ArchivDeutsches Ärzteblatt PP10/2020KBV-Vertreterversammlung: Klare Coronastrategie gefordert

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KBV-Vertreterversammlung: Klare Coronastrategie gefordert

Beerheide, Rebecca; Haserück, André

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Weniger Aktionismus seitens der Politik und mehr vertragsärztliche Expertise bei der Bekämpfung der Coronapandemie – dafür warben die Mitglieder der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) im Rahmen ihrer Septembersitzung.

Praxisorganisation zu Pandemiezeiten: Vertragsärzte wollen keine Vorgaben von der Politik bekommen. Foto: picture alliance/dpa/Fabian Strauch
Praxisorganisation zu Pandemiezeiten: Vertragsärzte wollen keine Vorgaben von der Politik bekommen. Foto: picture alliance/dpa/Fabian Strauch

Eine über die Maskenfrage hinausreichende SARS-CoV-2-Strategie für die Herbst- und Wintermonate forderte Dr. med. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), im Rahmen der KBV-Vertreterversammlung am 11. September 2020 in Berlin. Eine solche Strategie sei notwendig, so Gassen, um einen erneuten flächendeckenden starken Anstieg von Coronainfektionen zu vermeiden. Hier sei bislang noch keine klare politische Strategie zu erkennen.

„Statt Praxisschließungen auf einer Karte zu „visualisieren“, sollte sich die Politik der Frage widmen, wie sie verhindert werden können.“ Dr. med. Andreas Gassen. Foto: Georg J. Lopata
„Statt Praxisschließungen auf einer Karte zu „visualisieren“, sollte sich die Politik der Frage widmen, wie sie verhindert werden können.“ Dr. med. Andreas Gassen. Foto: Georg J. Lopata

Gassen verwies diesbezüglich auf den vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) entwickelten Frühindikator zur Vorwarnung sowie die vom System der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) ausgearbeitete „Herbststrategie“ zur Bewältigung der kommenden Herausforderungen. Wichtig sei, gerade im Hinblick auf Clusterausbrüche, das Aufstellen regionaler Maßnahmenpläne. Hierbei werde die Unterstützung durch niedergelassene Ärzte und durch die KVen unverzichtbar sein. „Zwar haben Bund und Länder zahlreiche Fördermaßnahmen beschlossen, aber es wird noch Jahre dauern, bis der Öffentliche Gesundheitsdienst möglicherweise über die Ressourcen verfügt, die er in der aktuellen Situation bräuchte und vielleicht schon lange gebraucht hätte“, betonte Gassen. Insbesondere sei in diesem Zusammenhang die Entlastung der Praxen von Verwaltungsarbeiten dringend geboten, um so den nötigen Freiraum für die unmittelbare Patientenversorgung zu schaffen. Die Politik könne es alleine nicht richten – gefragt sei ein planvolles Vorgehen, eine nachhaltige Strategie und vor allem der Dialog mit denjenigen, die die Versorgung vor Ort erfolgreich organisieren und gewährleisten, so der KBV-Chef. Entscheidend bei allen Maßnahmen sei, dass die Regelversorgung akuter und chronisch Kranker gewährleistet bleibt. Zwar wisse niemand, wie sich das SARS-CoV-2-Virus und das Infektionsgeschehen entwickeln werden – Stand heute gebe es aber keinen Grund zur Panik. Es bestehe daher kein Grund für wilden Aktionismus, dennoch sei es wichtig, sich zu wappnen.

Ärger über Honoraverhandlung

Deshalb sehe die Coronastrategie des KV-Systems für die Herbst- und Wintermonate ein eng abgestimmtes Vorgehen zwischen dem Öffentlichen Gesundheitsdienst, den Bundesländern und den Kassenärztlichen Vereinigungen vor. In diesem Rahmen müssten „regionalspezifische und maßgeschneiderte Lösungsansätze“ entwickelt werden. Beispielsweise zum Planen und Abschätzen von Laborkapazitäten, zur Zusammenarbeit mit den regionalen Krisenstäben oder auch zur strukturierten Information der Bürgerinnen und Bürger. Verärgert zeigte sich Gassen von den diesjährigen Honorarverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband, die bereits unmittelbar nach Beginn abgebrochen wurden. Vor dem Hintergrund nachgewiesener Kostensteigerungen in den Arztpraxen und insbesondere der Leistungen der Ärzteschaft in der Coronapandemie stelle die „Verweigerungshaltung“ der Kassen einen Affront dar. Ein „Nicht-Angebot“ tauge nicht als Grundlage für Verhandlungen: Die Kassen hatten keine Erhöhung des Orientierungswertes angeboten. „Die gesetzliche Krankenversicherung hat im ersten Halbjahr 2020 einen Einnahmeüberschuss von 1,3 Milliarden Euro verzeichnet“, so Gassen. Die Kassen seien also „alles andere als klamm“. Nun werde sich der Erweiterte Bewertungsausschuss mit der Thematik befassen müssen.

