THEMEN DER ZEIT
Kindeswohl: Alle Professionen kommen zum Kind


Mit dem sogenannten Childhood-Haus ist gerade an der Berliner Charité eine Kinderschutzambulanz so erweitert worden, dass bei strafrechtlicher Relevanz dem betroffenen Kind das mehrmalige Aussagen erspart wird. Videotechnik macht es möglich.
Es wäre sehr wichtig, frühzeitig zu verhindern, dass es kindeswohlgefährdende Verhältnisse überhaupt gibt, findet Prof. Dr. med. Sibylle Winter. „Prävention wird viel zu wenig gelebt in Deutschland“, sagt die Kinder- und Jugendpsychiaterin, die eine Professur für Traumafolgen und Kinderschutz an der Berliner Charité innehat. „Denn frühkindlich schädigende Einflüsse rufen biologische Veränderungen hervor, die später psychische und somatische Erkrankungen verursachen – das wissen wir inzwischen.“ Zur Prävention würde Winter unter anderem gerne die Früherkennungsuntersuchungen beim Kinderarzt um eine psycho-soziale Komponente erweitert sehen. Auch sollten die Eltern bei den Untersuchungen gefragt werden, ob häusliche Gewalt in ihrer Familie vorkommt. Und nicht nur die Mutter, auch der Vater müsse angesprochen werden. Ebenso wäre es wichtig, dass der Partner die Schwangere zum Gynäkologen begleitet, wo wiederum auch nach Partnergewalt gefragt werden sollte. „Das Thema häusliche Gewalt muss aus der Tabuzone heraus“, fordert die Kinderschützerin. „Es geht darum, Eltern frühzeitig zu unterstützen.“
Aussage wird immer schlechter
Doch von solch umfassenden präventiven Ansätzen ist man in Deutschland noch weit entfernt. Sibylle Winter setzt deshalb ihre Energie im Moment an einer anderen Stelle ein, die dazu beitragen soll, dass Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch auch strafrechtliche Konsequenzen haben: das Childhood-Haus. Denn die allermeisten gewalttätigen Eltern werden freigesprochen, weiß sie. Ein Grund dafür ist ihrer Ansicht nach, dass die Aussage von betroffenen Kindern, die von Mitarbeitern verschiedener Institutionen zu den Gewaltgeschehnissen befragt werden, immer schlechter wird. „Ein Strafrechtsverfahren dauert in Berlin zurzeit etwa zwei bis drei Jahre. Das ist eine unglaublich lange Zeit für ein Kind, das dann noch vor Gericht aussagen muss. Der oder die Beschuldigte hat dann kaum noch etwas zu befürchten“, kritisiert Winter. Hinzu kommt ein hohes Risiko für Retraumatisierung, wenn das Kind immer wieder befragt wird, von der Polizei, Psychologen, Jugendamtsmitarbeitern oder Richtern. Die Abläufe sind wenig koordiniert. In jedem Fall muss das betroffene Kind vor Gericht aussagen. „Manchmal sitzt der Beschuldigte vor Gericht zwei Meter von dem Kind entfernt – das ist schlimm“, sagt die Kinder- und Jugendpsychiaterin.
Mit dem Childhood-Haus, das am 24. September an der Kinderklinik der Charité – Campus Virchow – eröffnet wird, soll sich das ändern. Um es dem Kind zu ersparen, seine Geschichte vielen unterschiedlichen Menschen immer wieder erzählen zu müssen, wird es im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens nach § 255 a der Strafprozessordnung in einem speziellen Raum durch einen Richter befragt. Das Interview wird mit einer Videokamera aufgenommen und kann in einem angrenzenden Raum von Fachkräften, beispielsweise der Polizei, des Jugendamtes, vom Staatsanwalt, Fachanwälten und je nachdem auch dem oder der Beschuldigten, verfolgt werden. Letzteres lässt aber das Sicherheitskonzept der Kinderklinik nicht zu, berichtet Winter. Auch die Spurensicherung und die medizinische Versorgung finden im Childhood-Haus statt. Die
Videoaufzeichnung soll in der Haupt-
verhandlung vor Gericht eingesetzt werden können. „Die Richter haben ein großes Interesse an einer kinderfreundlichen Justiz“, sagt Winter.
