ArchivDeutsches Ärzteblatt PP8/2020Gaetano Benedetti (1920–2013): Die Bürde als eine gemeinsame sehen

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Gaetano Benedetti (1920–2013): Die Bürde als eine gemeinsame sehen

Goddemeier, Christof

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Der italienische Psychiater, Psychoanalytiker und Pionier in der psychoanalytischen Psychosentherapie wäre im Juli 100 Jahre alt geworden.

Gaetano Benedetti vereinte Mut, Kraft, Geduld, intellektuelle Wachheit, Liebesfähigkeit und professionelle Erfahrung in hohem Maße. Foto: Mirkur CC BY-SA 4.0
Gaetano Benedetti vereinte Mut, Kraft, Geduld, intellektuelle Wachheit, Liebesfähigkeit und professionelle Erfahrung in hohem Maße. Foto: Mirkur CC BY-SA 4.0

Auf diese existenzielle Frage, die jeder psychisch kranke Patient an mich stellt – unbewusst, aber von mir als solche erlebt – kann ich als Therapeut und Mitmensch nur mit dem Einsatz meiner gesamtpersönlichen Existenz antworten (...)“, schrieb Gaetano Benedetti 1998 („Psychotherapie als existenzielle Herausforderung“). Dabei plädierte er dafür, das Leiden des Einzelnen als „Anruf“ anzuerkennen, dass „die Bürde eine gemeinsame ist, die gemeinsam ertragen und damit zu einem Ende getragen werden soll“ („Symbol, Traum, Psychose“). Dazu gehören Mut, Kraft, Geduld und Liebesfähigkeit, intellektuelle Wachsamkeit und professionelle Erfahrung, Eigenschaften, die Benedetti offenbar in hohem Maß in seiner Person vereinte (Joachim Küchenhoff). Neben seiner klinischen Arbeit teilte er seine Erfahrungen in mehr als 500 Publikationen und mehr als 20 Büchern mit, bildete Therapeuten aus und war als Supervisor tätig.

1920 im sizilianischen Catania als ältester Sohn eines Chirurgen geboren, wächst Gaetano Benedetti in einer aristokratischen Familie auf. Die Geborgenheit in der Liebe seiner Eltern und den daraus resultierenden Optimismus beschreibt Benedetti als wichtigen Halt und Voraussetzung für seine Arbeit mit psychisch kranken Menschen. Nach dem Medizinstudium in Catania bildet er sich zum Psychiater weiter und geht 1947 an die Psychiatrische Universitätsklinik Burghölzli in Zürich, um seine Kenntnisse zu erweitern. Bereits während seines Studiums hat er sich für Manfred Bleulers (1903–94) Arbeiten zur Schizophrenie interessiert. In Zürich lernt Benedetti Hanni Straub kennen, die er 1949 heiratet. Aus der Ehe gehen vier Kinder hervor.

Erkenntnisse integrieren

In „Psyche und Biologie“ sucht Benedetti die damals bereits zahlreichen Ergebnisse aus Neuropsychologie, Psychophysiologie, Verhaltenspsychologie und Experimentalpsychologie in das Fach Psychiatrie zu integrieren. Dabei leiten ihn zwei Hauptfragen: „a) Welche Rolle einerseits Erfahrungsmomente für die Ausformung biologischer Strukturen spielen; b) welche Bedeutung biologische Strukturen umgekehrt für psychische Phänomene haben.“ Er konstatiert, dass „Lebenserfahrungen nicht nur die Funktionen, die bedingten Reflexe, die Verhaltenskategorien und -stile prägen, sondern darüber hinaus wichtige biologische Strukturen beeinflussen, die ihrerseits für die Entfaltung des psychischen Verhaltens unerlässlich sind.“ Damit kann „nicht nur unser Erleben, sondern auch die Grundlage unseres Erlebens, also die biologische Struktur, psychogenetisch beeinflusst werden“. Mit dem französischen Psychiater Henri Ey sieht Benedetti das Gehirn als einziges Organ, das „sich selbst erlebend formt“. Klar fordert er, sich von der „Alternative hier psychisch, dort somatisch“ zu verabschieden. Ihm zufolge hat eine Trennungslinie zwischen beiden „nur einen praktischen und rein approximativen Wert und hilft uns, einige Krankheiten vorwiegend mit psychischen, andere vorwiegend mit körperlichen Mitteln zu behandeln“.