Coronamaßnahmen prüfen

„Das System der Kassenärztlichen Vereinigungen hat in der größten Gesundheitskrise der Nachkriegszeit. zusammengehalten. Foto: Georg J. Lopata
„Das System der Kassenärztlichen Vereinigungen hat in der größten Gesundheitskrise der Nachkriegszeit. zusammengehalten. Foto: Georg J. Lopata

Die Gesellschaft müsse lernen, mit der „neuen“ Normalität umzugehen, betonte der stellvertretende KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. med. Stephan Hofmeister. Allerdings dürfe der Zustand der Pandemie nicht dauerhaft dazu benutzt werden, Eingriffe in die Grundrechte aufrechtzuerhalten. Alle Maßnahmen müssten stetig evaluiert, kritisch hinterfragt, gewichtet und bei Fortsetzung entsprechend begründet werden. Gassen verwies hierzu exemplarisch auf die Teststrategien. Ab dem Herbst sei allein aufgrund saisonaler Effekte mit einer erheblichen Steigerung des wöchentlichen SARS-CoV-2-Testaufkommens zu rechnen – um näherungsweise 800 000. Dies dürfte auch zu einer erhöhten Zahl positiver Testergebnisse führen, ohne dass hieraus zwangsläufig eine steigende pandemische Aktivität abzuleiten wäre. Es sei daher „dringend geboten“, dass die Politik die bisher definierte Grenze für das Ergreifen von Maßnahmen bei mehr als 50 Neuinfektionen pro 100 000 flexibilisiert.

Scharfe Kritik übte KBV-Vize Hofmeister an dem Vorstoß der Grünen, die Arbeitsverteilung im Gesundheitswesen generell neuzuordnen. Man unterstütze zwar grundsätzlich eine bessere Kooperation und Vernetzung sämtlicher akademischer und nichtakademischer Gesundheitsberufe – hier solle jedoch ganz offensichtlich der Weg in die Substitution gegangen werden. Dies sei nicht zuletzt deshalb abzulehnen, weil Deutschland über ein sehr erfolgreiches, diskriminationsfreies, gut zugängliches und im Vergleich durchschnittlich teures ambulantes ärztliches Versorgungssystem verfüge. In der Coronapandemie habe sich das deutsche Gesundheitssystem gerade wegen seiner ambulanten ärztlichen Versorgung als so widerstandsfähig erwiesen.

Digitalisierungsstrategie

„Praxen müssen von Fristen befreit werden, wenn sie die technischen Voraussetzungen gar nicht erfüllen können!“ Dr. rer. oec. Thomas Kriedel. Foto: Georg J. Lopata
„Praxen müssen von Fristen befreit werden, wenn sie die technischen Voraussetzungen gar nicht erfüllen können!“ Dr. rer. oec. Thomas Kriedel. Foto: Georg J. Lopata

Auf den wachsenden Frust der Praxisärzte mit der Digitalisierungsstrategie der Politik verwies KBV-Vorstandsmitglied Dr. rer. soc. Thomas Kriedel. Wer die Digitalisierung in den Praxen ernsthaft und nachhaltig voranbringen wolle, müsse die Vertragsärzte und Psychotherapeuten mit ihren Belangen ernst nehmen. Die Digitalisierung dürfe den Praxen keine zusätzlichen Kosten, unnötigen Pflichten oder überbordende Bürokratie aufzwingen. Dann berge sie das Potenzial, viel Positives zu bewirken, betonte Kriedel. Gassen kritisierte in diesem Zusammenhang, dass die Politik zwar erhebliche Investitionen in die digitale Infrastruktur der Krankenhäuser tätigen wolle, gleiches aber für die Praxen nicht gelte. Diese müssten im Gegenteil für die von ihnen per Gesetz abverlangten Maßnahmen selbst zahlen.