Wohl des Kindes im Fokus
Im Childhood-Haus leitet eine
Case-Managerin das Kind durch das ganze Prozedere, alle Professionen kommen zum Kind und nicht umgekehrt. Idealerweise innerhalb von zwei bis drei Monaten, nach Wunsch der Kinderschützerin. Das Wohl des Kindes steht bei diesem Vorgehen mit klaren Richtlinien eindeutig im Vorderpunkt. Das neue Childhood-Haus in Berlin ist im Grunde eine erweiterte medizinische Kinderschutzambulanz „mit Justizupgrade“, so die Professorin.
Das erste Childhood-Haus in Deutschland wurde im Herbst 2018 in Leipzig unter der Trägerschaft der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Leipzig in Betrieb genommen. Es folgte im Herbst 2019 das zweite Haus am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg. Insgesamt plant die World Childhood Foundation zehn Häuser in Deutschland (Kasten).
Die medizinische Kinderschutzambulanz am Virchow-Klinikum der Charité ist spezialisiert auf sexuelle Gewalt. Dem kommt zugute, dass es in dem Gebäude der Kinderklinik, angegliedert an die Kinder- und
Jugendpsychiatrie, eine Traumaambulanz gibt. Dort können akut Betroffene von sexueller Gewalt bis zu 18 Stunden psychosozial betreut werden. „Die Kombination mit der Traumaambulanz ist ideal“, sagt Winter. Insbesondere weil gerade bei sexualisierter Gewalt eine schnelle Spurensicherung entscheidend ist. Das neue Childhood-Haus wird jedoch – über sexualisierte Gewalt hinaus – alle Kinderschutzfälle aufnehmen, die strafrechtliche Relevanz haben. Jeder der eine solche sieht, kann sich zunächst an die Case-Managerin wenden: niedergelassene und in Kliniken arbeitende Ärzte und Psychotherapeuten, Mitarbeiter der Jugendhilfe, Anwälte und Richter, andere Kinderschutzambulanzen. In Berlin gibt es aktuell sechs Kinderschutzambulanzen an Kliniken, die letzte ist gerade im September im Bezirk Lichtenberg eingerichtet worden. Alle werden als Modellprojekt von der Berliner Senatsverwaltung finanziert (siehe „Abklärung unter einem Dach“, DÄ 20/2020). Bundesweit gibt es aktuell nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin 130 interdisziplinäre Kinderschutzgruppen und -ambulanzen.
Alle Standorte listet die Fachgesellschaft auf: https://www.dgkim.de/kinderschutzgruppen.
Läuft alles nach Plan, dann wird auf dem Gelände des weitläufigen Virchow-Klinikums im Berliner Stadtteil Wedding demnächst ein neues Gebäude gebaut, das dem Namen Childhood-Haus dann auch gerecht wird, berichtet Winter. Doch zunächst müssen noch einige Hürden genommen werden. Petra Bühring
World Childhood Foundation
Königin Silvia von Schweden gründete 1999 gemeinsam mit vierzehn Partnern die World Childhood Foundation. Auf der Basis der UN-Kinderrechtskonvention baute die Stiftung ihre weltweite Projektarbeit auf, um Kinder zu schützen, die von sexueller Ausbeutung, Missbrauch oder Gewalt betroffen oder bedroht sind. Im Jahr des 20-jährigen Bestehens fördert die World Childhood Foundation mehr als 100 Projekte in 14 Ländern und ist mit vier selbstständigen Stiftungen in Schweden, Brasilien, den USA und Deutschland vertreten.
Childhood Deutschland zielt nach Angaben der Geschäftsführerin Dr. Astrid Helling-Bakki darauf, pro Bundesland ein Childhood-Haus zu eröffnen. Über die Stiftung und/oder Projektpartner werden Spendengelder eingeworben, um standortspezifische Baumaßnahmen durchzuführen. Die Häuser werden in der Regel für drei Jahre unterstützt.
Darüber hinaus führt Childhood von Beginn an Gespräche über mögliche Konzepte für die Mittel- und Langfristfinanzierung mit den Projektpartnern, lokalen Strukturen und teilweise auch Landesregierungen, um eine Nachhaltigkeit zu gewährleisten.
Im Herbst soll nach Leipzig, Heidelberg und Berlin ein viertes Childhood-Haus in Düsseldorf eröffnet werden, so Helling-Bakki.