ArchivDeutsches Ärzteblatt40/2020Altersdiskriminierung in der Medizin: Sicht auf ältere Menschen hinterfragen

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Altersdiskriminierung in der Medizin: Sicht auf ältere Menschen hinterfragen

Mennig, Eva; Wurm, Susanne; Thomas, Christine

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Der Anteil älterer Mitbürgerinnen und Mitbürger in der Bevölkerung steigt. Damit geht auch einher, dass Ärztinnen und Ärzte immer mehr Menschen, die 70 Jahre oder älter sind, in ihrer Klinik oder Praxis behandeln – allerdings nicht immer mit den gleichen Maßstäben wie bei Jüngeren.

Im Gespräch mit älteren Menschen können sich bestimmte Altersbilder zeigen. Wichtig ist es, diese zu reflektieren. Foto: Robert Kneschke/stock.adobe.com
Im Gespräch mit älteren Menschen können sich bestimmte Altersbilder zeigen. Wichtig ist es, diese zu reflektieren. Foto: Robert Kneschke/stock.adobe.com

Ärztinnen und Ärzte nehmen in der Gesundheitsversorgung eine verantwortungsvolle Rolle ein. Sie sind unter anderem für die Diagnostik zuständig und bestimmen dadurch maßgeblich, welche Leistungen ihre Patientinnen und Patienten zur Behandlung eines gesundheitlichen Anliegens erhalten und welche nicht. Im besten Fall werden diese Behandlungsmaßnahmen objektiv festgelegt und optimal auf die Bedürfnisse der einzelnen Patienten ausgerichtet. Ist eine Patientin oder ein Patient älter oder hochaltrig, können in diesen Entscheidungsprozess jedoch auch – bewusst oder unbewusst – persönliche Sichtweisen einfließen, die medizinisch gesehen eigentlich irrelevant sind: die individuellen oder gesellschaftlich geprägten Vorstellungen zu älteren Menschen als soziale Gruppe. Im Fachjargon wird von den „Altersbildern“ des behandelnden Arztes gesprochen.

Nachteile bei der Behandlung

Altersbilder beeinflussen den Umgang mit dem eigenen Alter und dem Altern anderer Menschen. Im Gesundheitssystem sind „die Alter(n)svorstellungen der Professionellen handlungsleitend für ihren Umgang mit älteren Menschen und die Ausgestaltung der Versorgung und bestimmen damit die Nutzung vorhandener Potenziale mit“ (1). Diese Vorstellungen sind insbesondere bei Ärzten jedoch nicht immer mit positiven Eigenschaften verbunden. So wurde die Arbeit mit älteren Patienten in Befragungen zum Beispiel als „langweilig“ und „frustrierend“ bezeichnet oder ältere Menschen wurden allgemein als krank und (kognitiv) eingeschränkt wahrgenommen (2). Halten solche Assoziationen Einzug in den Behandlungsprozess, bedeutet das im schlechtesten Fall, dass Patientinnen und Patienten allein aufgrund ihres chronologischen Alters schlechter versorgt werden. Diese altersspezifische Benachteiligung wird insbesondere in der englischsprachigen Literatur „Ageism“ genannt. Welche Folgen Ageism für die medizinische Versorgung älterer Menschen haben kann, konnten Studien in verschiedenen Bereichen aufzeigen: Ältere Patienten erhalten zum Beispiel nicht dieselben Behandlungsoptionen wie jüngere Menschen oder finden in der Gesundheitsforschung keine Beachtung (3). Zudem tendieren Ärzte mit negativen Altersbildern dazu, im Gespräch mit älteren Patienten im sogenannten „Elderspeak“ zu sprechen, das heißt zum Beispiel lauter, langsamer und bevormundend (4). Und auch bezüglich der therapeutischen Versorgung bei psychischen Erkrankungen sind ältere Menschen seit Langem unterrepräsentiert (5). Negativ geprägte Altersbilder von Ärzten können damit zu falschen Diagnosen führen, die Behandlungsqualität senken und die Patientensicherheit gefährden.

