SUPPLEMENT: Perspektiven der Diabetologie
Aktualisierte Leitlinien: Therapiealgorithmen werden neu geschrieben


Die aktualisierten Leitlinien berücksichtigen die Ergebnisse großer Outcome-Studien, die eine Prognoseverbesserung durch Diabetestherapie belegen.
Noch immer sterben Menschen mit Diabetes 2- bis 3-mal häufiger an kardiovaskulären Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall als Menschen ohne die Stoffwechselkrankheit. Die kardio- und nephroprotektiven Effekte neuer Antidiabetika eröffnen hier neue therapeutische Perspektiven. Bei frühzeitiger Diagnosestellung können sie nicht nur den Stoffwechsel stabilisieren, sondern eine Vorbeugung oder Verbesserung von kardiovaskulären und renalen Erkrankungen erzielen. Die Therapiealgorithmen werden neu geschrieben.
Blutzuckerkontrolle allein war gestern: Die Erwartung an neue Antidiabetika sind mit großen klinischen Studien der letzten Jahre gestiegen, die Hürden für die Zulassung ebenso. Genügten früher antiglykämische Wirksamkeit und Sicherheit, müsse für ein neues Diabetespräparat seit 2008 die kardiovaskuläre Sicherheit in Endpunktstudien nachgewiesen werden, sagte Prof. Petra-Maria Schumm-Draeger, München, als wissenschaftliche Leiterin der BDI-Kongressveranstaltung „Innere Medizin fachübergreifend – Diabetologie grenzenlos“, die im Februar unter der Schirmherrschaft der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DGG) stattfand. Bei dem Kongress diskutierten Experten aus unterschiedlichen medizinischen Fachgebieten die aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet der Diabetologie und damit verbundener Erkrankungen (https://inneremedizin-fachuebergreifend.de/muenchen/).
Als roter Faden zogen sich durch die Symposien die Ergebnisse großer Outcome-Studien der letzten Dekade, in denen neuere Antidiabetika wie DPP4-Inhibitoren (Gliptine), GLP1-Rezeptor-Agonisten (Glutide) und SGLT2-Inhibitoren (Gliflozine) auch auf kardiovaskuläre Endpunkte getestet worden sind. Die Endpunktstudien haben den besonderen Stellenwert von Vertretern zweier Substanzklassen gezeigt: der GLP1-Rezeptor-Agonisten Liraglutid, Dulaglutid und Semaglutid und der SGLT2-Inhibitoren Empagliflozin, Dapagliflozin und Canagliflozin. Empagliflozin und Liraglutid können nach Datenlage auch tödliche Ereignisse reduzieren. Diese Ergebnisse fanden ihren Niederschlag in frisch aktualisierten Leitlinien: in der 2019 publizierten Leitlinie der europäischen Kardiologen (ESC) und Diabetologen (EASD) zu Diabetes, Prädiabetes und kardiovaskulären Erkrankungen (1), den Praxisempfehlungen der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) aus demselben Jahr (2) sowie im 2020 aktualisierten Konsensusreport der europäischen und amerikanischen Diabetologen (EASD/ADA) zum Management der Hyperglykämie (3). Die genannten Substanzen werden Menschen mit Typ-2-Diabetes und gleichzeitiger kardiovaskulärer Erkrankung (CVD) oder einem hohen kardiovaskulären Risiko empfohlen – über die Blutzuckersenkung hinaus zur Vorbeugung gegen kardiovaskuläre Ereignisse.
