ArchivDeutsches Ärzteblatt PP9/2020Alfred Adler (1870–1937): Pionier der Tiefenpsychologie

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Alfred Adler (1870–1937): Pionier der Tiefenpsychologie

Goddemeier, Christof

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Vor 150 Jahren wurde der österreichische Arzt und Psychotherapeut geboren. Er gilt als Begründer der Individualpsychologie und Menschenkenner.

Alfred Adler im Jahre 1936 bei einer Rückkehr per Schiff ins englische Plymouth. Foto: picture-alliance/IMAGNO/Austrian Archives
Alfred Adler im Jahre 1936 bei einer Rückkehr per Schiff ins englische Plymouth. Foto: picture-alliance/IMAGNO/Austrian Archives

Wo die Anekdote um sich greift, ist die Wahrheit schwerlich noch zu finden“, notierte Wolfgang Hildesheimer in seiner Mozart-Biografie. Das gilt auch für Alfred Adler. So würdigte die Londoner Times Sigmund Freud in seinem Todesjahr 1939 als Erfinder des „Minderwertigkeitskomplexes“. Und mehr als zwanzig Jahre später schrieb die New York Times Carl Gustav Jung zu, er habe diesen Begriff geprägt. Beides stimmt nicht. Zwar hatte Pierre Janet das Minderwertigkeitsgefühl schon früher behandelt, etwa als „sentiment d’infériorité“, doch Adler griff den Begriff auf und meinte damit einerseits einen gesunden Antrieb des Kindes zu seelischem Wachstum, andererseits Insuffizienzgefühle durch Erlebnisse, die die kindliche Unsicherheit verstärken. Mit Freud und Jung gilt Adler als Pionier der Tiefenpsychologie. Doch wo der „Kulturpessimist“ Freud Trieb und Kultur als Gegensätze formulierte, stehen beim „Kulturoptimisten“ Adler Macht und Gemeinschaft einander gegenüber. Mit „Über den nervösen Charakter“ (1912), „Praxis und Theorie der Individualpsychologie“ (1920) und „Menschenkenntnis“ (1927) schuf er Standardwerke der Seelenkunde, die ein Millionenpublikum erreichten. Dabei ging es ihm um eine „Psychologie im Dienst des Lebens“ (S. Daniel House), die den Menschen helfen wollte, besser zu leben, weil sie sich und andere besser verstehen.

Frühe Todeserfahrung

1870 wird Adler als Zweiter von sieben Geschwistern in Wien in eine jüdische Familie geboren. Über seinen Vater Leopold notiert er 1897: „Mein Vater ist ein einfacher, schlichter Mensch, der von der Welt ebenso wenig weiß wie, so sagen wenigstens meine Verwandten, von seinem Geschäft.“ Tatsächlich hat er als Kaufmann keine glückliche Hand, doch er ermutigt seinen Sohn, den Meinungen anderer gegenüber skeptisch zu sein und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Das Verhältnis zur Mutter scheint nicht besonders gut gewesen zu sein, nach eigenem Bekunden spielt Adler viel draußen mit anderen Kindern, nicht zuletzt, weil er an Rachitis leidet. Die Erfahrung von Gemeinschaft, Freundschaft und Solidarität bezeichnet er später als Ursprung seiner Psychologie. Der Wunsch, Medizin zu studieren und Arzt zu werden, resultiert laut Adler aus einer frühen Todeserfahrung – im Alter von vier Jahren findet er seinen kleinen Bruder Rudolf tot neben sich im Bett – und einer lebensgefährlichen Lungenentzündung, die er ein Jahr später durchmacht. Nach seiner Promotion 1895 arbeitet Adler kurz als Augenarzt und wendet sich dann der Allgemeinmedizin zu. Später spezialisiert er sich in Neurologie und Psychiatrie.