(Alters-)Sensibilität schaffen

Es muss nicht immer gleich darum gehen, dass konkret eine Behandlung vorenthalten oder eine Erkrankung bagatellisiert wird. Ageism beginnt bereits in der Kommunikation zwischen (ärztlichen) Kolleginnen und Kollegen. So werden einige Ärzte in ihrem Berufsalltag schon einmal Aussagen wie „bei dem Alter sind wir auch nicht mehr schuld“ gehört oder Anmerkungen wie „Altersverwirrtheit“ in der Patientenakte gelesen haben. Was kann man konkret tun, damit solche negativen und abwertenden Denkmuster nicht zur Regel werden und sich in benachteiligendem Handeln niederschlagen? Es gibt verschiedene Maßnahmen, die hier möglich sind:

  • Reflexion: Eine konkrete Benennung der eigenen Altersbilder sowie eine kritische Prüfung von deren „Wahrheitsgehalt“ sind hilfreich, um bei sich selbst ein möglichst realistisches Bild von älteren Menschen zu festigen. Da der Alterungsprozess mit Gewinnen und Verlusten einhergeht, sind Altersbilder nie ausschließlich negativ oder positiv.
  • Differenzierung: Im medizinischen Bereich ist eine Unterscheidung zwischen Alter als Risikofaktor (zum Beispiel für Komplikationen wie postoperative Delirien) und Alter als alleinige Bewertungsgrundlage oder Ausschlusskriterium essenziell. Dies zeigt zum Beispiel auch die aktuelle Lage um COVID-19 sehr deutlich (siehe Statements zu Altersbildern in der Coronapandemie im Kasten). Entscheidend für die Beurteilung sollte vor allem die individuelle Konstitution der Patienten sein.
  • Beratung: Eine Besonderheit bei älteren Patienten besteht darin, dass gesundheitliche Beschwerden von ihnen selbst oder den Behandelnden leicht als „normale“ Alterserscheinungen verkannt und nicht als Symptom einer behandlungsbedürftigen Krankheit wahrgenommen werden. Bei Unsicherheiten in der Diagnostik und Behandlung ist es daher ratsam, eine geriatrische, gerontopsychiatrische oder gerontologische Expertise hinzuzuziehen, zum Beispiel durch ein Konsil.
  • Achtsamkeit: Die Aktivierung von Altersbildern und ihre Einflussnahme auf das Denken und Handeln passiert häufig auch unbewusst. Daher sollten Personen im eigenen Umfeld auf abwertende Aussagen und benachteiligende Handlungen aufmerksam gemacht und zum Nachdenken angeregt werden.

Zur zielgerichteten Vermittlung einer alterssensiblen Haltung bietet es sich an, regelmäßige Schulungen zu Alter und Altern für alle medizinischen Fachbereiche zu etablieren (6), beispielsweise im Bildungsprogramm eines Krankenhauses (siehe Kasten). Auch die Bereitstellung von Informationsmaterial wie Kitteltaschenkarten oder Booklets kann dazu beitragen, Wissen und Bewusstsein im Alltag präsent zu halten. Dieses Bewusstsein kann nicht zuletzt auch auf andere soziale Gruppen übertragen werden – damit jede Patientin und jeder Patient die Behandlung erhält, die notwendig ist.

Eva Mennig, Prof. Dr. phil. Susanne Wurm,
Dr. med. Christine Thomas

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4020
oder über QR-Code.

Weiterführende
Informationen

Internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben ein Statement zu Ageism und generationsübergreifender Solidarität im Auftrag der Gerontological Society of America gegeben:

http://daebl.de/NL31

Das Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie hat ein Statement zur Coronapandemie abgegeben:

http://daebl.de/VN64

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen zu negativen Altersstereotypen in der Krise und wie diese verhindert werden können:

http://daebl.de/AC51

Als Teilaspekt des von der Robert-Bosch-Stiftung geförderten Projekts „HuBerTDA“ (Handeln im Hier und Jetzt! Bereit zum Demenz- und Alterssensiblen Krankenhaus) wurden am Klinikum Stuttgart auch die Altersbilder von Ärztinnen und Ärzten erhoben (7). Schulungen zu den Themen Demenz, Delir und „Alter erleben“ sind inzwischen fest etabliert:

