THEMEN DER ZEIT: Interview
Interview mit Dr. phil. Roland Voigtel, Psychoanalytischer Psychotherapeut: „All das sind Momente von Beziehung“


Manche Suchtstrukturen erscheinen zunächst als beinahe unveränderbar. Aber bei Süchten setzt der Veränderungsprozess oft erst spät ein.
Es gibt bei Suchtstrukturen ähnlich stabile Muster wie bei Persönlichkeitsstrukturen. Heißt das, etwa auch ähnlich konfrontativ zu arbeiten?
Roland Voigtel: Bei einer schweren Sucht geht es immer um eine starke Konfrontation. In der Entscheidungsphase der Therapie, in der es darum geht, ob ein Patient die Droge, sein bewährtes Schutzmittel gegen quälende Emotionen, wirklich loslassen kann und sich auf die Beziehung zum Therapeuten einlässt, muss der Therapeut sehr „standfest“ sein und auf ein längeres „Ringen“ gefasst sein – ich will es mal so nennen. Vielleicht sage ich in dieser Phase zum Patienten an einer bestimmten Stelle: „Ich traue Ihnen zu, dass Sie den Alkohol loslassen können und sich nun den schwer erträglichen Affekten stellen.“ Diese Affekte sind oft Angst, Wut oder auch Scham. In der Therapie sollte bis dahin so viel Vertrauen entstanden sein, dass er mir auch glaubt und sich genügend geschützt fühlt. Wenn das nicht gelingt über einen gewissen Zeitraum, dann muss man auch ehrlich sagen, dass die Therapie gescheitert ist.
Was steckt denn oft hinter diesen unerträglichen Affekten?
Voigtel: In Anlehnung an Sándor Radó nenne ich das die Initialverstimmungen. Diese Menschen haben ein grundlegendes inneres Verstimmtsein. Häufig hat das mit einem tiefen Gefühl von Verlassenheit und Unsicherheit zu tun. Hinzu kommen die Scham, nichts zu können, ein Nichts zu sein, und die Frage: Was soll ich überhaupt hier auf dieser Welt? Wir müssen uns sehr genau ansehen, woher dieses Grundgefühl kommt. Fast immer resultiert es aus einer frühen Beziehungskonstellation, in der das Kind das Gefühl hatte, für die Eltern eigentlich völlig uninteressant und wertlos zu sein. „Ob es mir gut geht oder schlecht, ist meinen Eltern eigentlich egal. Hauptsache, ich stehe nicht im Weg.“ Aus solchen Konstellationen resultiert eine tiefe Selbstunsicherheit.
Später süchtig werdende Personen reagieren auf die fundamentale Verunsicherung damit, dass sie den anderen, also zunächst den Eltern, alle Verantwortung für sich übergeben. „Ich selbst will am besten gar nichts, tue nur, was die anderen von mir wollen, dann bin ich wenigstens pflegeleicht und werde dafür vielleicht ein bisschen geliebt.“
Diese Klientinnen und Klienten wirken oft fügsam, sind aber gleichzeitig bei therapeutischen Absprachen unzuverlässig.
Voigtel: Am Anfang. In der Anfangszeit müssen wir Therapeuten mit dieser Unzuverlässigkeit rechnen und sollten darauf nicht beleidigt reagieren – was uns unwillkürlich ja doch zuweilen passiert. Je mehr sich die Patienten verstanden fühlen und wir gemeinsam in die therapeutische Arbeit gefunden haben, sind die Absprachen meistens kein Problem mehr. Das Problem mangelnder Absprachefähigkeit ist bei Aufenthalten in Kliniken größer, in der ambulanten Arbeit ist es geringer.
Die Patienten bleiben am Anfang in dem Modus: Gut, ich mache, was du von mir erwartest, ich antworte auf deine Fragen und ich sage das, wovon ich glaube, dass du es hören willst. Damit bleibt die Verantwortung zunächst beim Therapeuten. Aber das ändert sich nach und nach.
Man muss ja sehen, dass diese Menschen oft ganz schwer an ihre eigenen Gefühle herankommen. Der Therapeut ist dabei zunächst eher ein dirigierendes Objekt, ganz entsprechend der kindlichen Erfahrung eines dominanten, Fügsamkeit erwartenden Elternteils, aber der Unterschied ist, dass sich der Therapeut anders als die Eltern wirklich interessiert. Wenn ich mich dem Patienten interessiert zuwende, dann macht er die Erfahrung, dass er ja ganz offenbar doch etwas wert sein muss, und sein Selbstwertgefühl nimmt zu. Das macht es ihm dann möglich, sich auch stärker seinen Gefühlen, seinen Beziehungen und seiner Geschichte, die dann auch etwas wert sind, zuzuwenden und sie zu erkunden.
Und wenn nun ein Therapeut trotzdem mal beleidigt und zurückgewiesen reagiert, vielleicht weil es vor lauter Gefügigkeit gar nicht voranzugehen scheint?
Voigtel: Sich Zeit lassen. Im Rahmen der Ausbildung und der Supervision rate ich das immer, gerade wenn die anfängliche Widerständigkeit oder auch die anschließend geradezu langweilige Gefügigkeit als ausbleibende Entwicklung gesehen werden. Irgendwann sieht man, dass sich tatsächlich doch etwas verändert hat.
Liegt hier eine große Gefahr für störende Gegenübertragungen?