Keine einfache Gefährtin

1897 begegnet Adler der zwei Jahre jüngeren Raissa Epstein, einer in Moskau geborenen Tochter wohlhabender Juden, die ihr Biologiestudium in Wien fortsetzt. Im gleichen Jahr heiraten die beiden, aus der Ehe gehen vier Kinder hervor. Phyllis Bottome schreibt über Raissa: „Adler hatte sich keine einfache Gefährtin gesucht, sondern eine außergewöhnlich starke und unabhängige Frau, aus einem anderen Land mit anderen Traditionen und völlig anderer Lebensanschauung.“

Im November 1902 bittet Freud Adler, sich einem „kleinen Kreis von Kollegen und Anhängern“ anzuschließen, „um die uns interessierenden Themata Psychologie und Neuropathologe zu besprechen“. Der vierzehn Jahre ältere Freud ist zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt und außerordentlicher Professor. Warum er Adler fragt, ist nicht sicher geklärt. Drei Jahre zuvor hat Freud Adler im Rahmen einer Konsultation einige Zeilen geschrieben. Aus dem kleinen Kreis entwickelt sich die „Mittwochgesellschaft“ – Adler ist Gründungsmitglied, und neun Jahre später wird er der erste „Abtrünnige“. Doch zunächst ist Freud voll des Lobes und bezeichnet ihn als „stärkste[n] Kopf der kleinen Vereinigung“.

Während Freud sich für Philosophie allenfalls am Rande interessiert, rezipiert Adler früh etliche Philosophen, die er in seine Texte integriert. Und im Unterschied zu Freud, der von einer ursprünglichen Asozialität des Menschen ausgeht, kombiniert Adler Rudolf Virchows sozialmedizinische Schriften und Karl Marx’ Idee vom Individuum als Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse. Dabei nimmt er eine grundsätzliche „Wirhaftigkeit“ der Menschen an: Ohne deren Sozialität sind Gemeinschaft und Gesellschaft undenkbar. Bildung hat hier einen hohen Stellenwert – Adler zufolge ist sie in der Lage, das Minderwertigkeitsgefühl zu vermindern und durch Sicherheit zu ersetzen.

Dabei sind Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl mehrdeutige Begriffe, die auch Adler nicht eindeutig definiert. Gleichwohl ist die Lehre vom Gemeinschaftsgefühl für die Individualpsychologie grundlegend. Die Leitlinien des „Vereins für freie Psychoanalyse“ enthalten die Feststellung, dass neurotische Symptome sich „automatisch gegen die Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls“ richten. Adler verwendet den Begriff in seinem Aufsatz „Lebenslüge und Verantwortlichkeit im Leben und in der Neurose“ (1914). Dem „common sense“ oder „sensus communis“ steht demnach der „sensus privatus“ der Neurose gegenüber. Deren Egozentrik und ihr Hantieren mit Fiktionen sind das Gegenteil des „Wirklichkeitssinns“, der das Gemeinschaftsgefühl bestimmt. Mittels seiner Ausprägung lassen sich Neurose und Normalität, Krankheit und Gesundheit voneinander unterscheiden. Männlichen „common sense“ erkennt man laut Adler daran, dass Frauen in allen Belangen als gleichwertig und gleichberechtigt angesehen werden.

Adler erkennt bald die Gefahr der Vereinnahmung des Gemeinschaftsgefühls, sei es durch sozialistische Parteipolitik, sei es durch die christlichen Kirchen. Womöglich entzieht er sich deshalb einer Konkretisierung des Begriffs (A. Kluy). Doch die fehlende Präzision ruft die zeitgenössische Kritik auf den Plan. Der Individualpsychologe und Sozialist Otto Rühle nennt Adlers Konzept „Wischel-Waschel“, und Manès Sperber, damals noch Marxist, spricht von „ethischem Dunst“. Adler versteht das Gemeinschaftsgefühl jedoch als „eine transzendentale Idee im Sinne von Kant“. Damit nimmt er das Ideal einer menschlichen Gemeinschaft in den Blick, in der keiner für den anderen Mittel zum Zweck ist. Die Nähe zu sozialistischen Theorien ist unverkennbar. Während Freud liberal-konservativ eingestellt ist, steht Adler zunächst der Sozialdemokratie nahe. Später vertritt er einen humanistischen Sozialismus ohne parteiliche Bindung, der vor allem auf Pazifismus und Antiautoritarismus gründet.