Behandlungsstrategien 2020
Unabhängig von den europäischen und amerikanischen Fachgesellschaften, aber in enger Kooperation mit der Kardiologie und Nephrologie, hat die DDG bereits im Jahr 2019 ihre evidenzbasierten aktualisierten Praxisempfehlungen publiziert. Säulen der Basistherapie sind weiterhin Patientenschulung, Ernährungstherapie und -beratung, körperliche Aktivität, Raucherentwöhnung und gegebenenfalls die Blutzuckerselbstkontrolle. Bei der antiglykämischen Pkarmakotherapie steht nach wie vor Metformin bei einer eGFR > 30 ml/min an erster Stelle. Bei Patienten mit einer eGFR unterhalb 30 ml/min kommen initial, entsprechend der jeweiligen Fachinformation, GLP-1-Agonisten, DPP4-Inhibitoren, Repaglinid oder Insuline infrage. Bei der Wahl eines zweiten Medikaments nach Metformin hat die Orientierung an Komorbiditäten einen neuen Stellenwert: So sollen bei Patienten mit vorbestehenden kardiovaskulären oder renalen Erkrankungen oder einem sehr hohen kardiovaskulären Risiko primär Substanzen eingesetzt werden, die evidenzbasiert kardiovaskuläre und renale Erkrankungen und Mortalität reduzieren, sprich: SGLT2-Inhibitoren und GLP-1-Rezeptor-Agonisten – meist in Kombination mit Metformin (eGFR > 30 ml/min!). Eine frühzeitige Kombinationstherapie sollte angestrebt werden, um die Stoffwechselparameter nicht erst weit aus dem vereinbarten Zielbereich laufen zu lassen. Eine orale Dreifachtherapie wird in der Kombination von Metformin, einem DPP-4-Inhibitor und einem SGLT2-Hemmer als sichere, effektive und einfache Therapie bewertet (2).
Gefäße, Herz und Nieren im Fokus
Das Konsensuspapier 2020 der amerikanischen und europäischen Diabetesfachgesellschaften (ADA/EASD) differenziert hinsichtlich der Medikamentenauswahl noch weiter (2).
- Besteht beim diabetischen Patienten eine manifeste CVD (nach Herzinfarkt, Schlaganfall, Revaskularisation) oder hat er ein hohes CVD-Risiko (> 55 Jahre, Stenosen > 50 % der Koronarien, Carotis oder peripherer Arterien, LVH, eGFR < 60 ml/min), sind GLP1-Rezeptor-Agonisten die erste Wahl, um kardiovaskuläre Ereignisse (MACE = „major cardiac events“) zu verhindern.
- Bei diabetischen Patienten mit Herzinsuffizienz und reduzierter Ejektionsfraktion (HFrEF < 45 %) oder mit chronischer Nierenschwäche (eGFR 30–60 ml/min) werden primär SGLT2-Inhibitoren empfohlen. Sie bringen unter diesen Vorzeichen die beste Evidenz mit, um Hospitalisierungen wegen Herzinsuffizienz, MACE und kardiovaskulären Tod zu verhindern. Allerdings muss bei der Anwendung der Gliflozine derzeit noch eine normale Nierenfunktion beachtet werden (GFR > 60 ml/min – vgl. „Nachgefragt“, Seite 16).
Die Empfehlungen gelten unabhängig vom Ausgangs- oder Ziel-HbA1c. „Folglich sollten diese Medikamente nach Basistherapie und Metformin an erster Stelle bei Diabetes mit CVD eingesetzt werden, zumal Hypoglykämien bei diesen Präparaten nicht auftreten“, kommentierte Prof. Schumm-Draeger.
Bei Unverträglichkeit oder Gegenanzeigen bei einem SGLT2-Inhibitor oder bei einer inadäquaten Nierenfunktion raten die Experten zu einem GLP1-Rezeptor-Agonisten und umgekehrt. Dies spiegelt den etwa vergleichbaren kardiovaskulären Zusatznutzen von Gliflozinen und Glutiden beim diabetischen Risikopatienten wider. Bei unzureichender Blutzuckerkontrolle können die beiden Substanzgruppen kombiniert werden. Erst danach kommen zur Therapieintensivierung laut dem aktuellen Papier der ADA/EASD die weiteren Antidiabetika zum Zuge: DPP4-Inhibitoren, Basalinsulin (Degludec oder Glargin), Pioglitazon (nicht bei Herzinsuffizienz). Die Sulfonylharnstoffe, namentlich Glimepirid, stehen – zum Bedauern von Schumm-Draeger – immer noch im Algorithmus.
Differenzierte Zielwerte für Blutdruck und Lipide
Die neue ESC-EASD-Leitlinie (1) 2019 zu Diabetes, Prädiabetes und kardiovaskulären Erkrankungen fasst tabellarisch klare „What to do“- und „What not to do“-Empfehlungen zusammen, unter anderem zu:
- Diagnostik (basierend auf HbA1c und/oder Plasmaglukose-Parametern),
- Bewertung des kardiovaskulären Risikos auch bei asymptomatischen Typ-2-Diabetikern (Mikroalbuminurie, Ruhe-EKG, keine Anwendung der Risikoscores für die Allgemeinbevölkerung),
- Lebensstilinterventionen bei (Prä-)Diabetes,
- glykämischer Kontrolle (Blutzuckerselbstmessung, HbA1c-Ziel < 7,0 % – jedoch individualisiert nach Diabetesdauer, Alter und Komorbiditäten sowie unter Vermeidung von Hypoglykämien).