„Es ist mehr als unbefriedigend, ja, es ist frustrierend, dass wir die Praxen als Folge von Gesetzen mit immer neuen Terminen und Anwendungen geradezu drangsalieren müssen, es aber bisher kaum ein Produkt gibt, das Ärzten und Patienten einen tatsächlichen Nutzen bietet“, griff auch Hofmeister das Vorgehen der Regierung bei der Digitalisierung an. Wesentliche Kosten blieben bei den Praxen hängen – zudem griffen Sanktionen bei Fristüberschreitungen. Profiteure seien bisher nur die Krankenkassen und die Praxisverwaltungssystemindustrie.

„Wir fordern, dass in Zukunft alle Produkte, die in die Praxisverwaltungssoftware integriert werden sollen, erst dann flächendeckend eingeführt werden, wenn sie ihre Praxisreife, -tauglichkeit und Sinnhaftigkeit nach dem altbekannten und bewährten Prinzip der Beta-Version einer guten Software unter Beweis gestellt haben“, so Hofmeister. Hier müsse einzig und alleine die Sicht des Anwenders zählen. „Dann wird es auch nicht schwierig sein, die Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zu überzeugen, auf dem Weg der Digitalisierung fortzuschreiten.

Expertise nutzen

Die Mitglieder der Vertreterversammlung schlossen sich vielen Punkten aus den Reden der KBV-Vorsitzenden an: Dabei forderten sie weniger Aktionismus seitens der Politik und mehr vertragsärztliche Expertise bei der Bekämpfung der Coronapandemie. „Die Pandemie ist kein Spielball für politische Ambitionen“, erklärte die Vorsitzende der Vertreterversammlung, Dr. med. Petra Reis-Berkowicz, zum Auftakt. „Wir brauchen mehr Gelassenheit und keinen ungezielten Aktionismus.“ Dazu gehöre auch, dass das ungezielte Testen beendet werden müsse. „Die Labore leisten Großartiges, die Praxen auch. Was fehlt, ist das Material für die Tests“, so die Allgemeinmedizinerin. Viele VV-Mitglieder forderten in der Debatte, dass, wenn es tatsächlich zu einem Pandemierat käme, auch die Vertragsärzte einen Sitz darin haben müssen. „Wir als KV-System brauchen einen Sitz, denn nur wir können den organisatorischen Rat geben“, erklärte beispielsweise Dr. med. Jörg Berling, stellvertretender Vorsitzender der KV Niedersachsen. Im Land habe man seit März 45 Testzentren aufgebaut, im Juni wieder geschlossen und durch die Verordnung zu den erweiterten Tests für Reiserückkehrer diese Zentren zum Teil wieder geöffnet. Dieses Hin und Her dürfe es nicht noch einmal geben, so die einhellige Meinung. Einstimmig unterstützten die VV-Mitglieder die „ausdrückliche“ Forderung, einen Nationalen Pandemierat „unter Beteiligung der Ärzteschaft“ zu gründen und dort als „gesamte Vertragsärtzeschaft einen ständigen Sitz“ zu bekommen.

Andere setzten sich in der Diskussion dafür ein, dass es unbedingt bundesweit ähnliche Vorgehensweisen beim Testen geben müsse und nicht jedes Land eigene Szenarien entwickle. Auch die Empfehlungen des Robert Koch-Instituts (RKI) müssten hier viel stärker auf die Machbarkeit in Arztpraxen überprüft werden, hieß es. Auch Dr. med. Werner Baumgärtner schilderte in der VV seine Erfahrungen in seiner Praxis in Baden-Württemberg, die seit März „eine Corona-Praxis“ sei. „Ich mache da seitdem täglich Abstriche, das war zu Beginn ohne Schutzausrüstung nicht lustig.“ Er setzte sich vehement dafür ein, auch weiterhin intensiv zu testen, bei den Hygieneregeln nicht nachzulassen und den „Lockdown“ nicht zu kritisieren. „Ich habe da eine klare Position, ich bin aktiv in der Patientenversorgung tätig.“ Aus der KV Hessen kam die Forderung, möglichst zügig bis zum Ende der Grippesaison die telefonische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) wieder einzuführen. „Damit können wir den normalen Schnupfen aus der Praxis halten“, so Eckhard Starke, stellvertretender Vorsitzender der KV Hessen. Dem Antrag stimmten die VV-Mitglieder mehrheitlich zu. Außerdem wurde der KBV-Vorstand aufgefordert, sich im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) für eine Verlängerung der bis Ende September befristeten Zeitgrenzen für die Früherkennungsuntersuchungen für Kinder (U6 bis U9) einzusetzen.

