SUPPLEMENT: Perspektiven der Kardiologie
Forschung: Nach Schwachstellen des alternden Herzens suchen
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Kardiale Alterungsprozesse lassen sich heute durch Einzelzelltranskriptomanalysen mittels „Single-nucleus sequencing“-Technik identifizieren. Dies erlaubt zunehmende Erkenntnisse über zelluläre Deregulationen und ihre physiologischen Auswirkungen.
Nach Geburt und Adoleszenz des Organismus beginnt nach einer Phase einer gewissen dynamischen Konstanz der Prozess des Alterns. Dieser wird in der Biologie an einer Reihe von funktionellen Kriterien, den „hallmarks of aging“, ausgemacht (1). Diese umfassen:
- genomische Instabilität,
- Telomerverkürzung,
- epigenetische Veränderungen,
- Verlust der effizienten Proteostase,
- deregulierte Nährstoffphysiologie,
- mitochondriale Dysfunktion,
- zelluläre Seneszenz,
- Erschöpfung der Stammzellen sowie
- veränderte interzelluläre Kommunikation.
Letztendlich sind Alterung und Tod logisch bedingende, fundamentale Prozesse des Lebens. Sollten sich diese Prozesse mathematisch und weitgehend unabhängig von funktionellen Einzelheiten beschreiben lassen?
Im Folgenden werden zwei konzeptionelle, experimentell umsetzbare Ansätze diskutiert, um biologische Alterungsprozesse adäquat beschreiben und verstehen zu können.
Altern: statistische Interpretation
Chemische Prozesse und somit auch Lebensprozesse sind niemals perfekt; dies gilt für jede Zellteilung. Mit jeder Zellteilung können sich die Zellen einer Population individuell stärker voneinander unterscheiden. Solche Prozesse mögen an besonderen Angriffspunkten bevorzugt ablaufen, können aber im Laufe des Lebens auch stochastisch erfolgen.
Unsere Forschungen zielen darauf ab, zelluläre Prozesse des alternden Herzens zu untersuchen, um potenzielle Schwachstellen zu identifizieren. Einflussfaktoren wie genetische Variabilität, persönliche Krankheitsgeschichte et cetera konnten wir minimieren, indem wir unsere Untersuchungen an genetisch identischen Mäusen durchführten. Dies ermöglichte uns, unter standardisierten Bedingungen (gleiche Umgebung, Ernährung usw.) inhärente, krankheitsunabhängige Alterungseffekte des Herzens zu analysieren.
Hierfür wurde eine relativ neuartige Methodik angewendet: die Einzelzellnukleus-Transkriptom-Sequenzierung (2) (Abbildung oben). Auf diese Art und Weise konnten wir in einigen Zehntausend Zellen sowohl junger als auch alter Herzen Genexpressionswerte gewinnen und die jeweilige Varianz dieser Daten berechnen (3). Analysiert wurden folgende Zelltypen: Kardiomyozyten, epikardiale Zellen, Endothelzellen, Fibroblasten, Perizyten, Adipozyten, Immunzellen und andere.
Je größer die Varianz von Zelle zu Zelle beziehungsweise die Verteilung innerhalb einer Zellpopulation mit dem Alter ist, umso schwieriger lässt sich der jeweilige Expressionswert eines bestimmten Gens von einer Zelle auf die andere vorhersagen. Das heißt: Der Informa-tionsgehalt beziehungsweise die Entropie pro Zelle nimmt ab. Dieser Ansatz ermöglichte es, den jeweiligen Grad an „Ordnung“ beziehungsweise „Unordnung“ in verschiedenen Zellpopulationen zu bestimmen (4).
Große „Unordnung“ in Fibroblasten und Endothelzellen
Somit konnten wir herausfinden, dass insbesondere Zelltypen wie Fibroblasten und Endothelzellen eine besonders große Varianz beziehungsweise Entropie („Unordnung“) in der Genexpression in alten Herzen zeigten. Den alten Herzen standen somit weniger voll funktionsfähige Zellen dieser Zelltypen zur Verfügung. All die eher kleinen Abweichungen von Zelle zu Zelle beeinträchtigten das hochkomplexe System Herz auf physiologischer Ebene. Insbesondere bildeten sich pathologische zelluläre Subtypen im Alter aus.