In seiner Studie „Der psychisch Leidende und seine Welt“ beschreibt Benedetti den psychisch kranken Menschen als Einsamen, eine Einsamkeit, die „selbst der beste, aufrichtigste, erfahrenste Therapeut oft nicht aufwiegen“ könne. Psychosoziales Leiden fasst er hier in drei ineinandergreifenden Kreisen: Im ersten finden sich die für eine Sozietät charakteristischen Wertungen, im zweiten zeichnet sich die individuelle Biografie ab, den dritten nennt Benedetti den „existenziellen“, er umfasst das „Reich der Person, der Freiheit, der individuellen Entscheidung“. An dieser Grenze der „personalen Einmaligkeit“ hört ihm zufolge die Wissenschaft auf, „die immer nur Ähnlichkeiten, gesetzmäßige Vergleiche, charakteristische Situationen, typische Verläufe und Ordnungen wahrnimmt und untersucht“. Dabei plädiert er dafür, „auf eine einfache Scheidelinie zwischen Geisteskranken und Geistesgesunden“ zu verzichten und weist auf das Trügerische dieser Einfachheit hin, die sich beim Bedenken des Problems bald als Illusion erweise. Denn was dem Psychiater als geisteskrankes Verhalten erscheine, werde etwa vom Dichter aus dem medizinischen Kontext herausgenommen und „als Symbol einer gemeinsamen Not verwendet“ („Psychiatrische Aspekte des Schöpferischen“ 1975). Benedetti zufolge genügt es, „medizinisch zu unterscheiden“.

Im gleichen Jahr beschreibt Benedetti die „Grenzen der Psychogenese“ („Die Schizophrenie in unserer Gesellschaft“ 1975). Schizophrene Psychodynamik sieht er hier als Brücke zur biologischen Genetik, Vereinfachungen im Sinne einer psychogenetischen Theorie der Schizophrenie sind „nicht mehr annehmbar. Man kann sich weder mit dem Schlagwort begnügen, dass der Kranke einer unerträglichen Realität entflieht, noch mit dem Hinweis auf eine Störung im körperlichen Metabolismus.“ Demnach gehe es in der Forschung künftig darum, die „Verzahnung psychobiologischer und lebensgeschichtlicher Momente besser (...) zu entwirren (...)“.

Disposition und Erfahrungen

Manfred Bleuler und die Zürcher Schule vertreten die These, dass bei der Ursache der Schizophrenie vererbte Dispositionen und ungünstige Lebenserfahrungen zusammenspielen. Dabei heißt „psychisch“ nicht „extrabiologisch“, wie Benedetti betont. Mit Bleuler versteht er Vererbung immer an Materie und Lebenserfahrung immer an den Körper, das Hirn, gebunden („Psychotherapie der Psychosen“ 1975). Später sieht er psychiatrische Patienten in den meisten Fällen als „psychisch Traumatisierte, nicht nur als Erwachsene, sondern auch in ihrer Vergangenheit als Kinder“. Denn jede Familie berge in sich unmenschliche Traditionen und Verhaltensweisen und schränke so die Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Mitglieder ein. Als „Todeslandschaften“ bezeichnet Benedetti „Leerräume, in denen gewisse menschliche Fähigkeiten nicht zur Entwicklung gelangen und existenziell unentbehrliche Grundmuster sich nicht konfigurieren können“ („Todeslandschaften der Seele“ 1980).

