ArchivDeutsches Ärzteblatt PP10/2020Interview mit Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Wöller, Psychoanalytiker und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie: „Wir finden ein gespaltenes Persönlichkeitssystem“

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Interview mit Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Wöller, Psychoanalytiker und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie: „Wir finden ein gespaltenes Persönlichkeitssystem“

Britten, Uwe

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Dissoziationen haben in der Kindheit meist wichtige Funktionen erfüllt, im Erwachsenenalter allerdings werden sie sukzessive dysfunktional. Der Alltag wird zusehends brüchiger.

Was ist eine Dissoziation? Oder anders gefragt: Woran lässt sich erkennen, ob ein Klient dissoziiert?

Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Wöller ist Psychoanalytiker und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Neurologie und Psychiatrie. Soeben ist das Buch „Dissoziation“ von ihm im Psychosozial-Verlag erschienen. Foto: privat
Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Wöller ist Psychoanalytiker und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Neurologie und Psychiatrie. Soeben ist das Buch „Dissoziation“ von ihm im Psychosozial-Verlag erschienen. Foto: privat

Wolfgang Wöller: Eine Dissoziation ist eine Unterbrechung psychischer Prozesse, mit der Folge, dass koordinierte Abläufe nicht mehr möglich sind. Das kann alle Gebiete betreffen: die Verarbeitung sinnlicher Wahrnehmungen, die Gedächtnisleistung oder auch körperliche Abläufe. Ja, woran erkennen wir das? Nehmen wir das Gedächtnis, dann zeigt sich bei manchen Patienten, dass sie sich plötzlich an bestimmte Dinge nicht mehr erinnern können. Das kann sich auf einen längeren Zeitraum beziehen, manchmal auch auf mehrere Jahre des eigenen Lebens, oder es kann sich nur um ein momentanes Wegdriften handeln.

Andere dissoziative Phänomene betreffen körperliche Funktionen. Es gibt etwa dissoziative Lähmungserscheinungen, Sensibilitätsstörungen, psychogene Anfälle oder Störungen der Sinnesorgane wie Blindheit oder Taubheit, die organisch nicht erklärbar sind.

Auf was verweisen Dissoziationen denn?

Wöller: Das ist erst einmal unspezifisch. Wir finden Dissoziationen auch im normalpsychologischen Erleben. Wer sehr stark auf eine bestimmte Handlung konzentriert ist, nimmt seine Umwelt kaum noch wahr. Oder es gibt so ein Wegdämmern, etwa bei langen Autofahrten. Bei pathologischen dissoziativen Störungen diagnostizieren wir jedoch mitunter erhebliche Einschränkungen seelischer oder körperlicher Art, darunter die erwähnten Gedächtnisstörungen oder Depersonalisationen und Derealisationen, bei denen man die eigene Person oder die Umwelt als verändert erlebt.

Bei den schweren Dissoziationen finden wir darüber hinaus ein gespaltenes Persönlichkeitssystem mit nicht integrierten Persönlichkeitsanteilen. Bei ausgeprägten Gedächtnislücken, bei denen sich jemand nicht mehr erinnert, was er über mehrere Stunden hinweg getan hat, muss man davon ausgehen, dass während dieser Zeit ein anderer Persönlichkeitsanteil die Führung unternommen hat. Jedenfalls gibt es ein sehr breites Spektrum von Normalität bis zu schwerster Pathologie.

Was haben Dissoziationen noch mit der realen außerpsychischen Realität zu tun?

Wöller: Bei allen schweren Dissoziationen haben wir es in der Regel mit Traumatisierungen durch physische Gewalt, sexuellen Missbrauch oder emotionale Gewalt in Kindheit und Jugend, seltener auch im Erwachsenenalter zu tun. Allerschwerste Traumatisierungen und Misshandlungen grausamster Art finden wir bei der Dissoziativen Identitätsstörung.

Welches Problem löst die Psyche denn mit Dissoziationen?

