

Gewichtige Anhaltspunkte müssen vorliegen, damit Ärzte und Psychotherapeuten einen Verdacht auf Kindeswohlgefährdung ohne Wissen der Eltern dem Jugendamt mitteilen können. Die Folgen für das Kindeswohl während der Coronapandemie werden langsam sichtbar.
Die Schweigepflicht ist für alle, die im Gesundheitswesen arbeiten, ein hohes Gut. Beim Verdacht auf Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellen Missbrauch hat der Gesetzgeber indes das Jugendamt als zentralen Kooperationspartner für Ärzte und Psychotherapeuten vorgesehen. „Gewichtige Anhaltspunkte“ müssen vorliegen, wenn sie Informationen auch gegen den Willen der Betroffenen an das Jugendamt übermitteln wollen. Diese zu definieren, ist schwierig. „Es wird nie eine Liste dieser Punkte geben – es ist immer ein Zusammenspiel verschiedener Verdachtsmomente“, berichtet Oliver Berthold von der Medizinischen Kinderschutzhotline bei der Fachtagung „Gewichtige Anhaltspunkte in Zeiten der Coronapandemie“.
„Fragen Sie zuerst Ihren Bauch, ob Sie bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung weiter abklären sollen oder nicht“, rät Dr. Thomas Meysen, Leiter von SOCLES – International Centre for Socio Legal Studies in Heidelberg. Wenn man länger über einen Fall nachdenken müsse, wenn „etwas hängen bleibt“, sei dies ein Hinweis, dass die Anhaltspunkte gewichtig sein könnten und das Jugendamt hinzugezogen werden sollte, so der Jurist.
Große Unwissenheit
„Im Praxisalltag muss man immer abwägen: manchmal macht man zu früh zu viel, eher aber zu spät zu wenig“, zitierte Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm, Anna Freud, die Tochter des großen Psychoanalytikers. Mit der Frage, ob bei einem Verdacht das zuständige Jugendamt beziehungsweise die dortige „insofern erfahrene Fachkraft“ kontaktiert werden soll, tun sich viele Ärzte und Psychotherapeuten aber schwer, weiß Fegert. Nach einer aktuellen nichtrepräsentativen Umfrage der Uni Ulm unter Ärzten und Psychotherapeuten, die mit Kindern arbeiten, sind sich 64 bis 70 Prozent der Befragten unsicher in der Anwendung des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG). Nur 15 bis 25 Prozent wussten, dass dort eine Befugnis hinterlegt ist, Verdachtsfälle bei gewichtigen Anhaltspunkten dem Jugendamt zu melden. Nach Angaben von Prof. Dr. med. Vera Clemens, Ulm, die auch beratend in der Medizinischen Kinderschutzhotline arbeitet, kamen 2018 nur 6,1 Prozent der Impulse zur gerichtlichen Überprüfung einer Kindeswohlgefährdung (9 580 von insgesamt 157 271 Verfahren) aus dem Gesundheitswesen. „Laut WHO werden 90 Prozent der Fälle von Kindesmisshandlung im Gesundheitswesen nicht erkannt oder es wird nicht reagiert“, berichtete Clemens.
Die Möglichkeit, eine Fachkraft beim Jugendamt zu kontaktieren, wurde 2012 mit dem BKiSchG geschaffen – „rund fünf Jahre später hatten die Fachkräfte bei den Jugendämtern zum großen Teil kaum Kontakt zu den Heilberufen“, erinnert sich Fegert. Deshalb wurde im Juli 2017 die Medizinische Kinderschutzhotline ins Leben gerufen, die das Universitätsklinikum Ulm zusammen mit dem DRK-Klinikum Westend betreibt (www.kinderschutzhotline.de). Die rund um die Uhr erreichbare Hotline gibt telefonische Hilfe bei Verdachtsfällen auf Kindeswohlgefährdung. Am Telefon sitzen speziell ausgebildete Ärzte aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinderheilkunde und Rechtsmedizin. Rund 2 500 Gespräche haben die Fachkräfte seit dem Start der Hotline geführt; rund 90 im Monat. Die Hälfte der Anfragen kommt von niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten.
Gefördertes Leuchtturmprojekt
Die Medizinische Kinderschutzhotline ist aus dem Gesundheitswesen nicht mehr wegzudenken. Eine Evaluation hat nach Angaben von Fegert ergeben, dass die Beratung als sehr hilfreich empfunden wird und überwiegend zu Ergebnissen führt. „Die WHO hat die Hotline als Leuchtturmprojekt hervorgehoben“, berichtet der Kinder- und Jugendpsychiater. Es lag also nahe, dass Bundesfamilienministerin Franziska Giffey bei der Fachtagung verkündete, dass das Projekt über die bisherige Förderzusage September 2021 hinaus drei weitere Jahre insgesamt 1,5 Millionen Euro erhält. „Die Hotline braucht eine gute Perspektive und es gibt einen großen Beratungsbedarf, nicht nur im Gesundheitsministerium, auch bei Familiengerichten und Jugendämtern“, sagte die Ministerin. Darüber hinaus verkündete sie einen weiteren – lange geforderten – Schritt zu einem besseren Kinderschutz: Das Kinder- und Jugendhilferecht solle dahingehend geändert werden, dass der Arzt oder Psychotherapeut, der einen Verdachtsfall gemeldet hat, vom Jugendamt auch eine Rückmeldung
erhält. Bisher war dies eine Kann-Regelung, künftig ist eine Soll-Regelung vorgesehen.