Einheit im Geiste

Was bedeutet das für die Psychotherapie psychotisch Erkrankter? Sigmund Freuds Auffassung, dass schizophren Erkrankte nicht zur Übertragung fähig seien, ist immer wieder infrage gestellt worden. Und die Zeit, in der Freud meinen konnte, psychisches Leben sei ähnlich wie die physikalische Welt streng determiniert, ist für Benedetti vorbei („Ausgewählte Aufsätze zur Schizophrenielehre“ 1975). Psychopathologie und Psychotherapie fasst er als Einheit, es komme darauf an, „im selben Geiste beides zu erfassen, das Abnorme, wie auch das Unsrige in ihm“. Er betont, dass es kein einheitliches therapeutisches Verhalten gibt, „weil wir den Patienten nicht dadurch erreichen können, indem wir ihn allein zum wissenschaftlichen Objekt machen. Auch unsere Subjektivität muss in die Beziehung eingeschlossen werden.“ Demnach werden Krankheitssymptome nicht distanziert beurteilt und lediglich klassifiziert. In der „Verstehenshaltung“ verfälschen kreative Gedanken und Projektionen der eigenen Symbole die objektive Gestalt des Leidens nicht; vielmehr reichern sie diese intersubjektiv an und entfalten „die duale Dimension der Existenz auch in der Psychopathologie“. Mit „affektiver Nähe“ meint Benedetti die Fähigkeit des Therapeuten, sich mit Anteilen der psychotischen Person zu identifizieren. Als „Übergangs-Subjekt“ stellt er seine Subjektivität zur Verfügung und ermöglicht dem Patienten neue Erfahrungen. Gelingt dies ohne Gefährdung für den Therapeuten, kann dieser „aus den negativen Bildern der Psychose progressive Imagines der Bewältigung schöpfen und dem Patienten vermitteln“. „Progressive Psychopathologie“ steht für eine Haltung, die das Veränderungspotenzial des Patienten auch in den Symptomen zu finden versucht. Der frühe Freud hatte als besten Analytiker den angesehen, der ohne Gegenübertragung arbeiten könne. „Positive Distanz“ meint Benedetti zufolge, dass Therapeuten lernen, in bestimmten Situationen „gegenübertragungsfrei“ zu arbeiten. Zudem können sie mit ihr den Grad der affektiven Nähe entsprechend den Bedürfnissen des Patienten regulieren. Wenn Abhängigkeitstendenzen des Patienten eine reale Beziehung erst stiften, dann ist Gegenübertragung laut Benedetti „Tragung“. Als eine Art der Teilnahme bedeutet sie „nicht nur Verstehen, sondern ein ‚gemeinsames Tragen‘, bedeutet geteiltes Leiden.“ „Dialogische Positivierung“ beteiligt sich an den Schöpfungen der psychisch Kranken, sucht ihre Symbole zu verstehen und in einen Dialog umzuwandeln. Laut Benedetti zerstört der schizophrene Prozess „vermutlich nicht die ganze Psyche. Er schont gerade die Palaeopsyche, aus der unsere Imaginationen stammen. (…) Die Imagines des psychotischen Menschen wirken krank und absurd, wenn sie in krankhaften logischen Zusammenhängen eingebettet sind, die sie verzerren. Als Urbilder der Seele können sie auch in der Psychose ergreifend sein.“

1953 wird Benedetti habilitiert. 1955 gründet er mit Christian Müller das Internationale Symposium für die Psychotherapie der Schizophrenie (ISPS) und 1963 ein Ausbildungsinstitut in Milano. Von 1956 bis zu seiner Emeritierung lehrt er als außerordentlicher Professor an der Universität Basel. 2013 ist Gaetano Benedetti dort gestorben. Christof Goddemeier

1.
Benedetti G: Psyche und Biologie. Stuttgart: Hippokrates Verlag 1973.
2.
Benedetti G: Der psychisch Leidende und seine Welt. München: Kindler Verlag 1974.
3.
Benedetti G: Symbol, Traum, Psychose. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006.
4.
Küchenhoff, J: In memoriam Gaetano Benedetti. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 2013; 164 (8), 260–61.
5.
Schwarz F, Maier C (Hg.): Psychotherapie der Psychosen. Stuttgart: Georg Thieme Verlag 2001.
1. Benedetti G: Psyche und Biologie. Stuttgart: Hippokrates Verlag 1973.
2. Benedetti G: Der psychisch Leidende und seine Welt. München: Kindler Verlag 1974.
3. Benedetti G: Symbol, Traum, Psychose. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006.
4. Küchenhoff, J: In memoriam Gaetano Benedetti. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 2013; 164 (8), 260–61.
5. Schwarz F, Maier C (Hg.): Psychotherapie der Psychosen. Stuttgart: Georg Thieme Verlag 2001.

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