Wöller: Wir müssen uns das bei den schweren Störungen so vorstellen: Ein Kind, das in einem beziehungstraumatischen Umfeld aufwächst und Eltern hat, die misshandelnd mit ihm umgehen, hat gar keine andere Wahl, als trotzdem das Bild von den guten Eltern aufrechtzuerhalten. Das allerdings ist nicht einfach integrierbar. Dabei ist eine Dissoziation ein hoch funktionaler Mechanismus. Dieser Mechanismus bleibt von da ab psychisch verfügbar. Aspekte, die eigentlich nicht zusammenpassen, werden abgespalten. So erhält sich dieser Mechanismus bis ins Erwachsenenalter. Wenn sie dann mit stressbelasteten Ereignissen konfrontiert sind, setzt er abermals ein, weil er sich psychisch verselbstständig hat. Man kann sagen, dass das, was unter den schwierigen kindlichen Bedingungen hoch funktional war, im Erwachsenenalter zunehmend dysfunktional wird und die Alltagsbewältigung stört.

Das geht bis hin zu Selbstschädigungen.

Wöller: Selbstschädigungen können aus unterschiedlichen Gründen auftreten. Patienten mit traumatischen Erfahrungen greifen auf selbstschädigende Verhaltensweisen, insbesondere auf Selbstverletzungen zurück, um extrem negative Stimmungslagen oder quälende Zustände der Depersonalisation zu lindern oder zu beenden. Zu selbstschädigenden Handlungen kann es jedoch auch kommen, wenn ein aggressiver und destruktiver Persönlichkeitsanteil abgespalten war und unter bestimmten auslösenden Bedingungen in den Vordergrund tritt.

Abgespaltene destruktive Persönlichkeitsanteile sind meist mit der Normenwelt der Täter identifiziert. So kommt es nicht selten vor, dass einer Patientin, die in der Kindheit sexuell missbraucht wurde, vom Täter ein Schweigegebot auferlegt wurde. Wenn sie dennoch gegenüber einer anderen Person von dem früheren Missbrauch erzählt, kann ein täteridentifizierter destruktiver Persönlichkeitsanteil aktiviert werden, der die Patientin dazu bringt, sich durch eine selbstschädigende Handlung, vor allem durch Selbstverletzung, zu bestrafen. Gerade in dissoziativen Zuständen, bei denen jemand keinen ausreichenden Kontakt zur äußeren Realität hat, kann es zu solchen Handlungen kommen.

Und wie gelingt eine bessere Integration dieser destruktiven Anteile?

Wöller: Man muss hier natürlich unterscheiden, welche Art von Dissoziation wir klinisch vor uns haben. Bei den leichteren Formen kann man mit den Patienten trainieren, Änderungen ihrer Bewusstseinslage frühzeitig zu erkennen, um dann, statt wegzudriften, entschlossen im Hier und Jetzt zu bleiben. Die schwerere Aufgabe ist es, abgespaltene Persönlichkeitsanteile zu integrieren. Das ist eine mühevolle und auch therapeutisch langfriste Angelegenheit, die mit Kurzzeittherapien nicht zu realisieren ist. Die Integration gelingt nur langsam und allmählich. Man muss mit den Patienten erarbeiten, welche Funktion das Abspalten unter traumatischen Lebensumständen hatte. Alle Persönlichkeitsanteile, und seien sie noch so destruktiv, hatten einmal eine sinnvolle Aufgabe im Dienste des Überlebens. Das muss man verstehen, um auch die destruktiven Anteile zu einer konstruktiven Mitarbeit in der Therapie zu bewegen. Das ist oft ein langer Prozess, der aber sehr lohnend sein kann.

Muss man denn manchmal auch mit nicht integrierten Anteilen leben können, auch als Therapeut?