Während des Lockdowns in der Coronapandemie, der Mitte März begann, gingen die bis dahin kontinuierlich steigenden Anrufe bei der Medizinischen Kinderschutzhotline einer Auswertung zufolge massiv zurück: um 21 Prozent im März, um 31 Prozent im April (Mai: 7,5 Prozent, Juni 26,8 Prozent). „Mit durchschnittlich 30 Prozent war der Rückgang deutlich höher als der in Arztpraxen“, erläuterte Fegert. Aufgrund der Schließungen von Kitas, Schulen, Freizeit- und Sporteinrichtungen waren die Kinder nicht mehr sichtbar. „Sie verschwanden vom Radar. Die Folgen werden erst langsam sichtbar“, sagte Fegert. In den Familien könnten die Belastungen durch möglicherweise häusliche Gewalt, durch Homeoffice verbunden mit Homeschooling, aber auch durch Arbeitslosigkeit aufgrund der wirtschaftlichen Rezession Folgen haben. Bei Kindern könne der Lockdown durch den Verlust an Tagesstruktur, belasteten Eltern, das Fehlen von Gleichaltrigen oder die Sorge um die Großeltern zu Einsamkeit, Angststörungen, Stress, Posttraumatischen Belastungsstörungen und Suizidalität führen.
Einige ausgewählte Fälle aus den Beratungen der Hotline, die das Ausmaß des Lockdowns zeigen, stellte der dort beratende Arzt, Oliver Berthold, vor:
- Eine Psychotherapeutin fragt, ob Schläge beim Homeschooling durch die Mutter als gewichtiger Anhaltspunkt für eine Meldung beim Jugendamt gelten.
- Eine Mutter mit psychischer Erkrankung, die vor dem Lockdown wegen Gewalt gegen ihre Kinder betreut wurde, wendet sich an eine Psychotherapeutin: Familienhilfe und Jugendamt waren für sie nicht mehr erreichbar. Sie merkt, dass die Aggressionen gegen ihre Kinder zunehmen.
- Eine Jugendliche in psychotherapeutischer Behandlung bittet bei der Hotline um Inobhutnahme. Die emotionalen Misshandlungen in der Familie haben sich während des Lockdowns so verschärft, dass sie keinen anderen Ausweg sieht.
- Eine Familienhebamme fragt, was zu tun sei, weil die Mutter eines Neugeborenen mit unklarer Symptomatik den Besuch des Kinderarztes verweigert – aus Angst vor einer Infektion mit SARS-CoV-2.
Den weitestgehenden Rückzug der Kinder- und Jugendhilfe während des Lockdowns sieht Dr. med. Maik Herberhold vom Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. kritisch. „Es gab kaum aufsuchende Hilfen, eine gemeinsame Einschätzung oder Abklärung der Kindeswohlgefährdung war nicht mehr möglich.“ Seiner Ansicht nach hätte der Kontakt der Jugendhilfe zu „Risikofamilien“
unbedingt aufrechterhalten werden müssen. Die meisten Kinder- und Jugendpsychiater seien hingegen zugänglich gewesen. „Nur wenige Kollegen haben ihre Praxen während des Lockdowns geschlossen“, sagte Herberhold. Als sozialpsychiatrisch arbeitender Arzt wünscht er sich die Möglichkeit des Hometreatments im Rahmen der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung. Solch eine Regelung hätte in der Coronakrise möglicherweise einen Teil des Schadens abwenden können.
Zunahme von Gefährdungen
Der Vertreter des Deutschen Jugendinstituts (DJI), Dr. phil. Heinz Kindler, wies abschließend darauf hin, dass aktuell „eher weniger als mehr Kinder im Kinder- und Jugendhilfesystem ankommen“. 25 Prozent der Jugendämter meldeten dem DJI eine Abnahme der Gefährdungsmeldungen zum Kinderschutz; bei 55 Prozent ist die Anzahl gleichgeblieben. „Einige Frühindikatoren deuten aber auf eine tatsächliche Zunahme von Kindeswohlgefährdungen hin“, sagte Kindler. Die Kumulation von Belastungen bei vulnerablen Eltern während der Coronapandemie ließe dies annehmen. Eines sei allerdings sicher: Ärzten und Psychotherapeuten komme bei der Wahrnehmung sich zuspitzender Gefährdung von Kindern und Jugendlichen eine große Bedeutung zu. Petra Bühring