ArchivDeutsches Ärzteblatt33-34/2020Psychosoziale Versorgung von Gesundheitsfachkräften: Niedrigschwelliges Angebot hilft

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Psychosoziale Versorgung von Gesundheitsfachkräften: Niedrigschwelliges Angebot hilft

Spielberg, Petra

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Ärzte und Pflegekräfte sind in der Coronakrise außergewöhnlichen psychischen Belastungen ausgesetzt. Nach Empfehlungen von Fachgesellschaften sollten sie Zugang zu einer psychosozialen Notfallversorgung haben. Das Evangelische Klinikum Bethel geht hier mit gutem Beispiel voran.

Mitarbeitenden sollte der Zugang zu psychischer und psychosozialer Unterstützung ermöglicht werden. Foto: South agency/iStockphoto
Mitarbeitenden sollte der Zugang zu psychischer und psychosozialer Unterstützung ermöglicht werden. Foto: South agency/iStockphoto

Die COVID-19-Pandemie stellt trotz ihrer hierzulande bislang guten Bewältigung für ärztliches und pflegerisches Personal eine besondere psychische Herausforderung dar. Nicht zu unterschätzen ist dabei das Risiko einer Traumatisierung aufgrund der multiplen Stressoren, denen die Beschäftigten im Gesundheitswesen in dieser besonderen Situation ausgesetzt waren und sind. Hierunter fallen zum Beispiel das Herunterfahren des Normalbetriebes von Versorgungsstrukturen auf politische Anordnung, die Vorbereitung auf eine denkbare Ausnahmesitua-tion einschließlich Triagierung, die Angst, selbst zu erkranken oder Familienangehörige und Freunde durch Kontakt mit COVID-19-Patienten zu infizieren, sowie die Einarbeitung in fachfremde Arbeitsabläufe und die Integration neuer Mitarbeitender in bestehende Teams. Die außergewöhnlichen psychischen Belastungen waren vielerorts sogar bereits vor dem offiziellen Lockdown spürbar, so auch im Evangelischen Klinikum Bethel (EvKB) von den Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld.

Schaffen eines Notfallkonzepts

„Schon im Februar, als erste Medienberichte aufzeigten, welch verheerende Ausmaße die Pandemie nehmen kann, stellten sich viele Ärzte und Pflegekräfte in unseren Einrichtungen die Frage, was auf sie zukommen könnte, verbunden mit einer großen Unsicherheit“, berichtet Dr. med. Klaus Kobert, Anästhesist und Leitender Klinischer Ethiker am EvKB.

Schnell entstand daraus in Abstimmung mit der Geschäftsführung der Plan, ein psychosoziales Notfallkonzept nicht nur für Patienten und Angehörige, sondern auch für die Mitarbeiter der zum EvKB gehörenden Kliniken auf Basis der für die COVID-19-Pandemie ausgearbeiteten Handlungsempfehlungen verschiedener Fachgesellschaften, wie der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) oder der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, zu entwickeln. Ziel des kostenfreien Hilfsangebots sollte sein, mit niedrigschwelligen Maßnahmen etwaige Fragen zu klären, möglichen Überforderungen in der medizinisch-pflegerischen Versorgung vorzubeugen und psychische Belastungen von Ärzten und Pflegefachkräften zu minimieren.

Die Tatsache, dass im EvKB frühzeitig die Weichen für eine psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) gestellt wurden, ist aus Sicht von Pastorin Sigrun Potthoff, Seelsorgerin am Klinikum, ein entscheidendes Plus der Initiative. „Dadurch hatten wir ausreichend Zeit, uns selbst und die Mitarbeiter auf mögliche Szenarien unter Berücksichtigung des dynamischen Verlaufs der Pandemie vorzubereiten, ohne Panik zu verbreiten“, betont Potthoff.

Fachübergreifende Abstimmung

Bereits Ende Februar gründeten die Initiatoren eine fachübergreifende Arbeitsgruppe Psychosoziale Notfallversorgung (AGPSNV), die sich vor allem aus Vertreterinnen und Vertretern der Bereiche Klinische Ethik, Seelsorge und Psychosomatik zusammensetzt. Regelmäßige Treffen der AG mit ärztlichem Personal und Pflegefachkräften dienten dazu, wichtige Fragen zu klären und daraus Handlungsanweisungen für die Notfallversorgung und die allgemeine Information der Beschäftigten abzuleiten. Dabei werden die Anweisungen an die jeweiligen Erfordernisse zwischen „Normalbetrieb“ bis hin zur absoluten Ausnahmesituation angepasst.