Aus philosophischer Perspektive nimmt Helmuth Plessner 1924 die „Grenzen der Gemeinschaft“ in den Blick. Eine Forderung nach Gemeinschaft hält er für utopisch. Denn jedes Zusammenleben trage „den Keim des Aneinandervorbeilebens in sich“. Demnach sind ihm zufolge Einklang und Übereinstimmung aller Menschen unmöglich.

Anders als Adler steht seine Frau für einen politischen Sozialismus. Einige Jahre sind die beiden mit dem Ehepaar Trotzki befreundet, ähnlich wie Adler sieht Leo Trotzki das Kaffeehaus als zweites Wohnzimmer. Als überzeugte Trotzkistin tritt Raissa 1919 der Kommunistischen Partei Deutsch-Österreichs (KPDÖ) bei und durchlebt dort jahrelange Flügelkämpfe. Dabei erhält die Partei bei nationalen Wahlen nie mehr als ein Prozent der Stimmen.

Vortragender und Lehrender

1904 ist Adler mit seinen beiden Töchtern Valentine und Alexandra vom Judentum zum evangelischen Christentum übergetreten. Raissa konvertiert nicht. Im April 1927 kehrt Adler von seiner ersten Amerikareise zurück und ändert sein Leben. Er schließt seine Praxis und ist die nächsten zehn Jahre mit großem Erfolg als Vortragender und Lehrender in Sachen Individualpsychologie unterwegs. Zudem tritt er aus der protestantischen Kirche aus. Warum der nichtreligiöse Adler die Konfession gewechselt hat, bleibt unklar. Im Unterschied zu Freud, der in der Religion lediglich eine Neurose sieht, greift Adler Religion nie offen an. Als er 1932 nach einem Vortrag in Dresden gefragt wird, ob die Individualpsychologie die Religion ersetzen wolle, antwortet er: „Die Individualpsychologie will nichts ersetzen; sie will nur auf ihre Art den Menschen helfen.“

Nachdem der junge Carl Rogers sein Theologiestudium in New York abgebrochen hat, wechselt er zur Pädagogik. 1927/28 hört er Alfred Adler. Der vermeidet in seinen Vorträgen jedes Pathos, spricht ohne überflüssige Gesten und wirkt überzeugt von dem, was er sagt. Seine Stimme wird als warm und wohlklingend beschrieben. Rogers ist beeindruckt und wird als Psychologieprofessor Hauptvertreter der Humanistischen Psychologie, die wie die Individualpsychologie die Einzigartigkeit des Individuums in den Mittelpunkt stellt und davon ausgeht, dass der Mensch im Kern gut ist und das Gute will.

2005 beschrieb der Psychotherapieforscher Klaus Grawe fünf schulenübergreifende Wirkfaktoren von Psychotherapie: therapeutische Beziehung, Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, motivationale Klärung und Problembewältigung. Sie stimmen mit individualpsychologischen Annahmen gut überein. Der Psychologe Abraham Maslow formulierte es 1969 so: „Von Jahr zu Jahr erscheinen mir Alfred Adlers Einsichten zutreffender. Die wachsende Faktenlage stützt mehr und mehr sein Menschenbild.“ Christof Goddemeier

1.
Kluy, A: Alfred Adler. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2019.
2.
Pongratz, L: Individualpsychologie, in: Hauptströmungen der Tiefenpsychologie. Stuttgart: Kröner 1983.
3.
Rattner, J: Alfred Adler, in: Klassiker der Tiefenpsychologie. München, Psychologie Verlags Union 1990.
4.
Witte K. H. (Hrsg.): Alfred Adler Studienausgabe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007.
1. Kluy, A: Alfred Adler. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2019.
2. Pongratz, L: Individualpsychologie, in: Hauptströmungen der Tiefenpsychologie. Stuttgart: Kröner 1983.
3. Rattner, J: Alfred Adler, in: Klassiker der Tiefenpsychologie. München, Psychologie Verlags Union 1990.
4. Witte K. H. (Hrsg.): Alfred Adler Studienausgabe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007.

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