http://daebl.de/XC59

Die von der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie erarbeiteten Grundpositionen zeigen auf, wie eine gute Versorgung älterer Patientinnen und Patienten gelingen kann:

http://daebl.de/RX12

Das Programm Altersbilder des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zeigt in seinem sechsten Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Schwerpunktthema Altersbilder in der Gesellschaft auf, wie differenziert die Darstellungen des Alters sowie Ansprachen an ältere Menschen sind:

http://daebl.de/KL46

1.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): Sechster Bericht zur Lage der älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland – Altersbilder in der Gesellschaft. 2010. Berlin: Deutsches Zentrum für Altersfragen .
2.
Higashi R T, Tillack A A, Steinman M, Harper M, Johnston C B: Elder care as „frustrating“ and „boring“: understanding the persistence of negative attitudes toward older patients among physicians-in-training. In: J Aging Stud 2012; 26 (4): 476–83. doi:10.1016/j.jaging.2012.06.007 CrossRef MEDLINE
3.
Chodosh J, Tulsky A, Naumburg E, Branca L, Frankel R M, McCann R M, ... Hall W J: What Residents Want to Know About Geriatrics. In: Gerontology & Geriatrics Education 2000; 20 (2): 19–35. doi:10.1300/J021v20n02_03 CrossRef
4.
Bowling A: Ageism in cardiology. In: BMJ 1999; 319 (7221): 1353–55. doi:10.1136/bmj.319.7221.1353 CrossRef MEDLINE PubMed Central
5.
Dockter L, Keene S: Ageism in Chemotherapy. In: Internet Journal of Law, Healthcare and Ethics 2009; 1 (6) CrossRef
6.
Madan A K, Aliabadi-Wahle S, Beech D J: Ageism in Medical Students’ Treatment Recommendations: The Example of Breast-conserving Procedures. In: Academic Medicine 2001; 76 (3): 282–4 CrossRef MEDLINE
7.
Peters M: Psychotherapie im Alter. In: Arolt V, Kersting A (Eds.), Psychotherapie in der Psychiatrie – Welche Störung behandelt man wie? Heidelberg: Springer 2010; 497–581 CrossRef
1.Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): Sechster Bericht zur Lage der älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland – Altersbilder in der Gesellschaft. 2010. Berlin: Deutsches Zentrum für Altersfragen .
2.Higashi R T, Tillack A A, Steinman M, Harper M, Johnston C B: Elder care as „frustrating“ and „boring“: understanding the persistence of negative attitudes toward older patients among physicians-in-training. In: J Aging Stud 2012; 26 (4): 476–83. doi:10.1016/j.jaging.2012.06.007 CrossRef MEDLINE
3.Chodosh J, Tulsky A, Naumburg E, Branca L, Frankel R M, McCann R M, ... Hall W J: What Residents Want to Know About Geriatrics. In: Gerontology & Geriatrics Education 2000; 20 (2): 19–35. doi:10.1300/J021v20n02_03 CrossRef
4.Bowling A: Ageism in cardiology. In: BMJ 1999; 319 (7221): 1353–55. doi:10.1136/bmj.319.7221.1353 CrossRef MEDLINE PubMed Central
5.Dockter L, Keene S: Ageism in Chemotherapy. In: Internet Journal of Law, Healthcare and Ethics 2009; 1 (6) CrossRef
6.Madan A K, Aliabadi-Wahle S, Beech D J: Ageism in Medical Students’ Treatment Recommendations: The Example of Breast-conserving Procedures. In: Academic Medicine 2001; 76 (3): 282–4 CrossRef MEDLINE
7.Peters M: Psychotherapie im Alter. In: Arolt V, Kersting A (Eds.), Psychotherapie in der Psychiatrie – Welche Störung behandelt man wie? Heidelberg: Springer 2010; 497–581 CrossRef

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