„Von Beginn an war spürbar, dass viele Mitarbeiter unter einem Gefühl der Ohnmacht und des Kontrollverlustes aufgrund der unabsehbaren existenziellen Folgen der Pandemie für die Bevölkerung, aber auch für sie persönlich sowie für ihre Angehörigen litten“, sagt Dr. med. Andrea Möllering, Chefärztin der Klinik für Psychosomatische und Psychotherapeutische Medizin am EvKB. Auch hätten einige es als verletzend empfunden, dass sie aufgrund ihrer Tätigkeit im Gesundheitswesen aus Angst vor einer möglichen Ansteckung eine soziale Distanzierung von Freunden und Bekannten erlebt haben.

„Wenn entsprechende psychische Belastungen dann noch auf bereits vorhandene traumatische Erfahrungen stoßen, kann dies unbewusst zu Schuldgefühlen oder irrationalen Ängsten führen. Dies den Betreffenden bewusst zu machen, ist ein weiteres wesentliches Ziel der Initiative“, erläutert Möllering. Diesem Zweck dient auch eine zentrale Hotline, über die sich die Beschäftigten des EvKB seit Ostern an sieben Tagen die Woche 24 Stunden lang mit Fragen und Sorgen rund um das Thema COVID-19 an das Team der Klinik für Psychosomatik sowie die Nachtbereitschaft der Seelsorge wenden können. Knapp 30 Anrufe über alle Berufsgruppen und Hierarchien hinweg verzeichnet die Rufnummer seit ihrem Bestehen.

Eine theoretische Aufklärung über traumatisierende Erfahrungen und ihre Folgen sowie Schulungen zur Triagierung und zum gegenseitigen unterstützenden Umgang, abhängig von den jeweiligen Stärken, bildeten auch den Inhalt mehrerer Fortbildungen, an denen Vertreter der unterschiedlichen Professionen während der regulären Arbeitszeiten teilnehmen konnten.

Offene Kommunikation

„Die Schulungen wurden durchweg als sehr hilfreich bewertet“, so Kobert. Ohnedies hält er eine offene und klare Kommunikation sowie einen zuverlässigen Informationsfluss für den Schlüssel zum Erfolg einer PSNV. Im EvKB sei dies auch durch die regelmäßige Präsenz von Mitgliedern der AG auf den Stationen gewährleistet worden.

„All diese Maßnahmen haben nicht nur zu einer verbesserten Information und Entspannung beigetragen, sondern bei den Mitarbeitern vor allem auch dazu geführt, dass sie sich in ihrer Arbeit wertgeschätzt fühlen“, sagt Potthoff. Der Arbeitgeber sei ferner als fürsorglich wahrgenommen worden, auch, weil das betriebliche Gesundheitsmanagement des EvKB ergänzend zu den Maßnahmen der AGPSNV ein Angebot zur individuellen Unterstützung von Mitarbeitenden geschaffen hat, die sich in häuslicher Quarantäne befinden.

Trotz der derzeit relativ entspannten Lage soll die PSNV am EvKB grundsätzlich bestehen bleiben, auch mit Blick auf etwaige weitere Großschadensereignisse, versichert Kobert. Kleineren Häusern, die über keine ausreichenden Strukturen zur Schaffung einer PSNV verfügen, rät er, sich mit anderen Einrichtungen zu vernetzen. Petra Spielberg

Empfehlungen für Gesundheitsfachkräfte

  • in der derzeitigen Situation auf die psychische Gesundheit genauso achten wie auf das physische Wohlbefinden
  • hilfreiche Bewältigungsstrategien zur Selbstfürsorge anwenden, beispielsweise das Einhalten ausreichend langer Pausen während der Arbeitszeit
  • auf eine ausreichende und gesunde Ernährung achten und körperlich aktiv bleiben
  • ungesunde Bewältigungsstrategien wie den übermäßigen Konsum von Tabak, Alkohol oder anderen Drogen vermeiden
  • engen Kontakt zu Familienangehörigen, Freundinnen und Freunden oder Bekannten halten – auch unter Einbeziehung digitaler Medien
  • von Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetzten oder anderen Vertrauenspersonen wenn nötig soziale Unterstützung einfordern

Empfehlungen für Führungskräfte im Gesundheitswesen

  • Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor chronischem Stress und allzu starken psychischen Belastungen schützen
  • eine ressourcenschonende, langfristige Personalpolitik betreiben anstatt wiederholter, kurzfristiger Kriseninterventionen
  • klar und offen mit den Angestellten kommunizieren und sicherstellen, dass den Mitarbeitenden immer die aktuellsten Informationen zur Verfügung stehen
  • Mitarbeitenden Zugang zu psychischer und psychosozialer Unterstützung ermöglichen und sie darüber informieren, wo sie entsprechende Hilfen erhalten können
  • der Belegschaft Wertschätzung für die Leistungen ver-mitteln, die sie in dieser Zeit vollbringen

Quelle: WHO: Mental health and psycho-social considerations during the COVID-19 outbreak.

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