Wöller: Ja, das muss man so sagen. Die vollständige Integration abgespaltener Anteile ist vielfach, gerade bei schwersten Störungen, ein Ideal, das man oft nicht erreicht. Es kann aber schon viel gewonnen sein, wenn die Betroffenen lernen, besser mit diesen Persönlichkeitswechseln umzugehen und stabil ihren Alltag zu bewältigen.

Diese Personen können beispielsweise lernen, wie sie ihre sehr belastenden emotionalen Zustände besser regulieren und wie sie besser erkennen können, wann in ihrem Alltag Gefühle der Ohnmacht, der Verzweiflung oder auch des Alleingelassenseins die Oberhand gewinnen, die ihren Ursprung nicht in aktuellen Situationen, sondern in der traumatischen Vergangenheit haben. Traumatherapeutisch gilt es ja als ganz wichtig, dass die Patienten zu unterscheiden lernen, welche Anteile ihrer gefühlshaften Reaktionen eher zur Gegenwart und welche eher zur traumatischen Vergangenheit gehören. Die therapeutischen Aktivitäten zur Verbesserung der Emotionsregulierung und -differenzierung werden gerne unter dem Begriff der Stabilisierung subsumiert, doch ist dieser Begriff viel zu blass, um all das abzubilden, was therapeutisch zu geschehen hat. Das eigentliche Integrieren abgespaltener Anteile wird man erst nach und nach in Angriff nehmen können.

Wenn Therapeuten nun gerade auf die abgespaltenen destruktiven Anteile der Klienten anspringen, wo liegen da die Tücken?

Wöller: Bei diesen Patienten müssen sich Therapeutinnen und Therapeuten darauf einstellen, dass sich die Gegenübertragung komplett ändert, wenn es zu einem Wechsel der Persönlichkeitsanteile kommt. Solange ein kooperativer, alltagsbezogener Persönlichkeitsanteil die Führung innehat, ist die Gegenübertragung in der Regel unkompliziert. Wenn nun aber durch einen bestimmten Auslöser ein Wechsel hin zu einem destruktiven Anteil eintritt, dann wird der Patient möglicherweise der Therapie und den Therapeuten gegenüber misstrauisch werden, er wird ihn entwerten, ihm drohen oder ihn unter Druck setzen – oder er kann zu selbstschädigenden oder suizidalen Handlungen neigen. Jetzt wird die Gegenübertragung eine völlig andere: Der Therapeut wird sich vielleicht ohnmächtig fühlen, oder er kann ärgerlich werden und Impulse entwickeln, dem Patienten Vorwürfe machen oder sich innerlich zurückziehen. Die Herausforderung besteht darin, mit den wechselnden Gefühlen und Impulsen, die in der Gegenübertragung auftreten, professionell umzugehen.

Wie gelingt es auch bei schweren Störungen, den Klienten die Fähigkeit zum Dissoziationsstopp zu vermitteln?

Wöller: Das kann man ganz praktisch erarbeiten. Das Grundprinzip heißt, die Aufmerksamkeit wegzulenken von den negativen inneren Prozessen hin zu äußeren Gegebenheiten, die man mit den Sinnesorganen erfahren kann. Man kann Eiswürfel nutzen oder einen Igelball. Man kann die Patienten bitten, bestimmte Dinge ganz konzentriert anzusehen oder auch zu hören. Durch diese Orientierungsmaßnahmen können die Patienten lernen, aus dissoziativen Zuständen wieder herauszukommen, um den Kontakt mit der aktuellen Realität herzustellen. Diese Möglichkeiten sollten wir unbedingt therapeutisch vermitteln, und zwar auch deshalb, weil therapeutische Sitzungen ihren Wert verlieren, wenn die Patienten die halbe Zeit wegdissoziiert sind. Neigen Patienten dazu, dann muss man sehr strukturiert mit ihnen daran arbeiten, im Hier und Jetzt zu bleiben, um überhaupt der Psychotherapie weiter folgen zu können. Das ist unerlässlich.

Das Interview führte Uwe Britten.

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