Zum Beispiel konnten wir in den Einzelzellnukleus-Transkriptom-Daten bestimmte verdächtige Fibroblasten-Subtypen im Epikard alter Herzen identifizieren (Grafik). In diesen speziellen Fibroblasten waren zum Beispiel osteogene Faktoren besonders exprimiert (3). Die Eliminierung der Wirkung solcher bisher unbekannter zellulärer Subtypen könnte also ein Ansatz zur Prävention und Therapie von altersbedingten kardiovaskulären Komplikationen wie Verkalkungen sein.
In alten Herzen senden Fibroblasten zudem bestimmte Eiweiße aus: Diese Serpine können bewirken, dass sich die Endothelzellen der Blutgefäße schlechter zusammenfinden, was negative Folgen für die Gefäßauskleidung haben kann. Die Gabe von Antikörpern gegen Serpine konnten die negativen Effekte in In-vitro-Experimenten wieder rückgängig machen (3).
Da wir in alten Fibroblasten weitere, für die Zellkommunikation zuständige, deregulierte Gene gefunden haben, ist das Zusammenspiel von Fibroblasten und Endothelzellen wahrscheinlich noch deutlich komplexer und weiter zu erforschen.
Nun wird man sich fragen, was der Grund für die von Zelle zu Zelle im Alter größer werdende Varianz der Genexpression ist. Hierzu verfolgen wir derzeit die Hypothese, dass die jeweilige „Beanspruchung“ bestimmter Regionen der DNA bei der Zellteilung und der Genexpression eine wichtige Rolle spielt. Dabei sind die DNA-Methylierungen – reversible chemische Modifikationen – von entscheidender Bedeutung.
Durch genomweite Einzelzellanalysen der DNA-Methylierungen fanden wir heraus, dass zum Beispiel in Promotorregionen (den regulatorischen Regionen der DNA vor dem jeweils zu transkribierenden Gen) die Varianz der DNA-Methylierung in alten Fibroblasten größer ist als in jungen Fibroblasten. Da sich Fibroblasten vergleichsweise häufig teilen, wäre die beobachtete Varianz der DNA-Methylierung unter anderem durch ungenaue DNA-Methylierungsreaktionen erklärbar.
Zudem entdeckten wir erhöhte Varianzen der DNA-Methylierung von zelltypspezifischen Genen mit daraus folgender erhöhter Varianz der Genexpression. Wir vermuten, dass die zelltypspezifischen Gene im Laufe der Differenzierung eines Zelltyps eher spät mit entsprechenden DNA-Methylierungen versehen werden und dass diese bei der Zellteilung weniger stabil auf die DNA neu entstehender Zellen übertragen werden – mit entsprechenden Konsequenzen bei der Genregulation im Alter.
Dagegen zeigen Gene, die für jeden Zelltyp relevant sind (z. B. metabolische Haushaltsgene), relativ stabile Muster auf. Dies lässt darauf schließen, dass generische Prozesse, die von allen Zellen verwendet werden müssen, robusten Genregulationsprozessen unterliegen. Im Vergleich zu den sich regelmäßig teilenden Fibroblasten zeigten differenzierte, sich nicht mehr teilende Kardiomyozyten kaum unterschiedliche DNA-Methylierungs- und Genexpressionsmuster in jungen und alten Herzen.
