ArchivDeutsches Ärzteblatt35-36/2020Coronapandemie: Die Krise als Chance
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Krisen schaffen Lerngelegenheiten. Lernen ist aber kein Automatismus. Um die Coronakrise als Chance zu nutzen, bieten die Erkenntnisse der Krisenforschung einige praktische Anhaltspunkte.

Foto: doucefleur/stock.adobe.com
Foto: doucefleur/stock.adobe.com

Die Coronapandemie ist auch eine Chance – so lautet ein derzeit viel beschworenes Mantra. Dahinter steckt die Hoffnung, dass die Krise neue Perspektiven auf liebgewonnene Routinen und selten hinterfragte Glaubenssätze eröffnet. Auf einmal scheint möglich, was vorher kaum denkbar schien: In Windeseile wurden engagiert Kapazitäten für die intensivmedizinische Behandlung bereitgestellt, Online-Krankschreibungen ermöglicht und neue Formen interdisziplinärer Zusammenarbeit etabliert.

Die Krise – ein Katalysator für Innovationen? Dieses Urteil ist zwar im Kern richtig. Häufig verpuffen die neu etablierten Vorgehensweisen und Erkenntnisse aber, sobald die Krise abflaut. Der Drang, rasch wieder in gewohnte Fahrwasser zu kommen, verhindert nachhaltiges Lernen aus der Krise. Es handelt sich also um ein Paradox, ähnlich dem Präventionsparadox: Die Krise eröffnet Lernchancen, zugleich typischerweise solche, die langfristig ungenutzt bleiben. Warum aber ist Lernen aus der Krise so schwierig?

Überlastung ist sicherlich ein Grund. Der Druck, Abläufe, Strukturen und Regeln an die sich schnell verändernden Umstände anzupassen, bindet zeitliche, geistige und emotionale Kapazitäten. So entsteht das Gefühl, nie „den Kopf frei“ zu haben – was aber Voraussetzung für Lernprozesse ist.

Aktionismus versus alte Muster

Ein weiterer Faktor: Aktionismus. Die Krise führt zu Kontrollverlust und dem Gefühl von Unsicherheit. Unter diesen Vorzeichen neigen Menschen zu emsiger Betriebsamkeit, um Entscheidungen zu treffen. So können sie immerhin „etwas tun“ und erleben sich als handlungsfähig. Allerdings bleiben die Erfolgskontrolle und das systematische Hinterfragen von Lösungen häufig auf der Strecke. So wird die Möglichkeit, aus Fehlern und Misserfolgen zu lernen, verschenkt.

Gibt es in der „ersten Phase“ der Krise eine hohe Bereitschaft, sich schnell und pragmatisch anzupassen, ist die Sehnsucht nach Normalität umso größer, je länger die Krise andauert. Das, was anfangs gut ging, wird jetzt hinterfragt, alte Grabenkämpfe, Territorialansprüche und Entscheidungsmuster kommen wieder in den Vordergrund und es kommt zu sogenannten Beharrungstendenzen.

Was aber ist zu tun, damit eine Krise, frei nach dem geläufigen Bonmot von Winston Churchill „Never let a good crisis go to waste.“, nicht ungenutzt verstreicht? Wie können Organisationen des Gesundheitssektors in der Krise Lernmöglichkeiten schaffen, erkennen und nutzen? Pauschalantworten werden dieser Frage nicht gerecht – zu unterschiedlich sind die Rahmenbedingungen in Krankenhäusern, Forschungsinstituten oder Arztpraxen. Wohl aber lassen sich in der Forschung zu organisationalem Lernen in Krisen Denkanstöße finden.

So lautet eine Empfehlung, gemeinsam zu lernen und die Schwarmintelligenz zu nutzen. Gerade in Zeiten der Überlastung ist es wichtig, Denkarbeit auf mehrere Köpfe zu verteilen und unterschiedliche Perspektiven miteinzubeziehen. Durch regelmäßige, engmaschige Lagebesprechungen kann Wissen geteilt werden und Synergiepotenziale entfalten. Ein gemeinsames „mentales Modell“ der Situation – ein geteiltes Verständnis von Ausgangssituation, Rahmenbedingungen und Zielsetzung von Maßnahmen – hilft nicht nur, bessere Entscheidungen in der Krise zu treffen. Es dient auch als Reflexionsanker, an dem das Team regelmäßig den (Miss-)Erfolg von Maßnahmen nachhalten und gegebenenfalls nachsteuern kann. Im Verlauf der Krise wird so ein kontinuierliches gemeinsames Lernen möglich.