Bei therapienaiven Diabetikern mit hohem oder sehr hohem CV-Risiko sollen laut ESC/EASD die GLP1-Agonisten oder SGLT2-Hemmer sogar vor Metformin eingesetzt werden. Dass Metformin nicht mehr unbedingt in der ersten Therapiestufe steht, wird von allen anderen Fachgesellschaften (ADA, DDG) allerdings nicht befürwortet. Grundlegend in der weiteren Risikokontrolle ist die Einstufung des kardiovaskulären Risikos (1):
- Es gilt als moderat nur bei jüngeren Diabetikern (Typ 1 < 35 Jahre, Typ 2 < 50 Jahre), die noch keine 10 Jahre erkrankt sind und keine weiteren Risikofaktoren wie Hypertonie, Dyslipidämie, Rauchen oder Übergewicht aufweisen.
- Als Risikopatienten („high risk“) gelten Patienten mit 10-jähriger Diabetesdauer ohne Endorganschaden, aber einem zusätzlichen Risikofaktor.
- Ein sehr hohes Risiko („very high risk“) haben Diabetespatienten mit nachgewiesener Atherosklerose oder einem anderen Endorganschaden oder 3 zusätzlichen Risikofaktoren oder einer Diabetesdauer über 20 Jahre.
Auf dieser Basis wurden bei Diabetespatienten die Zielwerte von 2013 strenger beziehungsweise differenzierter gefasst:
- LDL-Cholesterin < 100 mg/dl bei moderatem CVD-Risiko;
- LDL < 70 mg/dl und LDL-Senkung um mindestens 50 % bei hohem CVD-Risiko;
- LDL < 55 mg/dl und LDL-Senkung um mindestens 50 % bei sehr hohem CVD-Risiko.
Rationale für die noch strengeren Zielwerte ist nach den Worten von Prof. Dirk Müller-Wieland, Aachen, das Konzept der in der Gefäßwand grundsätzlich „toxischen“ LDL-Partikel, die in Verbindung mit weiteren Risikofaktoren und steigendem Lebensalter unweigerlich kardiovaskuläre Ereignisse provozieren. Nach maximal tolerierter Statinkonzentration werde eine Kombination aus Statin plus Ezetimib und bei Statinintoleranz ein PCSK9-Inhibitor empfohlen.
Beim Blutdruck sollen systolisch 120–130 mmHg angestrebt werden, bei älteren Menschen (> 65 Jahre) maximal 139 mmHg. Der diastolische Zielwert liegt individualisiert bei 70–80 mmHg.
SGLT2-Inhibitoren: Lösung für alles?
Die vorliegenden Outcome-Studien belegen für SGLT2-Inhibitoren bei Diabetikern kardio- und nephroprotektive Effekte. In der Primärprävention können sie Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz und das Fortschreiten von Niereninsuffizienz verhindern, in der Sekundärprävention bei atherosklerotisch vorbelasteten Patienten auch kardiovaskuläre Ereignisse. Im Vergleich zu den Glutiden punkten Gliflozine zusätzlich in Bezug auf die Herzinsuffizienz. Diese trete bei Typ-2-Diabetes 2- bis 4-mal häufiger auf als bei Nichtdiabetikern, auch schon in jüngerem Alter, sagte PD Dr. Wibke Hengstenberg, Oberärztin am Deutschen Herzzentrum, München, auf dem Kongress „Innere Medizin fachübergreifend“. Die Komorbidität geht mit einer erhöhten kardiovaskulären und Gesamtsterblichkeit einher; das Risiko der Hospitalisierung wegen Herzschwäche ist erhöht. Grundsätzlich gelten für Diabetiker mit Herzinsuffizienz die üblichen Behandlungsrichtlinien. „Das Vorliegen eines Diabetes sollte also die Therapieentscheidungen nicht negativ beeinflussen, zumal einige antidiabetische Substanzen, wie die SGLT2-Inhibitoren, sich sehr günstig auf die Herzinsuffizienz auswirken“, sagte Hengstenberg.