Voigtel: Im Gekränktsein, ja. Manche Therapeuten versuchen eine Weile lang, einen Patienten zu verstehen, machen sich Gedanken, geben Deutungen, sprechen über die gemeinsame Beziehung und sind dann von der geringen Resonanz enttäuscht, fragen den Patienten mehr oder minder explizit, wieso er sich so wenig auf die Therapie einlässt, wo sie sich doch so viel Mühe mit ihm geben. Womöglich kann aber der Patient mit diesem empathischen Reden gar nichts anfangen, weil er Empathie zunächst gar nicht kennt, sondern einfach nur mit seinen überwältigenden Wut-, Angst- oder Schamaffekten beschäftigt ist.
Was ist, wenn der Klient berauscht in die Therapiestunde kommt? Es gibt offenbar auch die Situation, dass er dann plötzlich viel offener spricht als sonst. Therapeutisch verlockend.
Voigtel: Bloß nicht! Der Patient befindet sich dann in einem anderen Modus. Man kann das manchmal nutzen, um zu erkennen, dass sich etwas bestätigt, was man ohnehin schon vermutet hatte, zum Beispiel, wenn plötzlich die Idealisierung von Mutter oder Vater zu bröckeln beginnt. Ich hatte mal einen Patienten, der betrunken in die Stunde kam, sich schwungvoll auf die Couch knallte und ankündigte: „Jetzt werde ich Ihnen mal erzählen, wie meine Mutter wirklich war!“ Was er erzählte, war aufschlussreich, und er konnte sich anschließend durchaus daran erinnern, aber einen inneren Wert hatte das nicht, denn die dazugehörigen Gefühle waren wieder weg.
Sie haben ihn also nicht sofort wieder nach Hause geschickt?
Voigtel: Ich habe zunächst einmal nur angemerkt, dass der Patient berauscht sei und dies gegen die therapeutische Absprache verstieße, aber ich schaue dann doch immer erst, wie und was die Patientinnen und Patienten erzählen. Wenn das vorrangig Gelalle ist, schicke ich sie natürlich wieder weg. Trotzdem gibt es manchmal Situationen, da lasse ich sie erzählen, aber therapeutisch kommt meistens nicht viel dabei heraus.
Wenn ein Klient berauscht kommt, sagt das etwas über die Therapeut-Klient-Beziehung aus?
Voigtel: Vielleicht, dass da etwas Angst- oder Schambesetztes andrängt und der Patient es einerseits erzählen möchte, es andererseits aber kaum aushält und Zuflucht in der betrunkenen Verantwortungslosigkeit sucht. Wenn die Therapie gut läuft, dann merkt der Patient allerdings im Laufe der Zeit, dass er schmerzhafte Erinnerungen und Gefühle sehr wohl aushalten kann. Das kann sogar zu Stolz führen: „Ich kann das, ich halte das aus.“ Dieses Aushalten gelingt dann zunehmend auch zwischen den Stunden im Alltag, wenn der Patient sich mehr und mehr mit der sowohl mitfühlenden als auch beobachtenden Haltung des Therapeuten identifiziert. Er fängt an zu beobachten, wie er selbst etwas erlebt. Diese Distanz macht es leichter, starke Angst- oder Schamaffekte nüchtern zu ertragen.
Wofür muss der Therapeut als Person stehen?
Voigtel: Erst einmal muss er für Zuverlässigkeit stehen und für das menschliche Interesse am Patienten. Hier ist übrigens die traditionelle abstinente Haltung aus der Psychoanalyse nicht förderlich. Sie wirkt auf die Patienten wie die Gleichgültigkeit, die sie von zu Hause kennen. Mit ihrer Art, gerade zu Beginn einer Therapie vieles so zu erzählen, wie sie glauben, dass der Therapeut es hören will, und es als „problemlos“ und „normal“ darzustellen, gehen sie von einem desinteressierten Gegenüber aus und „verführen“ den Therapeuten, ein solches zu sein. Hier muss man aktiver werden und beispielsweise auch mal bezweifeln, ob das so stimmt, wie der Patient es erzählt, oder Vorschläge für einen anderen Affekt machen als den problemlosen, den der Patient benannt hat. Zu der therapeutischen Aktivität kann es gehören, dass man sich über den Patienten ärgert und das auch sagt. Ebenso bei Freude. All das sind Momente von Beziehung, die der Patient so gar nicht kennt. Oder er bewertet solche Gefühle als völlig unbedeutend. Manche Patienten verfügen auch kaum über entsprechende Worte.
Und wenn Sie sich bei einem Klienten mal so richtig ratlos fühlen?
Voigtel: Ja, das kommt vor. Zuerst versuche ich dann herauszufinden, ob ich etwas übersehen habe. Oder frage nach, ob beim Patienten etwas passiert ist, was ich noch gar nicht weiß. Vielleicht verschweigt er mir auch etwas. Eventuell sage ich aber auch ganz offen: „Im Augenblick verstehe ich Sie nicht.“ Manchmal stößt man dann gemeinsam auf etwas.
Wenn Sie mal das Gefühl beschleicht, die Beziehung vielleicht überstrapaziert zu haben, oder Sie waren therapeutisch zu schnell, was ist dann zu tun?
Voigtel: Auf jeden Fall einen Schritt zurückgehen. Hatte der Patient einen Rückfall, muss neu besprochen werden, was er noch braucht, um abstinent bleiben zu können. Allerdings muss man auch den Mut haben, eine Therapie zu beenden, wenn es zwischen Therapeut und Patient nicht gut läuft. Vielleicht entscheidet sich ein Mensch doch weiterhin für seinen Alkohol als sofort wirkendes Allheilmittel oder ein anderer bleibt tief misstrauisch. Vielleicht passt der Zeitpunkt noch nicht und der Patient meldet sich später noch mal neu. Auch das gibt es. Es können auch mal zwei Jahre dazwischen liegen. Therapeutisch sollten wir nichts ausschließen.
Das Interview führte Uwe Britten.