ArchivDeutsches Ärzteblatt42/2020Leitliniengerechte Therapie: Tabuthema Weibliche Harninkontinenz nicht ignorieren

MEDIZINREPORT

Leitliniengerechte Therapie: Tabuthema Weibliche Harninkontinenz nicht ignorieren

Bader, Werner

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Ältere Frauen leiden eher, als dass sie das peinliche Thema Urinverlust ihrem Arzt gegenüber ansprechen. Dazu gilt es zu ermutigen, denn die Heilungschancen sind nicht schlecht.

Foto: mi_viri/stock.adobe.com
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Die weibliche Harninkontinenz steht an vierter Stelle der typischen hausärztlichen Erkrankungsbilder, die die Lebensqualität von Patientinnen erheblich und nachhaltig einschränkt – vergleichbar mit Arthrose, COPD und Schlaganfall. Weibliche Harninkontinenz ist häufiger als die bekannten Volkskrankheiten Diabetes und Hypertonie. Als eines der sogenannten vier „geriatrischen I“ – intellektueller Abbau, Immobilität, Instabilität und Inkontinenz – ist der unwillkürliche Harnverlust alter Menschen in 25 bis 50 % aller Fälle der Grund für die Einweisung in eine Pflegeeinrichtung.

Dennoch geben in einer aktuellen Umfrage norddeutsche Hausärzte eine erheblich höhere „Unsicherheit bei der Behandlung von Urininkontinenz“ im Vergleich zu ihren dänischen Kollegen an (Odds Ratio 5,39). Eine leitliniengerechte Behandlung erfahren 61 % der dänischen Frauen aber nur 19 % der deutschen Betroffenen (1). Obwohl das Thema noch immer tabuisiert ist, gibt es einfache Algorithmen, die in der Haus- und Allgemeinarztpraxis erfolgversprechend eingesetzt werden können. Denn die nicht oder falsch behandelte Harn-inkontinenz ist nicht nur ein medizinisches und soziales Problem, sondern hat auch beträchtliche ökonomische Auswirkungen (2). 

Der weitaus größte Teil der Betroffenen leidet unter einer Belastungs- bzw. Mischinkontinenz, ein geringerer Anteil von circa 20 % an einer reinen Dranginkontinenz. Obwohl Leitlinien zum Management der Inkontinenz existieren, setzen ärztliche Therapieempfehlungen aufgrund einer unvollständigen Diagnostik nicht selten lediglich auf den Einsatz von Anticholinergika.

Abgesehen von den erheblichen Nebenwirkungen sind diese Medikamente jedoch nur für die Therapie der Dranginkontinenz zugelassen. Die Folgen: Die Überweisung an den spezialisierten Urogynäkologen oder Urologen unterbleibt, das Budget des behandelnden Arztes wird durch die unnötig verordneten Medikamente und die Therapie der Nebenwirkungen stark belastet, die Patientin ist frustriert und entwickelt häufig weniger hilfreiche Coping-Strategien (3). So beginnt eine Spirale aus sich aufschaukelnden physischen und psychischen Folgen (Kasten „Folgen der Harninkontinenz“).

Zum Wohl der Patientinnen ist es daher von erheblicher Bedeutung, dass frühzeitig das Problem erkannt und die Differenzialdiagnose korrekt gestellt wird. Dabei spielen der primär betreuende Hausarzt als Allgemeinmediziner und auch der Gynäkologe eine bedeutende Rolle. In der Regel dauert es 2–5 Jahre, bis eine Patientin sich mit diesem Problem an den Arzt wendet. Die Ursachen sind vielfältig (4). Untersuchungen zu diesem Thema belegen, dass sogar jede 10. Frau 11. und mehr Jahre wartet, bevor sie ihre Probleme einem Arzt schildert (5). Dies, obwohl heute bereits über 10 Millionen Menschen in Deutschland an einer Harninkontinenz leiden (6). Die letzten offiziellen Zahlen aus dem Jahre 2007 des Robert Koch-Institutes waren noch von 6–8 Millionen ausgegangen (7). Ihr Anteil steigt seit Jahren in Abhängigkeit von Alter und Pflegegrad auf 80 bis 90 % bei den Hochbetagten (über 80 Jahre alt). Es lohnt sich folglich, sich des Themas anzunehmen, nicht zuletzt, weil die Patienten immer älter werden.