Kurz gesagt: Durch Zellteilungen während des Lebens „verblassen“ Methylierungsmuster auf der DNA mit Konsequenzen für die exakte Expression zellspezifischer Gene. Weitere Forschungen sind nötig, um diese vorläufigen Ergebnisse und ihre Interpretation zu untermauern
Thermodynamische Interpretation
Rostendes Eisen unterliegt einem gerichteten thermodynamischen Prozess, der Oxidation. Oxidation ist ein wesentlicher chemischer Prozess der Atmung, um aus Zucker letztendlich ATP zu generieren. Es ist auch hierbei bekannt, dass zum Beispiel die Prozesse der oxidativen Phosphorylierung zur Generierung von ATP nicht zu 100 % perfekt ablaufen – und immer auch Nebenprodukte wie freie Sauerstoffradikale erzeugt werden.
Um Biomoleküle wie Nukleinsäuren, Proteine und Lipide funktionell erhalten zu können, hat die Natur ein lebensfreundliches, abgeschlossenes zelluläres Milieu unter reduzierenden Bedingungen geschaffen. Um schädliche Effekte von Sauerstoffradikalen auf Enzyme abzupuffern, sind die Zellen mit verschiedenen Schutzmechanismen und Quenchermolekülen ausgestattet – wie beispielsweise dem Peptid Gluta-thion im reduzierten Zustand.
Durch Oxidation von Thiolresten des Proteins KEAP löst sich dieses im Zytoplasma vom Mastertranskriptionsfaktor Nfr2 (5). Dadurch kann Nrf2 in den Zellkern gelangen und dort wichtige Gene für den Zellschutz aktivieren, zum Beispiel für die Biosynthese von Glutathion.
Interessanterweise zeichnen sich proliferierende Zellen durch ein reduziertes, gegen oxidativen Stress schützendes Milieu aus, als es bei differenzierenden, apoptotischen oder gar nekrotischen Zellen der Fall ist (6). Kurz gesagt: Je oxidierter die Zelle wird, umso eher stirbt sie ab.
Präventionsstrategien, die den Reduktionsstatus von Zellen systemisch verbessern, können Alterungsprozesse aufhalten. Leichtes Sporttraining und damit verbundener milder oxidativer Stress kann zum Beispiel dazu führen, dass sich etliche Schutzmechanismen des Körpers und metabolische Parameter über Gebühr verbessern.
Interessanterweise kann dieser positive Effekt durch hoch konzentrierte Gabe von Antioxidanzien wieder zunichte gemacht werden (7).
Wir konnten zeigen, dass „molekulares Training“ durch die Gabe von in physiologischen Puffern prooxidativem (!) Trans-Resveratrol in einer bestimmten Konzentration zu einer Nrf2-abhängigen „Umprogammierung“ von Zellen und somit zu einer reduzierteren Redoxumgebung führt. Auf diese Weise können Zellen durch den „Anti-Aging“-Naturstoff Resveratrol, auch bekannt als Inhaltsstoff des Rotweins, tatsächlich gegen oxidativen Stress signifikant geschützt werden (8).
Jedoch ist Resveratrol instabil und hat sehr schlechte pharmakokinetische Eigenschaften. Somit könnte vor allem die topische beziehungsweise dermatologische Anwendung von Resveratrol sinnvoll sein. Dagegen scheint die häufig propagierte Applikation von Resveratrol zur lebensbegleitenden Prävention oder gar Therapie von kardiovaskularen Alterungsprozessen weniger Sinn zu machen. Jedenfalls ist die mechanistische Wirkung von Resveratrol im kardiovaskulären Kontext mit derzeitigen Messmethoden im Menschen schwer nachzuweisen.
Ausblick
Zurzeit werden in internationalen Konsortien wie dem „Human Cell Atlas“ (9) systematisch in verschiedenen menschlichen Populationen gesunde und erkrankte Herzen hinsichtlich ihrer exprimierten Gene und ihres Genoms in Hunderttausenden von Zellen analysiert. Man erwartet dadurch, ein deutlich vertieftes Verständnis in kardiovaskulare und insbesondere pathologische Prozesse zu gewinnen. Unter anderem sollen bisher unbekannte zelluläre Subtypen klassifiziert, informative Biomarker und effiziente diagnostische Tools generiert sowie neue therapeutische „targets“ entwickelt werden.
