BRIEFE
Stalking: Ein Beziehungsgeschehen


Die vorgestellte epidemiologische Studie zu Häufigkeit und Auswirkungen von Stalking mag wohlüberlegt ausgearbeitet und aus gutem Grund durchgeführt worden sein. Auf mich als Leser wirkt jedoch die Einseitigkeit der Untersuchung auch erschreckend: die ausschließliche Betrachtung der Opferseite, die unkritische Unterscheidung in Gut und Böse, die strikte Trennung in Täter und Opfer. Mit der Materie durchaus vertraut, stellen sich mir nämlich eigentlich ganz andere, weit drängendere Fragen: die nach dem „Warum?“; nach der jeweils eigentlichen Ursache; nach dem Hintergrund des Handelns des behaupteten Täters; nach dem Auslöser für Stalking.
Stalking ist ein Beziehungsgeschehen, zu einer Beziehung gehören immer mindestens zwei agierende Personen und eine Beziehung ist von Gefühlen gesteuert. Haben wir in einem Beziehungskontext also immer zwingend einen Täter und ein Opfer? Haben wir nicht eher zwei unter ihren Gefühlen und einer Situation leidende Menschen und demnach zwei Personen, die gleichermaßen Hilfe benötigen? Wer ist der wahre Ersttäter in einem schiefgelaufenen Beziehungsgeschehen? Was ging der Tat voraus? Welches sind die Beweggründe des behaupteten Täters? Wogegen setzt sich jemand so vehement zur Wehr?
Nur gegen eine nicht verarbeitete Zurückweisung? Gegen Missachtung? Oder gegen eine vernünftigerweise zu beendende Beziehung, die weder ausreichend gut kommuniziert wurde noch ausreichend Zeit zur Lösung aus der Beziehung gelassen hat, weshalb zu viele offene Fragen blieben?
War der behauptete Täter von vornherein ein Scheusal, sodass das Opfer sich zu Recht befreien musste? Oder hat das behauptete Opfer den späteren Täter emotional drangsaliert? An der Nase herumgeführt? Mit seinen Gefühlen gespielt? Ihn gedemütigt, hintergangen und seine Beziehungstreue auf die Probe gestellt? Zeigen wir nicht vielleicht mit dem Finger auf den Falschen, weil es so einfach ist? Bestrafen wir die Wirkung, statt uns die Ursache vorzunehmen?
Stalking ist ein „lebendes“, ein dynamisches Geschehen mit vielen Gesichtern, ein von starken Gefühlen getriebenes Handeln und kein „totes“ Delikt, wie Diebstahl um des Geldes Willen. Wer stalkt, reagiert auf etwas, was er nicht bewältigen kann. Der Täter handelt, weil er nicht minder leidet, sich daraus befreien muss und sich im Chaos der Gefühle anders nicht zu helfen weiß. Brauchen wir da wirklich (noch mehr) Härte durch Justiz und Polizei? Um Gefühle zu verbieten und sie zu bestrafen? (...)
Und ja: Auch Psychotherapie mit schlecht gehandhabter, nicht ausreichend aufgeklärter therapeutischer Beziehung kann „Stalking“ produzieren. Eine nur allzu logische Konsequenz. Durch Therapie und Beziehungsgestaltung verwirrte Menschen mit nicht stabilem Selbstbild und mangelndem Selbstwert können hier rasch zu Verlierern werden. Hilfe scheint nicht greifbar, da sie durch die wohlgeformte Beziehung an diese gebunden wurden und darin gefangen bleiben. Die Geister, die ich rief …
Sabine Schemmann, 44807 Bochum