SUPPLEMENT: Perspektiven der Infektiologie
Georg Ertl: „Kennen jetzt die Timelines der Epidemie“


Prof. Dr. med. Georg Ertl, Generalsekretär Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM)
Was können wir von früheren Pandemien des 21. Jahrhunderts zum Umgang mit SARS-CoV-2 lernen?
Ertl: Schutzmaßnahmen und Prävention können wirksam sein, wenn sie frühzeitig und entschieden eingesetzt werden.
Welche Maßnahmen haben sich bewährt?
Ertl: Bewährt haben sich die soziale Distanzierung, strikte Separation von Patienten schon bei dem Verdacht auf eine Infektion sowie Quarantänemaßnahmen und möglichst großzügige Testung.
Haben sich die Notfallpandemiepläne bewährt? Gibt es Lücken?
Ertl: Die Pandemiepläne erwiesen sich als lückenhaft: Es fehlte an Schutzmaterial, und die Versorgungslage bei Medikamenten und medizinischem Bedarf (Desinfektionsmittel, Verbrauchsmaterial für Beatmungsgeräte) war nicht sicher. Die Testkapazitäten für PCR waren unzureichend und die Aussagekraft von Antikörpern ist bis heute nicht sicher.
Kann eine Pandemie zum medizinischen Fortschritt beitragen?
Ertl: Ja, wir wissen heute viel mehr über die Epidemie und wie wir uns darauf vorbereiten müssen, wie der Zeitverlauf ist, aber auch wie kritisch unsere Versorgungslage im Gesundheitssystem ist.
Welchen Stellenwert haben Impfstoffe bei der Bekämpfung von Pandemien?
Ertl: Impfstoffe können Pandemien bedingt verhindern oder eine Ausbreitung verzögern. Eine ausreichende Durchdringung der Bevölkerung wird nicht zu erreichen sein. Gefährdete (alte, multimorbide) Menschen könnten profitieren – und natürlich nur alle Geimpften.
Gibt es Lehren der COVID-19-Pandemie für die Zukunft?
Ertl: Ja, mehrere. Dazu gehören:
- Die regionale, abgestufte Einstellung des Gesundheitssystems auf die „nächste Welle“.
- Wir kennen jetzt die Timelines der Epidemie. Es lässt sich durch breite Testungen (z. B. von Reiserückkehrern) die zunehmende Ausbreitung der Infektionen monitorisieren. Auch wenn dies individuell bei verzögerter Mitteilung der Testergebnisse keinen Effekt hat, wissen wir, wie viele Infizierte zurückkommen und können uns darauf einstellen.
- Die COVID-Krankheitswelle folgt der Infektionswelle mit einiger Verzögerung. Insbesondere die schweren Verläufe haben eine Vorlaufzeit, die es uns ermöglicht, möglichst lange im Normalmodus zu bleiben und auch alle elektiven Nicht-COVID-Patienten zeitnah zu versorgen, bis wir wieder in einen stärker einschränkenden COVID-Modus umschalten müssen.
- Wir dürfen die krankheitsbezogene Forschung nicht vergessen. COVID ist nicht nur eine Epidemie, sondern eine zum Teil schwer, zum Teil symptomlos verlaufende Infektionskrankheit. Wer ist Risikopatient? Auch alte Menschen können symptomarme/-lose Verläufe haben. Hier fehlen noch weitgehend die Forschungsprogramme – sowohl in der klinischen Grundlagenforschung als auch in Bezug auf klinische Studien.
- Wir brauchen einen Facharzt für Innere Medizin und Infektionskrankheiten. ▄
DOI: 10.3238/PersInfek.2020.09.11.03