SGLT2-Inhibitoren binden hochselektiv an den Natrium-Glukose-Transporter 2 (SGLT2) in der Niere. Sie senken die renale Glukoseresorption. Neben der insulinunabhängigen Blutzuckersenkung resultieren positive Effekte auf Blutdruck und Körpergewicht. Über welche Mechanismen die kardio- und gefäßprotektiven Effekte zustande kommen, ist noch unklar. Einflüsse auf die Hämodynamik, den myokardialen Stoffwechsel, Ionentransporter, Fibroseentstehung, Adipokine und Gefäßfunktionen werden diskutiert. Eine Hypothese geht von der Hemmung der Natrium-Hydrogen-Austauscher NHE 1 und NHE 3 aus. Diese membrangebundenen Strukturen halten den intrazellulären pH-Wert und die Ionenhomöostase aufrecht – NHE 1 vorwiegend in Herz und Gefäßen, NHE 3 in der Niere, wie Prof. Thomas Forst, Mannheim, erläuterte. Aktiviert werden die Natrium-Hydrogen-Austauscher unter anderem von Insulin, Adipokinen, Angiotensin, Aldosteron und Noradrenalin. Die Aktivierung von NHE 1 im Herzen befördert kardiale Vulnerabilität, Fibrose und Hypertrophie. Die konstante Hemmung des NHE 1 beim Einsatz eines SGLT2-Inhibitors als Antidiabetikum könnte auf diesem Weg der Entstehung von Herzinsuffizienz entgegenwirken, während die Hemmung von NHE 3 in der Niere eine renale Fibrose und das Entstehen der Niereninsuffizienz bremsen könnte, so Forst. Auch GLP1-Rezeptor-Agonisten hemmen den NHE 3, nicht aber NHE 1. Dieser Unterschied könnte den primär bei den Gliflozinen ausgeprägten zusätzlichen Schutz vor Herzinsuffizienz erklären. Und es mache verständlich, warum in der 2019 publizierten DAPA-HF-Studie die Gabe von Dapagliflozin nicht nur bei Diabetikern, sondern auch bei den 45 % nichtdiabetischen Studienteilnehmern eine gleich große Schutzwirkung vor der Verschlechterung einer Herzinsuffizienz bot (4).
In Deutschland sind Empagliflozin und Dapagliflozin bei erwachsenen Patienten mit unzureichend behandeltem Typ-2-Diabetes indiziert. Und Dapagliflozin ist inzwischen auch zugelassen bei Patienten mit unzureichend kontrolliertem Typ-1-Diabetes in Ergänzung zu Insulin. Canagliflozin nahm der Hersteller 2014 vom Markt, nachdem das IQWiG keinen Zusatznutzen (gegenüber der Standardtherapie mit Glimepirid plus Metformin) gesehen hatte.
Vor einer unkritischen Anwendung von SGLT2-Inhibitoren bei Herzinsuffizienzpatienten warnte Prof. Michael Nauck, Bochum. Dabei sieht er vor allem das häufigere Auftreten von Ketoazidosen als Risiko, das eine vielversprechende Substanzklasse stigmatisieren könnte. ▄
DOI: 10.3238/PersDia.2020.10.30.04
Ralf Schlenger
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4420
1. | Cosentino F, et al.: 2019 ESC Guidelines on diabetes, pre-diabetes, and cardiovascular diseases developed in collaboration with the EASD. Task Force of the European Society of Cardiology (ESC) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD). European Heart Journal 2020; 41: 255–323 CrossRef MEDLINE |
2. | Landgraf R, et al.: Therapie des Typ-2-Diabetes/Praxisempfehlungen der Deutschen Diabetes Gesellschaft, Aktualisierte Version 2019. Diabetologie 2019; 14 (Suppl 2): S167–87. |
3. | Buse JB, et al.: 2019 update to: Management of hyperglycaemia in type 2 diabetes, 2018. A consensus report by the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD). Diabetologia 2020; 63: 221–8 CrossRef MEDLINE |
4. | McMurray JJV, et al.: Dapagliflozin in Patients with Heart Failure and Reduced Ejection Fraction. N Engl J Med 2019; 38: 1995–2008 CrossRef MEDLINE |