Rolle des Advocatus Diaboli

Eine zweite Empfehlung lautet, Zweifel zu institutionalisieren und Alternativen auszuloten. Der Kontrollverlust in Krisen geht einher mit einem gesteigerten Bedürfnis nach Orientierung und Zusammenhalt. Nicht umsonst ist ein in Krisen gängiger Appell, „an einem Strang zu ziehen“. Auch wenn Krisen tatsächlich mehr Zusammenarbeit fordern, birgt dieser Anspruch die Gefahr, abweichende Perspektiven an den Rand zu drängen. Häufig sind aber gerade diese aufschlussreich; sie weisen auf mögliche Risiken hin, decken schwelende Konflikte oder bestehende Probleme in Arbeitsabläufen auf und können alternative Lösungswege aufzeigen. Dafür lohnt es sich, Zweifel als Spielart des gemeinsamen Lernens in der Krise zu institutionalisieren. So können Führungskräfte in Teambesprechungen beispielsweise gezielt Zweifel anregen, indem sie angekündigt die Rolle des Advocatus Diaboli übernehmen. In dieser Rolle zeigen sie bewusst Nachteile, Risiken oder Gegenargumente auf, um so Reflexion anzustoßen und letztlich gemeinsames Lernen voranzutreiben. Alternativ lässt sich die Rolle rotierend im Team vergeben oder gemeinschaftlich ausüben.

Darüber hinaus verlangen Krisen, bestehende Arbeitsabläufe zu erweitern, zu verändern oder abzulegen, ohne zu wissen, ob dies tatsächlich die neu entstandenen Herausforderungen adressiert. Unweigerlich kommt es dabei zu Fehlern.

Fehlerkultur etablieren

Um aus diesen zu lernen, ist es essenziell, dass es möglich ist, Fehler ohne Angst vor Konsequenzen zu benennen und einzuräumen. Um eine gute Fehlerkultur anzustoßen, können beispielsweise in Teammeetings bewusst sogenannte „Lowlights“ abgefragt werden: Was lief schlecht oder was haben wir verbockt? Was haben wir daraus gelernt? Führungskräfte sollten hier mit gutem Beispiel vorangehen und eigene Fehler und Erkenntnisse mit ihren Mitarbeitenden teilen.

Eine Krise verlangt uns viel ab – zeitlich, geistig, emotional. Nicht jede Verbesserungsidee sollte daher direkt in die Tat umgesetzt werden, insbesondere, wenn sie tiefgreifende Veränderungen nach sich zieht. Andernfalls landet man schnell in der Überlastungsfalle. Aus der Krisenforschung ist bekannt, dass Änderungsvorschläge, die im Nachgang von Krisen ausgearbeitet werden, häufig wirkungslos bleiben. Meist wirken sie eher als „Post-Rationalisierungen“, die Entscheidungen während der Krise rechtfertigen sollen. Um nachhaltiges Lernen zu ermöglichen, lohnt es sich also, schon während der Krise Veränderungsideen festzuhalten. So können Führungskräfte beispielsweise ein individuelles Krisentagebuch führen, in dem sie Beobachtungen über systemische Schwachpunkte dokumentieren. Alternativ lässt sich ein solches Logbuch der Krise auch auf Teamebene anlegen, zum Beispiel als visueller Themenspeicher, der gut sichtbar auf einem Flipchart im Besprechungsraum angebracht ist und kontinuierlich befüllt wird. Solch ein „lebendes Dokument“ hat den Vorteil, dass es Erkenntnisse dann festhält, wenn sie entstehen.

Dr. rer. pol. Simone M. Ostermann

Dr. rer. pol. Mona Florian

Nordlicht Management Consultants

Geteilte Erfahrungen

In den vergangenen Wochen haben Organisationen der Gesundheitsversorgung trotz aller Schwierigkeiten Veränderungen außergewöhnlich schnell umgesetzt und binnen kürzester Zeit viel gelernt.

Hohe Veränderungsgeschwindigkeit ist möglich: Gerade in Kliniken wurde die Erfahrung gemacht, dass Projekte und Themen, die zum Teil Jahre brachlagen, rasant umgesetzt werden können. Systemische Trägheit und Beharrungstendenzen konnten überwunden werden.

Pragmatismus funktioniert: Kraftraubende Grabenkämpfe, insbesondere in interdisziplinärer und interprofessioneller Zusammenarbeit, konnten in der Krise zugunsten pragmatischer Lösungen überwunden werden. Die Akzeptanz von Unterschieden und die Toleranz für (nichtmedizinische) Fehler erlaubten eine reibungsarme Vernetzung.

Dinge auszuprobieren, ist keine Schande: Gerade von Führungspersonen wurde in der Krise akzeptiert, dass sie noch keine fertigen Lösungen oder Konzepte hatten. Vielmehr wurde mit den Mitarbeitenden ein gemeinsamer Modus des Ausprobierens gefunden, in welchem pragmatisch getestet und ohne Eitelkeiten nachgesteuert wird.

Digital geht – aber nicht alles: Gerade zu Beginn der Krise zeigte sich, wie effizient viele Dinge auch in virtuellen Settings besprochen und verhandelt werden können. Mittlerweile wird aber auch die Sehnsucht nach mehr persönlicher Begegnung wieder größer.

„Erfolge feiern“ wurde vergessen: Bei allen Widrigkeiten geschahen in der Krise auch viele positive Dinge. Dies zeigen die obigen Beispiele. In den ersten Krisenwochen wurde aber häufig vergessen, diese zu teilen und lobend herauszustellen. Dabei ist es wichtig, Mitarbeitende über außergewöhnlich positive Erfahrungen auf dem Laufenden zu halten. Dies stützt die Motivation und Einsatzbereitschaft.

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