie Sie dies ja auch hier ausführen. Leider ist im Artikel nicht geschildert, ob eine Bauchlage genutzt wurde oder nicht?
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