Zu der hausärztlichen Basisdiagnostik gehört neben der klinischen Untersuchung und Bestimmung des Restharnes vornehmlich die Anamnese. Zu fragen ist nach Trinkmenge, Schwindel, Vergesslichkeit und Problemen mit der Blase. Dazu zählen auch begleitende Probleme wie rezidivierende Harnwegsinfekte, Stuhlinkontinenz, Senkungsbeschwerden oder Beeinträchtigung des Sexuallebens (Kasten „Hausärztliche Basisdiagnostik“). Am besten gelingt dies mit einem validierten Anamnesebogen wie dem Deutschen Beckenboden-Fragebogen, welchen die Patientin in der Praxis oder auch Zuhause in Ruhe ausfüllen kann (8) (DAEB online).

Ein solcher Bogen kann mit einer eigens gewählten Regelmäßigkeit der Patientin angeboten werden und ist die Grundlage für eine weiterführende Anamnese insbesondere mit Blick auf die subjektiv empfundene Belastung. Auch die Internationale Kontinenzgesellschaft (ICS) trägt diesem Umstand Rechnung, indem sie die Harninkontinenz nicht als objektiv nachweisbaren, sondern als einen unwillkürlich empfundenen Urinverlust der Patientin definiert (9).

Die einleitenden Worte im Arztgespräch könnten demnach wie folgt lauten: „… möchten Sie darüber sprechen? Sie deuten in dem vorliegenden Bogen an, dass Sie ein Problem mit … haben.“ Ist ein Inkontinenzproblem offensichtlich, sollte dieses mittels eines Miktionsprotokolls objektiviert werden. Bestehen Senkungsprobleme oder eine Stuhl-inkontinenz, sind konsiliarische Vorstellungen bei einem Gynäkologen und Koloproktologen frühzeitig zu initiieren. Danach können konservative Maßnahmen wie die Einleitung einer Beckenbodengymnastik durch speziell ausgebildete Physiotherapeuten, eine vaginalen Östrogenisierung in einer unkritisch sogenannten Ultraniedrigdosierung eines Östriol-haltigen Präparates (0,03 mg 2x pro Woche) und Änderungen des Trink- und Miktionsverhaltes eingeleitet werden.

Da circa 50 % der Frauen ihren Beckenboden nicht korrekt relaxieren und kontrahieren können oder ein sogenannter akontraktiler Beckenboden vorliegt, sind Elektrostimulationsbehandlungen in Kombination mit einem Biofeedback angezeigt. Pessartherapien und medikamentöse Behandlungen einer Belastungs- oder Dranginkontinenz sind weitere konservative Maßnahmen, die in der Regel besser spezialisierten Kollegen überlassen werden.

Der Hausarzt sollte aber über die verschriebenen Medikamente informiert sein, um Wechselwirkungen mit schon eingesetzten Präparaten zu vermeiden. Bei anticholinergen Medikamenten sind insbesondere kognitive Einschränkungen und eine Verstärkung der Mundtrockenheit zu bedenken. In jedem Fall gilt es ein leitlinienkonformes Vorgehen umzusetzen. Der zentrale Satz lautet hierbei: Konservativ vor operativ! (10) Befolgt man dies und zieht eventuell noch einen Urogynäkologen hinzu, sollten eine zielgerichtete Diagnose und Therapie die Beschwerden vermindern oder im optimalen Fall gänzlich verschwinden lassen. Gerade in einem frühen Stadium der Erkrankung sind solche konservativen Maßnahmen besonders erfolgversprechend.

Sofern die gewählten konservativen Maßnahmen allerdings nicht ausreichen sollten, sind operative Interventionen der nächste Schritt. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe DGGG hat mit ihrer urogynäkologischen Arbeitsgemeinschaft AGUB schon vor Jahren hierfür ein Mehrstufenkonzept erarbeitet. So können über 80 % der an einer Belastungs- oder Mischinkontinenz leidenden Frauen durch qualifizierte Operateure mittels eines minimalinvasiven Eingriffes, einer suburethralen Schlingenplastik, geheilt oder zumindest deutliche Linderung erfahren (11). Dieses Tension-free-Vaginal-Tape-(TVT-)Verfahren verwendet nicht resorbierbares Mesh-Gewebe und wird von der Deutschen Leitlinie als primäre operative Therapie empfohlen. Auch nach 8 Jahren Nachbeobachtung werden nur in 5,2 % der Fälle erneute Operationen notwendig (12).