Die Ergebnisse dieser und weiterer Initiativen – zum Teil im Verbund mit Pharma- und Diagnostik-unternehmen – dürften in 10–20 Jahren zu neuen, evidenzbasierten Behandlungsoptionen für eine gezielte Präventionsmedizin führen.
Fazit
Technologien des 21. Jahrhunderts – wie die Transkriptom- oder Genomsequenzierung einzelner Zellen beziehungsweise Zellkerne aus Geweben oder Organen – erlauben einen tiefen Einblick in die zelluläre Organisation von gesunden wie erkrankten Organen und Geweben. Die biomedizinische Grundlagenforschung ermöglicht folgende vorläufige Schlussfolgerungen zum alternden Herzen:
- Das „gesunde“, jedem Organismus eigene Altern des Herzens ist auf zellulärer Ebene ein teils durch natürliche Schwachstellen vorgegebener, teils stochastischer – aber letztendlich gerichteter – Prozess.
- Mit zunehmendem Alter unterscheiden sich Genexpressions- und zugrunde liegende DNA-Methylierungsmuster von Zelle zu Zelle. Diese Effekte sind pro Zelle relativ gering, können aber im Zellverbund signifikante Auswirkungen auf die Funktion des Herzens haben.
- Gewisse „Schwachpunkte“ des alternden Herzens (wie deregulierte Fibroblasten bzw. ihre Subpopulationen) könnten „targets“ für eine gezielte Prävention und Therapie von kardiovaskulären Alterungsprozessen sein.
- Kontrolliertes Training kann zur Verlangsamung von zellulären, oxidationsbedingten Alterungsprozessen durch überproportionale Aktivierung von körpereigenen Schutzmechanismen führen. ▄
DOI: 10.3238/PersKardio.2020.10.09.06
Dr. Sascha Sauer, Berlin
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der
Helmholtz-Gemeinschaft (MDC)
Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4120
1. | López-Otín C, Blasco MA, Partridge L, Serrano M, Kroemer G: The hallmarks of aging. Cell 2013; 153 (6): 1194–217 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
2. | Stark R, Grzelak M, Hadfield J: RNA sequencing: the teenage years. Nat Rev Genet 2019; 20 (11): 631–56 CrossRef MEDLINE |
3. | Vidal R, Wagner JUG, Braeuning C, et al.: Transcriptional heterogeneity of fibroblasts is a hallmark of the aging heart. JCI Insight 2019; 4 (22). pii: 131092 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
4. | Guo M, Bao EL, Wagner M, Whitsett JA, Xu Y: SLICE: determining cell differentiation and lineage based on single cell entropy. Nucleic Acids Res 2017; 45 (7): e54 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
5. | Kang MI, Kobayashi A, Wakabayashi N, Kim SG, Yamamoto M: Scaffolding of Keap1 to the actin cytoskeleton controls the function of Nrf2 as key regulator of cytoprotective phase 2 genes. Proc Natl Acad Sci U S A 2004; 101 (7): 2046–51. CrossRef MEDLINE PubMed Central |
6. | Schafer FQ, Buettner GR: Redox environment of the cell as viewed through the redox state of the glutathione disulfide/gluta-thione couple. Free Radic Biol Med 2001; 30 (11): 1191–212 CrossRef |
7. | Ristow M, Zarse K, Oberbach A, et al.: Antioxidants prevent health-promoting effects of physical exercise in humans. Proc Natl Acad Sci U S A 2009; 106 (21): 8665–70 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
8. | Plauth A, Geikowski A, Cichon S, et al.: Hormetic shifting of redox environment by pro-oxidative resveratrol protects cells against stress. Free Radic Biol Med 2016; 99: 608–22 CrossRef MEDLINE |
9. | Regev A, Teichmann SA, Lander ES, et al.: Human Cell Atlas Meeting Participants: The Human Cell Atlas. Elife 2017; 6. pii: e27041. |