Keine Vorgaben für Praxen

Viel Kritik erntete der Vorschlag der Bundesländer, künftig Vorgaben zur Organisation und zur Ausbildung des Personals für Fieber- und Abstrichzentren sowie Praxen machen zu wollen. Dies ging aus einem Papier der Amtschefs der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) hervor. Die Vorschläge sollen am 30. September auf einer regulären Sitzung der Ländergesundheitsminister diskutiert werden. Viele VV-Mitglieder mahnten, dass sich alle bei ihren Landesgesundheitsministern einsetzen müssten, damit diese Regelung keinen Eingang in einen Beschluss der Länder findet. „Es darf nicht in die Organisation unserer Praxis eingegriffen werden“, erklärt Dr. med. Johannes Fechner aus Baden-Württemberg.

In einem weiteren Beschluss lehnte die KBV-Vertreterversammlung es ab, die „bevorstehende Influenza-Impfungen durch Apotheker in Modellregionen“ erlauben zu lassen. Da der Gesetzgeber den Appell der Vertragsärzte ignoriert habe, „fordern wir die Apothekerkammer und Apothekerverbände auf, sich diesen Modellprojekten zu verweigern“. Vor allem VV-Mitglieder aus Niedersachsen äußerten die Befürchtung, dass ein ganzes Bundesland zu einer Modellregion erklärt werden könnte und im Zuge dessen auch andere Schutzimpfungen angeboten werden. „Nach dem Motto: ‚heute gegen Influenza, morgen gegen Corona‘“, heißt es in dem Beschlusstext.

Auf der Septembersitzung wurde auch über den Haushalt und den Finanzbericht 2019 der KBV beraten. Wie in den vergangenen Jahren sollen die nicht verbrauchten Verwaltungskosten in Höhe von 2,2 Millionen Euro dem Vermögen zugeführt werden. Der Vorstand wurde mit vier Enthaltungen entlastet.

Rebecca Beerheide, André Haserück

Beschlüsse der Delegierten – Fokus Digitalisierung

Ein Schwerpunktthema der Vertreterversammlung bildete der Themenkomplex Digitalisierung. Dazu fassten die Delegierten mehrere Beschlüsse. So forderte die Vertreterversammlung im Zusammenhang mit dem Patientendatenschutzgesetz (PDSG) eine Digitalisierung, die dem Patientendatenschutz und den Patientenrechten gerecht wird, die die Vertrauensbeziehung und die Schweigepflicht schützt und die einen tatsächlichen Mehrwert für die Praxen bringt. Der Bundesrat wurde aufgerufen, diesbezüglich den Vermittlungsausschuss anzurufen. Insbesondere die Streichung der Einwilligungserfordernis der Patienten zur individualisierten Datenauswertung sehen die Delegierten höchst kritisch. Sollten Kassen ihren Versicherten ohne Zustimmung individualisierte Versorgungsangebote machen dürfen, greife dies sowohl die informationelle Selbstbestimmung der Patienten als auch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt/Psychotherapeut und Patient an. Zudem müsse, so heißt es in einem weiteren Beschluss, im Zusammenhang mit der Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) ein lückenloser Schutz des Patientengeheimnisses auch für Kinder und Jugendliche gewährleistet werden. Die Delegierten machten auch darauf aufmerksam, dass für Ärzte und Psychotherapeuten keine Pflicht besteht, digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) zu verordnen – diese seien nicht Teil einer leitliniengerechten Versorgung. Ärzte und Psychotherapeuten, die dennoch DiGA verordnen wollen, dürften keinem unkalkulierbarem Haftungsrisiko ausgesetzt sein und müssten den durch die nötige Patientenberatung entstehenden zusätzlichen Aufwand von den Krankenkassen angemessen vergütet bekommen.

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