Die intravesikale Botoxtherapie hat sich hingegen bei der idiopathischen Dranginkontinenz erfolgreich bewährt. Eine effektive Wirkung ist über einen Zeitraum von 8–10 Monaten zu erwarten. Danach sind erneute Instillationsbehandlungen vorzunehmen (13, 14) .

Es lohnt sich also, sich des Themas als Haus- und Allgemeinmediziner anzunehmen. Angesichts guter Behandlungserfolge – vor allem in frühen Stadien – sind die Patientinnen mehr als dankbar. Diesem Segen steht entgegen, dass es ein sehr zeitaufwendiges Thema ist, gerade bei den älteren Menschen. Der Zeitmangel ist aber eines der größten Probleme in der ambulanten Versorgung, ein wahrer Fluch. Die Politik hat glücklicherweise in der Zwischenzeit erkannt, dass nicht die apparative Medizin, sondern die sprechende finanziell attraktiver gestaltet werden muss. Ein richtiger Schritt in diese Richtung ist der im April neu definierte EBM-Katalog, sodass daraus doch noch ein Segen für harninkontinente Patientinnen werden könnte.

Prof. Dr. med. Werner Bader
Chefarzt des Zentrums für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Klinikum Bielefeld

Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

Der Artikel unterliegt keinem Peer-Review.

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4220
oder über QR-Code.

Folgen der Harninkontinenz

  • Physische und psychische Folgen

Geruchsbelästigung, Harnwegsinfektionen, Hautirritation, Dehydration mit Schwindel durch reduziertes Trinken, Frakturrisiko, Vergesslichkeit, Schamgefühle, Depressionen, Isolation

  • Soziale Folgen

Einschränkung sozialer Kontakte, Behinderung der beruflichen Entwicklung, Arbeitsunfähigkeitszeiten, Traurigkeit, Vereinsamung, im Alter Abhängigkeit von anderen, Einlieferung in ein Pflegeheim mit vermehrtem Pflegeaufwand, zusätzliche psychische und physische Belastung der pflegenden Angehörigen

  • Ökonomische Folgen

Starke finanzielle Belastung für Kostenträger, Pflegeheime und Krankenhäuser, aber auch für Privathaushalte (Hilfsmittel wie Windeln werden oft von den Kassen nicht ersetzt, blockierte berufliche Entwicklung, Renteneinbußen)

Nach: Bader 2012 (1)

Hausärztliche Basisdiagnostik

  • Allgemeine und gezielte Anamnese (von Miktion, Trink- und Stuhlgewohnheiten, gynäkologische Beschwerden, Mobilität, kognitive Funktion, Medikation)
  • Klinische Untersuchung
  • Urinuntersuchung
  • Miktionstagebuch
  • Beckenbodenfragebogen
  • Restharnmessung

Nach: AWMF Leitlinie der DGG 2019 (10)

