EDITORIAL
Offensive Psychische Gesundheit: Weniger Tabu, mehr Hilfe


Drei Bundesministerien und insgesamt 50 Krankenkassen, Unfallversicherungsträger, die Rentenversicherung, Bundesagentur für Arbeit, Berufsverbände und Bündnisse aus dem Psych-Bereich wollen gemeinsam das Thema psychische Erkrankungen aus der Tabuzone holen und die Präventionslandschaft in Deutschland besser vernetzen. Die „Offensive Psychische Gesundheit“ soll dazu beitragen, „dass Menschen ihre eigenen psychischen Belastungen und Grenzen besser wahrnehmen und auch mit ihrem Umfeld offener darüber sprechen können“, erklärten die Bundesminister für Arbeit, Gesundheit und Familie bei einer gemeinsamen Pressekonferenz am 5. Oktober. Dies ist ein hehres, wenngleich nicht neues Anliegen. Denn allein im Jahr 2018 fehlten aufgrund psychischer Erkrankungen Beschäftigte an 90 Millionen Tagen in ihren Betrieben, berichtet die Bundespsychotherapeutenkammer. Psychische Erkrankungen sind demnach außerdem für rund 42 Prozent der Frührenten aufgrund langfristiger Arbeitsunfähigkeit verantwortlich. Dieser Anteil hat sich in den letzten 25 Jahren fast verdreifacht. So sprach Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) auch vom wirtschaftlichen Interesse, das Arbeitgeber – neben der Fürsorge für ihre Mitarbeiter – haben müssten, um die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu stärken. Sein Ministerium will die Arbeitgeber darin unterstützen. Ein wenig konkreter nannte Heil das Arbeitsschutzkontrollgesetz, mit dem bereits Regelungen für einen verbindlichen Arbeitsschutz auf den Weg gebracht wurden, die auch die psychische Gesundheit umfassen. Die Bundestagsfraktion Die Linke mahnte in diesem Zusammenhang eine Anti-Stress-Verordnung an, die eine wichtige Hilfe für Unternehmen, Betriebsräte und Arbeitsschutzbehörden sein könnte.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) stellte die psychischen Belastungen durch die Coronapandemie in den Fokus: Gerade in diesen Zeiten sei es wichtig, mit Aufklärungsarbeit und Unterstützungsangeboten für psychische Gesundheit zu sensibilisieren und einen frühen Zugang zu Hilfe zu erleichtern, damit aus psychischen Belastungen keine Störungen werden. Denn dass mit der Pandemie verbundene Stressfaktoren zu erhöhten Belastungen durch Angst und Depression führen, zeigt die Titelgeschichte in diesem Heft (Seite 464). Anhand einer systematischen Literaturrecherche sowie Studienergebnissen aus dem deutschen COSMO-Panel fanden die Autoren als Risikofaktoren Patientenkontakt, weibliches Geschlecht, reduzierter Gesundheitsstatus, Sorgen um Angehörige und schlechte Schlafqualität. Der gewünschte frühe Zugang zu Hilfe ist zwar durch die 2017 eingeführte psychotherapeutische Sprechstunde erleichtert worden. Die Wartezeiten beim Übergang von der Sprechstunde in eine Richtlinienpsychotherapie sind aber nach wie vor viel zu lang (siehe Seite 439). Hieran sollte die Bundesregierung zusammen mit der Selbstverwaltung dringend etwas ändern.
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) sprach als dritte im Bunde die vielfältigen tagtäglichen Belastungen von berufstätigen und/oder pflegenden Müttern und auch Vätern sowie von Schülern an. Sie will mit der „Offensive psychische Gesundheit“ ein Signal an die Betroffenen senden, sich Unterstützung zu suchen. Zu hoffen ist, dass die Wirkung der öffentlichkeitssuchenden Initiative nicht allzu schnell verpufft. Und natürlich sollten konkrete Taten folgen.