1.
Elsner S, Juergensen M, Faust E, et al.: Urinary incontinence in women: treatment barriers and significance for Danish and German GPs. Family Practice 2019 23;cmz077 (online ahead of print) doi:10.1093/fampra/cmz077. CrossRef MEDLINE
2.
Graf von der Schulenburg JM, Mittendorf T, Clouth J, et al.: Kosten der Harninkontinenz in Deutschland. Gesundh ökon Qual manag 2007; 12 (5): 301–9 CrossRef
3.
Bader W: Harninkontinenz der Frau – Wie kann der Hausarzt helfen? Allgemeinarzt 2012 (18): 14–7.
4.
Mitteness LS: Knowledge and beliefs about urinary incontinence in adulthood and old age. J Am Geriatr Soc. 1990; 38: 374–8 CrossRef MEDLINE
5.
Sykes D, Castro R, Pons ME, et al.: Characteristics of female outpatients with urinary incontinence participating in a 6-month observational study in 14 European countries. Maturitas 2005; 52 (Suppl) 13–23 CrossRef MEDLINE
6.
Insenio Ratgeber: https://www.insenio.de/ratgeber (last accessed on 10. Juli 2020).
7.
Robert Koch-Institut. Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Heft 39. Harninkontinenz. 2007, ISBN 978–3–89606–181–2.
8.
Baessler K, Kempkensteffen C: Validierung eines umfassenden Beckenboden-Fragebogens für Klinik, Praxis und Forschung. Gynäkol Geburtshilfliche Rundsch 2009; 49: 299–307 CrossRef MEDLINE
9.
Abrams P, Cardozo L, Fall M: The standardisation of terminology of lower urinary tract function: Report from the Standardisation Subcommittee of the International Continence Society. Neurourol Urodyn 2002; 21 (2): 167–78 CrossRef MEDLINE
10.
AWMF-Leitlinie der DGG (2019) S2e-LL: Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten, Diagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinien Register Nr. 084–001 .
11.
Maggiore ULR, Agrò EF, Soligno M, et al.: Long-term outcomes of TOT and TVT procedures for the treatment of female stress urinary incontinence: a systematic review and meta-analysis. Int Urogynecol J2017; 28 (8): 1119–30 CrossRef MEDLINE
12.
Trabuco EC, Carranza D, El Nashar SA, et al.: Reoperation for Urinary Incontinence After Retropubic and Transobturator Sling Procedures. Obstet Gynecol. 2019; 134 (2): 333–42 CrossRef MEDLINE
13.
Chohan N, Hilton P, Brown K, et al.: Efficacy and duration of response to botulinum neurotoxin A (onabotulinumA) as a treatment for detrusor overactivity in women. Int Urogynecol J 2015; 26 (11): 1605–12 CrossRef MEDLINE
14.
Nitti VW, Ginsberg D, Sievert KD, et al.: Durable Efficacy and Safety of Long-Term OnabotulinumtoxinA Treatment in Patients with Overactive Bladder Syndrome: Final Results of a 3.5-Year Study. J Urol. 2016; 196 (3): 791 CrossRef MEDLINE
1.Elsner S, Juergensen M, Faust E, et al.: Urinary incontinence in women: treatment barriers and significance for Danish and German GPs. Family Practice 2019 23;cmz077 (online ahead of print) doi:10.1093/fampra/cmz077. CrossRef MEDLINE
2.Graf von der Schulenburg JM, Mittendorf T, Clouth J, et al.: Kosten der Harninkontinenz in Deutschland. Gesundh ökon Qual manag 2007; 12 (5): 301–9 CrossRef
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4.Mitteness LS: Knowledge and beliefs about urinary incontinence in adulthood and old age. J Am Geriatr Soc. 1990; 38: 374–8 CrossRef MEDLINE
5.Sykes D, Castro R, Pons ME, et al.: Characteristics of female outpatients with urinary incontinence participating in a 6-month observational study in 14 European countries. Maturitas 2005; 52 (Suppl) 13–23 CrossRef MEDLINE
6.Insenio Ratgeber: https://www.insenio.de/ratgeber (last accessed on 10. Juli 2020).
7.Robert Koch-Institut. Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Heft 39. Harninkontinenz. 2007, ISBN 978–3–89606–181–2.
8.Baessler K, Kempkensteffen C: Validierung eines umfassenden Beckenboden-Fragebogens für Klinik, Praxis und Forschung. Gynäkol Geburtshilfliche Rundsch 2009; 49: 299–307 CrossRef MEDLINE
9. Abrams P, Cardozo L, Fall M: The standardisation of terminology of lower urinary tract function: Report from the Standardisation Subcommittee of the International Continence Society. Neurourol Urodyn 2002; 21 (2): 167–78 CrossRef MEDLINE
10.AWMF-Leitlinie der DGG (2019) S2e-LL: Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten, Diagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinien Register Nr. 084–001 .
11.Maggiore ULR, Agrò EF, Soligno M, et al.: Long-term outcomes of TOT and TVT procedures for the treatment of female stress urinary incontinence: a systematic review and meta-analysis. Int Urogynecol J2017; 28 (8): 1119–30 CrossRef MEDLINE
12. Trabuco EC, Carranza D, El Nashar SA, et al.: Reoperation for Urinary Incontinence After Retropubic and Transobturator Sling Procedures. Obstet Gynecol. 2019; 134 (2): 333–42 CrossRef MEDLINE
13.Chohan N, Hilton P, Brown K, et al.: Efficacy and duration of response to botulinum neurotoxin A (onabotulinumA) as a treatment for detrusor overactivity in women. Int Urogynecol J 2015; 26 (11): 1605–12 CrossRef MEDLINE
14.Nitti VW, Ginsberg D, Sievert KD, et al.: Durable Efficacy and Safety of Long-Term OnabotulinumtoxinA Treatment in Patients with Overactive Bladder Syndrome: Final Results of a 3.5-Year Study. J Urol. 2016; 196 (3): 791 CrossRef MEDLINE
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